Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Dem Revisionsgericht ist die sachlich-rechtliche Prüfung verwehrt, wenn das Instanzgericht gegen das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, dadurch verstoßen hat, daß es einem Beteiligten die Möglichkeit verschloß, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu äußern.
Gelegenheit zur äußerung hat das Gericht nicht verschafft, wenn es einem Berufsführer (Kläger) weder den Eingang der Berufungsschrift bestätigte oder ihm eine sonstige gerichtliche Verfügung zusandte noch ihm die äußerungen anderer Verfahrensbeteiligter bekanntgab.
Normenkette
FGO § 119 Nr. 3, § 96 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1; AO § 269 Abs. 2 S. 1; FGO § 77/1/4
Tatbestand
Das Grundstück ... war am 20. Juni 1948 mit einer Darlehnshypothek belastet. Eigentümer dieses Grundstückes war früher der Vater der Revisionsklägerinnen M und T (Revisionsklägerinnen zu 2). Den letzteren war durch Beschluß des Amtes für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung vom 10. Mai 1950 das Eigentum an dem Grundstück zuerkannt worden. Sie veräußerten das Grundstück an die Eheleute A; die Erwerber wurden am 18. Juni 1954 als Eigentümer im Grundbuch eingetragen.
Durch rechtskräftig gewordenes Ausschlußurteil vom 24. Mai 1955 wurde der Gläubiger der oben erwähnten Darlehnshypothek mit seinen Rechten im Aufgebotsverfahren ausgeschlossen. Im Grundbuch wurde die Hypothek am 4. August 1955 gelöscht.
Mit Bescheid vom 13. März 1959 setzte das Finanzamt (FA) die HGA fest. Gegen den nur den Eheleuten A zugestellten Bescheid legten sowohl die Revisionsklägerinnen zu 2 als auch die Eheleute A Einspruch ein. Die den Einspruch zurückweisende Einspruchsentscheidung lautete nur auf die Namen der Revisionsklägerinnen zu 2 und wurde nur diesen zugestellt.
Mit der Berufung begehrten die Revisionsklägerinnen zu 2 und die Eheleute A, daß die Einspruchsentscheidung und der dieser zugrunde liegende HGA-Bescheid aufgehoben werde. Auch die Berufung blieb ohne Erfolg. Im Rubrum des Urteils vom 30. Oktober 1962 erscheint neben den Revisionsklägerinnen zu 2 anstelle der Eheleute A nur noch die Ehefrau A als Berufungsführerin.
Mit der seit 1. Januar 1966 als Revision aufzufassenden Rb. (§ 184 Abs. 2 Nr. 1 FGO) rügen die Revisionsklägerinnen zu 2 die Verletzung sachlichen Rechts. Die Ehefrau A beanstandete, sie habe den im Urteil des Finanzgerichts (FG) als Prozeßbevollmächtigten bezeichneten Rechtsanwälten eine Prozeßvollmacht nicht erteilt gehabt. Sie wisse auch nicht, woher dem FG bekanntgeworden sei, daß ihr Ehemann verstorben sei und sie diesen allein beerbt habe. Die Zustellung des Urteils an die Prozeßbevollmächtigten ihres verstorbenen Ehemannes entfalle keine Rechtswirkungen gegen sie.
Ferner rügte sie, ihr und ihrem verstorbenen Ehemann sei im Verfahren vor dem FG das rechtliche Gehör verweigert worden; sie seien über die Vorgänge von dem FG nicht unterrichtet worden. Schriftsätze des FA hätten sie nicht erhalten. Die Einspruchsentscheidung des FA sei den Prozeßbevollmächtigten ihres Ehemannes vom FA auf Anforderung zur Verfügung gestellt worden, als die Berufung der Revisionsklägerinnen zu 2 schon anhängig gewesen sei. Im Juni 1961 habe das FA mitgeteilt, die Berufung der Eheleute vom 27. November 1959 sei ihm am 1. Dezember 1959 vom FG übersandt worden; die Behörde habe dem Gericht am 19. Januar 1960 geantwortet. Im März 1962 habe das FA mitgeteilt, vermutlich habe das Gericht deswegen davon abgesehen, die Bevollmächtigten der Eheleute zu einer äußerung aufzufordern, weil die Stellungnahme des FA vom 19. Januar 1960 keine neuen Gesichtspunkte gebracht und sich nur auf die Einspruchsentscheidung bezogen habe.
Im übrigen wurde die Verletzung sachlichen Rechts gerügt.
Die Ehefrau A, die Alleinerbin ihres Ehemannes geworden war, ist im Laufe des Revisionsverfahrens verstorben. Sie wurde laut Erbschein von ihrer Tochter (Revisionsklägerin zu 1) allein beerbt.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Revisionsklägerin zu 1 wird das angefochtene Urteil aufgehoben; die Sache wird zur anderweiten Entscheidung an das FG zurückverwiesen.
