Entscheidungsstichwort (Thema)
Handelsrecht Gesellschaftsrecht Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die durch den Steuerbescheid verursachte Unterbrechung der Verjährung endet, wenn ein Rechtsmittel eingelegt wird, erst mit der rechtskräftigen Erledigung des Steuerrechtsstreits.
Normenkette
AO §§ 145, 147; BGB § 211 Abs. 1; AO § 146a Abs. 1
Tatbestand
Zunächst war die Frage der Verjährung zu prüfen, da die Verjährung den Steueranspruch zum Erlöschen bringt (ß 148 der Reichsabgabenordnung - AO -) und der Nichtablauf der Verjährungsfrist als Prozeßvoraussetzung in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Nach der bisherigen Rechtsprechung und herrschenden Auffassung im Schrifttum würde sich für den Streitfall folgende Rechtslage ergeben:
Entsprechend den Anträgen der Beschwerdeführerin (Bfin.) vom 16. September 1954 und 13. November 1954 hat das Hauptzollamt mit den der Bfin. zugestellten Verfügungen vom 28. September 1954 und 25. November 1954 die Vollziehung des Steuerbescheides gemäß § 251 AO ausgesetzt bis zur Entscheidung über die Anfechtung. Die Anfechtungsentscheidung ist im Jahre 1955 ergangen und zugestellt worden. Mit Beginn des Jahres 1956 begann daher die einjährige Verjährungsfrist (ß 144 AO) zu laufen (ß 145 Abs. 2 Satz 1 AO). Das Hauptzollamt vertritt die Auffassung, daß mit den vorbezeichneten Verfügungen die Vollziehung nicht nur bis zur Entscheidung über die Anfechtung ausgesetzt sein sollte, sondern während des gesamten Rechtsmittelverfahrens, also auch des Rechtsbeschwerdeverfahrens. So habe es auch die Bfin. verstanden, da sie bei Einlegung der Rechtsbeschwerde (Rb.) keinen erneuten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung mehr gestellt habe.
Entscheidungsgründe
Dem kann nicht gefolgt werden, da sowohl in den oben bezeichneten Anträgen der Bfin. als auch in den Verfügungen des Hauptzollamts jeweils nur von "Anfechtung" die Rede ist. Wenn das Hauptzollamt der Bfin. nach Einlegung der Rb. keinen weiteren Bescheid in der Vollziehungsangelegenheit gegeben hat, so kann das nur bedeuten, daß es die Vollziehung bis zur Entscheidung über die Rb. stillschweigend weiter ausgesetzt hat. Eine stillschweigend gewährte Aussetzung der Vollziehung unterbricht jedoch nicht die Verjährung (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Anm. 3 zu § 147 AO; Pendele, Das Steuerrecht der Reichsabgabenordnung, 5. Aufl. S. 63). Sonstige Handlungen, die die Verjährung hätten unterbrechen können, sind nach Mitteilung des Hauptzollamts im Jahre 1956 nicht vorgenommen worden. Das würde nach der bisherigen Rechtsprechung (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs IV A 153/30 vom 29. Oktober 1930 - Slg. Bd. 27 S. 244 -) für den Streitfall bedeuten, daß ein etwaiger Steueranspruch mit Ablauf des Jahres 1956 erloschen wäre.
