Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Anwendung des § 127 FGO
Leitsatz (NV)
1. Eine in der Revisionsinstanz eingetretene Erledigung in der Hauptsache kann später wieder dadurch entfallen, daß das Finanzamt den angefochtenen Bescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zum Nachteil des Klägers ändert.
2. Wird durch den in der Revisionsinstanz ergangenen Änderungsbescheid ein neuer Streitpunkt geschaffen, der nicht Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens gewesen ist, und betrifft der ursprüngliche Streitstoff keinen selbständigen Teil des Streitgegenstandes, so ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache insgesamt an das FG zurückzuverweisen.
Normenkette
FGO §§ 68, 123 S. 2, § 127; AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Rechtsvorgänger der Revisionsbeklagten, der während des Revisionsverfahrens verstorbene Kläger, war als Steuerberater tätig. Von 1970 bis zum 1. April 1977 nutzte er einen rund 30 qm großen Raum im Erdgeschoß des ihm und seiner Ehefrau gehörenden Einfamilienhauses in vollem Umfang als Steuerberaterbüro. Nachdem er anschließend die Steuerberatertätigkeit aufgegeben hatte, nutzte er den Raum zunächst zum Unterstellen der Büromöbel. Im Streitjahr 1978 ließ er ihn grundlegend renovieren, um ihn - ab 1979 - wieder als privates Wohnzimmer nutzen zu können.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erkannte die Renovierungskosten nicht als Betriebsausgaben an.
Nach erfolglosem Einspruch entschied das Finanzgericht (FG), die Renovierungskosten für den Büroraum stellten zwar keine Betriebsausgaben i. S. von § 4 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) dar, sie seien jedoch als sog. vorweggenommene Werbungskosten bei der Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung anzusetzen.
Das FG übertrug gemäß Art. 3 § 4 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) - im Einvernehmen mit den Beteiligten - die Steuerberechnung dem beklagten FA.
Hiergegen richtet sich die Revision des FA.
Das Einfamilienhaus sei im Jahre 1978 - wenn auch eingeschränkt - nur zu Wohnzwecken genutzt worden. Deshalb sei der Nutzungswert zwingend gemäß § 21 a EStG zu ermitteln.
Während des Revisionsverfahrens hat das FA unter dem 11. März 1986 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr erlassen, mit dem nach Art. 3 § 4 VGFGEntlG die Folgerungen aus dem angefochtenen Urteil des FG gezogen werden sollten. Aufgrund einer Selbstanzeige des Klägers vom Dezember 1987 erließ das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) einen weiteren Änderungsbescheid vom 30. März 1988, in welchem es zusätzlich nacherklärte Einkünfte aus Kapitalvermögen berücksichtigte. Diesen Bescheid hat der Kläger nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.
Die Erben des Klägers, die Revisionsbeklagten zu 1. bis 4., beantragen sinngemäß, die Revision zurückzuverweisen und den Änderungsbescheid vom 30. März 1988 aufzuheben, soweit darin nacherklärte Einkünfte aus Kapitalvermögen berücksichtigt sind.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision des FA ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 127 FGO).
1. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, weil sich während des Revisionsverfahrens der angefochtene Verwaltungsakt, über dessen Rechtmäßigkeit das FG entschieden hat, geändert hat (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1. Februar 1989 II R 128/85, BFHE 155, 563, 564, BStBl II 1989, 348).
a) Es kann unerörtert bleiben, ob durch den Bescheid vom 11. März 1986, mit dem die Folgerungen nach Art. 3 § 4 VGFGEntlG gezogen werden sollten, eine Erledigung in der Hauptsache eingetreten war (vgl. BFH-Urteil vom 14. November 1989 VIII R 102/87, BFHE 160, 100, 102, BStBl II 1990, 545). Diese ist jedenfalls wieder dadurch entfallen, daß das FA unter dem 30. März 1988 den Einkommensteuerbescheid 1978 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zum Nachteil des Klägers geändert hat. Eine Erledigung der Hauptsache kann nämlich durch ein späteres Ereignis wieder beseitigt werden, z. B. durch eine Berichtigung (BFH-Urteil vom 24. Oktober 1984 II R 30/81, BFHE 142, 357, 361, BStBl II 1985, 218; Senatsurteil vom 19. September 1991 IX R 1/88, BFH/NV 1992, 363).
Für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 kann nichts anderes gelten.
b) Nach § 127 FGO kann der BFH, wenn während des Revisionsverfahrens ein geänderter Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens geworden ist, das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen. Einer Zurückverweisung bedarf es nicht, wenn die Sache spruchreif ist, d. h. wenn der vom FG festgestellte Sachverhalt ausreicht, um abschließend prüfen und beurteilen zu können, ob der zum Gegenstand des Revisionsverfahrens gewordene Änderungsbescheid rechtmäßig ist (BFH-Urteil vom 20. Juli 1988 II R 164/85, BFHE 154, 13, BStBl II 1988, 955).
Im Streitfall kann der Senat die von den Klägern begehrte Entscheidung über die Nachversteuerung der Zinsen im Revisionsverfahren nicht treffen. Aufgrund des Änderungsbescheids vom 30. März 1988, den der Kläger zum Gegenstand des Verfahrens erklärt hat (§ 68 FGO), ist zwischen den Beteiligten ein neuer Streitpunkt (Nachversteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen) geschaffen worden, der nicht spruchreif ist, weil er bisher noch nicht Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens war, so daß das FG dazu keinerlei tatsächliche Feststellungen treffen konnte. Über diesen Punkt wird das FG ohne Vorverfahren in der Sache zu entscheiden haben (vgl. BFH-Urteil vom 26. Oktober 1973 VI R 144-145/70, BFHE 110, 401, BStBl II 1974, 34).
c) In bezug auf den ursprünglichen Streitstoff, d. h. die Frage, ob die geltend gemachten Renovierungskosten Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten darstellen, hat der Senat - vor Kenntnis über den zusätzlichen Streitpunkt - bereits in der Sitzung vom 26. Februar 1991 beraten und die Revision einstimmig für unbegründet gehalten. Die Beteiligten wurden darüber unterrichtet. Dennoch ist der Senat gehindert, insoweit abschließend zu entscheiden. Zwar kann der BFH, wenn ein Änderungsbescheid Verfahrensgegenstand geworden ist und deshalb nur ein Teil des Streitstoffs spruchreif ist, über den spruchreifen Teil in der Sache entscheiden und nur den nicht spruchreifen Teil nach § 127 FGO zurückverweisen (BFH in BFHE 110, 401, BStBl II 1974, 34; Beschluß vom 8. November 1971 GrS 9/70, BFHE 103, 549, 554, BStBl II 1972, 219; Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 127). Dies setzt jedoch voraus, daß es sich um einen selbständigen Teil des Streitgegenstandes handelt (Geist, Finanz-Rundschau 1989, 229, 235; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Stand: November 1991, § 127 FGO Tz. 3; Kühn / Kutter / Hofmann, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 127 FGO Anm. 2). Daran fehlt es. Zur Zeit kann über die Steuerfestsetzung in dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid insgesamt nicht abschließend entschieden werden. Solange über die Einkünfte aus Kapitalvermögen Unklarheit besteht, ist wegen der Tarifprogression auch die einkommensteuerliche Auswirkung der streitigen Aufwendungen für die Zimmerrenovierung der Höhe nach nicht abschließend zu ermitteln.
Fundstellen
Haufe-Index 418378 |
BFH/NV 1992, 759 |