I. Da die Rüge der Revisionsklägerin zu 1, ihren verstorbenen Eltern sei im Verfahren vor dem FG das rechtliche Gehör versagt worden, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt, braucht auf die sonstigen Einwendungen nicht eingegangen zu werden. Insbesondere kann dahingestellt bleiben, ob der Einwand zutrifft, die Rechtsvorgängerin der Revisionsklägerin zu 1 habe den im Urteil des FG als Prozeßbevollmächtigten bezeichneten Rechtsanwälten eine Vollmacht für das Berufungsverfahren nicht erteilt. Unter den vorliegenden Umständen erübrigt es sich auch, auf die Sachrügen der Revisionsklägerinnen zu 2 einzugehen.
II. Nach § 119 Nr. 3 FGO ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war. Ist einem Beteiligten das rechtliche Gehör im Zusammenhang mit der angefochtenen Entscheidung verweigert worden, wird unwiderlegbar vermutet, die Entscheidung beruhe auf der Rechtsverletzung. Daraus folgt jedoch noch nicht in jedem Falle, daß das angefochtene Urteil unrichtig sei und daß das Revisionsgericht das Urteil in sachlich-rechtlicher Hinsicht nicht prüfen dürfe (Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwGE - Bd. 15 S. 24, 25). Die sachlich-rechtliche Prüfung ist dem Revisionsgericht jedoch dann verwehrt, wenn das Instanzgericht dadurch gegen das Gebot verstoßen hat, rechtliches Gehör zu gewähren, daß es einem Beteiligten die Möglichkeit verschloß, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt - dem Gesamtergebnis des Verfahrens im Sinne des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO - zu äußern (vgl. BVerwGE a. a. O.). In einem solchen Fall kann das Revisionsgericht das angefochtene Urteil auf seine sachlich- rechtliche Richtigkeit nicht überprüfen, weil das Gesamtergebnis des Verfahrens im Sinne des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verfahrensrechtlich fehlerhaft die Grundlage der Entscheidung geworden ist. Die Zurückverweisung der Revision, weil sich die angefochtene Entscheidung aus anderen Gründen als richtig erweise (§ 126 Abs. 4 FGO), ist dann nicht denkbar.
III. Die Voraussetzungen des § 119 Nr. 3 FGO liegen vor.
Nach § 269 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. hat die Geschäftsstelle des FG den Beteiligten Abschriften der Schriftsätze oder Erklärungen mitzuteilen, die nicht von ihnen eingereicht oder abgegeben sind. Die Geschäftsstelle handelt hierbei, wie Abs. 2 Satz 2 der im Laufe des Revisionsverfahrens durch § 162 Nr. 40 FGO aufgehobenen Vorschrift verdeutlicht, in richterlichem Auftrag als Organ des Gerichts.
§ 269 Abs. 2 Satz 1 AO a. F. diente für einen Teilbereich des Berufungsverfahrens der Verwirklichung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs, den Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) zum Verfassungssatz erhoben hat. Dieser Grundsatz verlangt, daß einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen die am Verfahren Beteiligten Stellung nehmen konnten (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE - Bd. 6 S. 12; Bd. 7 S. 240, 278, 341; Bd. 9 S. 304 f.; Bd. 15 S. 218). Ihnen muß die Möglichkeit gegeben sein, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern (BVerfGE Bd. 1 S. 429; Bd. 7 S. 57), Anträge zu stellen und Ausführungen tatsächlicher und rechtlicher Art vorzubringen (BVerfGE Bd. 6 S. 20; Bd. 7 S. 240, 279). Denknotwendig bezieht sich der Anspruch auf rechtliches Gehör auch auf die Möglichkeit, zu äußerungen anderer Verfahrensbeteiligter Gegenerklärungen abzugeben (BVerfGE Bd. 7 S. 278 f.; Bd. 15 S. 46).
Um den Anspruch der Prozeßbeteiligten auf rechtliches Gehör zu verwirklichen, muß Gelegenheit zur äußerung durch das Gericht verschafft werden (vgl. Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1, Rdnr. 28). Diese Gelegenheit hat das Gericht dann nicht verschafft, wenn es Maßnahmen unterlassen hat, ohne deren Vornahme sich ein Verfahrensbeteiligter praktisch nicht am anhängigen Verfahren beteiligen konnte. Solange einem Berufungsführer (nach der FGO: Kläger) weder der Eingang der Berufung unter Angabe des Az. des Gerichts bestätigt wird oder ihm eine sonstige gerichtliche Verfügung zugeht noch eine äußerung eines anderen Verfahrensbeteiligten mitgeteilt wird, kann und wird er annehmen, daß das Verfahren durch prozeßfördernde Handlungen des Gerichts noch nicht in Gang gekommen sei, in einem solchen Falle braucht er nicht damit zu rechnen, daß über den von ihm eingelegten Rechtsbehelf durch das Gericht in absehbarer Zeit entschieden werde. Entscheidet das Gericht gleichwohl, hat es gegen den Verfassungssatz verstoßen, nach dem vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Dies muß nach den obigen Ausführungen auch dann gelten, wenn der betreffende Prozeßbeteiligte die Schriftsätze eines anderen Prozeßbeteiligten von diesem erhält oder wenn ihm ein Verfahrensbeteiligter mitteilt, daß sein eigenes Vorbringen keine neuen Gesichtspunkte enthalte.