Der erkennende Senat vertritt aber hinsichtlich der Frage der Verjährung nunmehr die Auffassung, daß während des Laufes eines Rechtsmittelverfahrens keine Verjährung des streitigen Steueranspruchs eintritt. Der Senat steht auf dem Standpunkt, daß es - unbeschadet der unbestreitbaren Verschiedenartigkeit der einzelnen Rechtsgebiete - im Interesse der Rechtseinheit liegt, überall da, wo es geboten ist, einer einheitlichen Rechtsauffassung Geltung zu verschaffen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich Schwierigkeiten in der Rechtspflege abzeichnen, die sich aus den Vorschriften eines speziellen Rechtsgebietes nicht lösen lassen, weil die betreffende Materie dort überhaupt nicht oder nicht erschöpfend geregelt ist. Ein solches spezielles Rechtsgebiet stellt die AO mit ihren Verjährungsvorschriften dar. Hier ist nichts zur Frage der Verjährung von Steuerforderungen während des Laufes eines Rechtsmittelverfahrens gesagt. Aus § 251 AO, der dem Hauptzollamt grundsätzlich die Möglichkeit gibt, auf Grund des Steuerbescheides vor seiner Rechtskraft gegen den Steuerpflichtigen zu vollstrecken und dadurch die Verjährung zu unterbrechen (ß 147 Abs. 1 AO), könnte zwar geschlossen werden, daß der Lauf der Verjährung durch Rechtsmitteleinlegung und das sich anschließende Rechtsmittelverfahren nicht beeinträchtigt wird, zumal da die Verjährungsvorschriften im wesentlichen Schutzvorschriften für den Steuerpflichtigen darstellen. Folgende Erwägungen sprechen aber gegen diese Schlußfolgerung.
Schwebt hinsichtlich einer Steuerforderung ein Rechtsmittelverfahren, so ist die Rechtsmittelinstanz Herrin dieses Verfahrens. Das Hauptzollamt kann, ausgenommen im Einspruchsverfahren, grundsätzlich keinen Einfluß auf die Dauer des Rechtsmittelverfahrens nehmen, abgesehen von der Zurücknahme des von ihm eingelegten Rechtsmittels oder des Steuerbescheids im Rahmen des § 94 Abs. 2 AO. Das Hauptzollamt müßte daher - wie dies seither in der Regel auch von den Hauptzollämtern gehandhabt wurde - bei längerer Dauer des Prozesses zur Unterbrechung der Verjährung alljährlich mahnen oder aber Vollstreckungshandlungen vornehmen selbst dann, wenn es eine Beitreibung nach Lage des Falles im fraglichen Zeitpunkt für zwecklos hält. Diese sich aus der bisherigen Rechtsprechung ergebenden notwendigen Maßnahmen wurden schon immer sowohl von seiten des Steuerberechtigten als auch von seiten des Steuerpflichtigen als ein unverständlicher Formalismus empfunden. Darüber hinaus sind aber Fälle denkbar, in denen dem Hauptzollamt die Vornahme von Beitreibungshandlungen untunlich erscheint, ohne daß es jedoch eine förmliche Aussetzung der Vollziehung gemäß § 251 AO von Amts wegen für angebracht hält. Schließlich wird man dem Hauptzollamt auch nicht zumuten können, ohne Antrag des Steuerpflichtigen nur zum Zwecke der Verhinderung einer Verjährung die Vollziehung ausdrücklich auszusetzen bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Streitfalles, da unter Umständen sofortige Vollstreckungsmaßnahmen notwendig werden. Zwar könnte hier ein Widerrufsvorbehalt bei der Aussetzungsverfügung abhelfen, aber der Widerruf einer einmal ausgesprochenen Vergünstigung gegenüber dem Steuerpflichtigen sollte nach Möglichkeit vermieden werden.