Aus dem mit dem Vortrag der Revisionsklägerin zu 1 in Einklang stehenden Inhalt der Akten ergibt sich, daß den Eheleuten A bzw. - nach dem Tode des Ehemannes - der Ehefrau A vom Gericht keine Gelegenheit gegeben wurde, sich im Verfahren ausreichend zu äußern und zu dem Vortrag der anderen Verfahrensbeteiligten Stellung zu nehmen. Frau A wurde durch das Urteil des FG, mit dessen Ergehen sie nach den obigen Ausführungen nicht zu rechnen brauchte, überrascht. Auf die namens der Eheleute A unmittelbar beim FG eingelegte Berufung und die knapp zwei Monate später über das FA eingereichte Berufungsbegründung wurde vom FG nichts mitgeteilt. Die Akten des FG lassen nicht erkennen, daß das Gericht ein Schreiben oder eine Verfügung an die Prozeßbevollmächtigten der Eheleute bzw. der Ehefrau oder an diese selbst gerichtet hat.
Nach den Darlegungen unter 3. ist es unerheblich, daß die Eheleute A ausweislich des Schriftsatzes vom 15. Januar 1960 Kenntnis von der Berufungsbegründung der jetzigen Revisionsklägerinnen zu 2 durch diese erlangt hatten. Unerheblich ist es auch, daß die Eheleute bzw. deren Prozeßbevollmächtigte durch die im Revisionsverfahren mitgeteilten Schreiben des FA davon Kenntnis hatten, daß schon die Berufung der Revisionsklägerinnen zu 2 vorlag, daß das FG die Berufung der Eheleute dem FA mit dem Ersuchen um Stellungnahme übersandt hatte und daß die Stellungnahme des FA sachlich nichts Neues enthalten habe. Denn die Eheleute bzw. die Ehefrau konnten damit rechnen, daß ihnen das Gericht Gelegenheit zur äußerung geben werde. Hierzu bestand im Streitfall um so mehr Anlaß, als die Einspruchsentscheidung, wie aus den Akten des FA ersichtlich, den Eheleuten vom FA nicht zugestellt worden war; diese Entscheidung, die nur auf den Namen der Revisionsklägerinnen zu 2 lautet, wurde den Eheleuten ausweislich der bei den Revisionsakten befindlichen Abschrift des Schreibens des FA vom 29. Oktober 1959 erst mitgeteilt, als die Revisionsklägerinnen zu 2 bereits Berufung eingelegt hatten.
IV. Da die Vorentscheidung aus verfahrensrechtlichen Gründen aufgehoben wird, ist es dem Bundesfinanzhof verwehrt, zur materiellen Rechtsfrage Stellung zu nehmen. Aus Gründen der Prozeßökonomie wird jedoch auf folgendes hingewiesen: Dem FG dürfte darin zuzustimmen sein (Ziff. 2 der Urteilsgründe), daß eine im Jahre 1942 möglicherweise eingetretene Vereinigung von Forderung und Schuld in der Hand des Deutschen Reiches durch die Rückerstattungsanordnung bezüglich des Grundstückes rückwirkend als beseitigt gelten kann. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob Frau B, die anscheinend auf Grund Erbganges Hypothekengläubigerin geworden war, ihr Recht trotz § 3 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl I S. 722) behalten hat. Sollte sie ihr Recht nach der genannten Verordnung verloren haben, wäre am Währungsstichtage möglicherweise das Deutsche Reich Gläubiger gewesen. In diesem Falle könne - da eine Rückerstattung insoweit anscheinend nicht betrieben wurde - der Geltendmachung der Forderung durch das Deutsche Reich eine dauernde Einrede im Sinne des § 2 Nr. 3 der 40. Durchführungsverordnung zum Umstellungsgesetz entgegengestanden haben, die eine Umstellung im Verhältnis von 1 RM zu 1 DM zur Folge gehabt hätte. Diese Fragen könnten im Verfahren nach der 40. Durchführungsverordnung zum Umstellungsgesetz geklärt werden.
Fundstellen
Haufe-Index 412289 |
BStBl III 1967, 25 |
BFHE 1967, 60 |
BFHE 87, 60 |