Der Senat hält es daher für richtig, zu prüfen, ob nicht zur Beseitigung dieses unerwünschten Rechtszustandes, der auf einer Lücke in den Verjährungsvorschriften der AO beruht, auf entsprechende Bestimmungen eines anderen Rechtsgebietes, die als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens zu werten sind, zurückgegriffen werden kann (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Band, Allg. Teil, 6. Aufl. S. 151). Unter diesem Gesichtspunkt kommt der Senat zu der Auffassung, daß für das Gebiet des Steuerrechts die sinngemäße Anwendung des § 211 Abs. 1 BGB nicht nur vertretbar, sondern sogar geboten ist. Diese Vorschrift besagt, daß im Falle der Unterbrechung der Verjährung durch Klageerhebung die Unterbrechung fortdauert, bis der Prozeß rechtskräftig entschieden oder anderweit erledigt ist. In dieser Vorschrift kommt also der allgemeine Rechtsgedanke zum Ausdruck, daß eine Partei zur Unterbrechung der Verjährung das ihrerseits erforderliche getan hat, wenn sie Klage bei Gericht erhoben hat, und daß eine Verjährung nicht eintreten soll, solange sie die Sache in den Händen des Richters weiß. Sie soll dann nicht gehalten sein, solange das Gericht nicht über das Bestehen oder Nichtbestehen der geltend gemachten Forderung entschieden hat, durch Maßnahmen außerhalb des Prozeßverfahrens, soweit diese überhaupt möglich wären (vgl. § 209 BGB), Unterbrechungshandlungen vorzunehmen. Auf das Steuerrecht übertragen bedeutet dies, daß der Steuerbescheid als erste maßgebliche Geltendmachung des Steueranspruchs der Klage im bürgerlichen Recht als der entsprechenden Geltendmachung des zivilrechtlichen Anspruchs durch den Gläubiger gleichzustellen ist. Der Steuerbescheid unterbricht die Verjährung der Steuerforderung, und diese Unterbrechung dauert im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels in sinngemäßer Anwendung des Rechtsgedankens des § 211 Abs. 1 BGB fort bis zur rechtskräftigen Erledigung des Steuerrechtsstreits. Auch hier muß der Grundsatz gelten, daß die den Anspruch mit den dafür im Gesetz vorgesehenen Mitteln geltend machende Partei - hier also das Hauptzollamt mit Hilfe des Steuerbescheides - nicht genötigt sein soll, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Anspruch - hier den Steueranspruch -, d. h. also während des Laufes eines Rechtsmittelverfahrens, Unterbrechungshandlungen außerhalb des Rechtsmittelverfahrens vorzunehmen.
Dieser Auffassung entspricht die Ausführung bei Riewald, Reichsabgabenordnung, Teil I, Auflage 1941, Anm. 2 zu § 147, es sei der Sinn der im Gesetz geregelten Verjährungsunterbrechung, daß die Verjährung nicht eintreten soll, solange die Behörde durch ihre Maßnahmen zeigt, daß sie den Steueranspruch noch nicht aus dem Auge verloren hat. Solcher Maßnahmen bedarf es aber während des Laufes des Rechtsmittelverfahrens nicht mehr, weil das Hauptzollamt den Steueranspruch nicht mehr aus dem Auge verlieren kann, da das Rechtsmittelverfahren den Steueranspruch den am Steuerverfahren beteiligten Parteien zwangsläufig in Erinnerung hält. Das gilt insbesondere auch für den Steuerpflichtigen, der ein Rechtsmittel eingelegt hat.
Der erkennende Senat kommt auf Grund der vorstehenden Erwägungen zu dem Ergebnis, daß während des Laufes eines Rechtsmittelverfahrens der geltend gemachte Anspruch nicht verjährt, wobei es ohne Einfluß ist, ob der Steuerpflichtige oder das Hauptzollamt das Rechtsmittel eingelegt hat. Dabei ist auch in Betracht zu ziehen, daß es mit der Stellung der steuerlichen Rechtsmittelinstanz als Herrin des Verfahrens nicht vereinbar wäre, wenn während des Laufes des Rechtsmittelverfahrens, das sich unter Umständen über einige Jahre hinziehen kann, ihr die Entscheidungsbefugnis über die Streitsache durch den Eintritt der Verjährung entzogen würde (vgl. zu der behandelten Frage auch Mattern, Deutsche Steuer-Zeitung A 1957 S. 177). Im Streitfall ist somit keine Verjährung eingetreten.
Fundstellen
Haufe-Index 408906 |
BStBl III 1957, 454 |
BFHE 1958, 576 |
BFHE 65, 576 |