Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwarzlohnzahlungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Rückgriff auf einschlägige tarifvertragliche Regelungen zur Schätzung der geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge ist nicht nur rechtsfehlerfrei, sondern kann aus Rechtsgründen sogar geboten sein, sofern der nach dem Tarifvertrag zu zahlende Bruttostundenlohn den fiktiven Bruttostundenlohn übersteigt, der sich nach Hochrechnung des vom Tatgericht ermittelten, an die illegal beschäftigten Arbeitnehmer gezahlten Schwarzlohns auf eine Bruttolohnsumme nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV ergibt. Dies ist immer dann der Fall, wenn der Tariflohn den tatsächlich gezahlten Schwarzlohn um den Hochrechnungsfaktor, der in der Regel zwischen 1,5 und 1,6 beträgt, übersteigt. In diesen Fällen bildet der tarifvertragliche (Brutto-)Stundenlohn den vom Tatrichter zu beachtenden Maßstab.
2. Für die Berechnung der Lohnsteuer aus den Schwarzlohnzahlungen müssen Tarif- und Mindestlohn hingegen außer Betracht bleiben. Wegen des im Steuerrecht geltenden Zuflussprinzips ist die hinterzogene Lohnsteuer auf der Grundlage der tatsächlich gezahlten Nettolöhne zu ermitteln.
Normenkette
StGB § 266a; SGB IV § 14 Abs. 2 S. 2; AO § 370 Abs. 1, 3
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Urteil vom 07.07.2021; Aktenzeichen 6 KLs 182 Js 117681/10) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 7. Juli 2021 aufgehoben
betreffend diesen Angeklagten
aa) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit er wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 19 Fällen (Fälle 5 bis 23 der Urteilsgründe) und wegen vorsätzlichen Bankrotts in drei Fällen (Fälle 24 bis 26 der Urteilsgründe) verurteilt worden ist;
bb) im Ausspruch über die Gesamtstrafe;
betreffend die Mitangeklagte L.
aa) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit sie wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 19 Fällen (Fälle 5 bis 23 der Urteilsgründe) verurteilt worden ist;
bb) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „gewerbsmäßigen” Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft in drei Fällen, versuchten „gewerbsmäßigen” Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 19 Fällen, vorsätzlichen Bankrotts in drei Fällen und vorsätzlichen unerlaubten Umgangs mit Abfällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gegen die nicht revidierende Mitangeklagte L. hat das Landgericht bei gleichem Schuldspruch eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Hinsichtlich beider Angeklagten hat das Landgericht bestimmt, dass von der Strafe fünf Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten.
Rz. 2
Die auf die Beanstandung der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat – unter teilweiser Erstreckung auf die Mitangeklagte (§ 357 Satz 1 StPO) – den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
Rz. 3
Das Landgericht hat zu der Verurteilung wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt und wegen vorsätzlichen Bankrotts folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Rz. 4
Die Angeklagten bewirtschafteten gemeinsam und in arbeitsteiliger Weise den Bauernhof W. in G. und die S. GmbH in B.. Dazu bedienten sie sich hauptsächlich polnischer Beschäftigter, die sie vorwiegend zum Schälen und Weiterverarbeiten von Kartoffeln einsetzten. Der Angeklagte und die Mitangeklagte führten als Arbeitgeber für ihre polnischen Beschäftigten die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung im Jahr 2010 in Höhe von insgesamt 185.279,16 Euro und von Januar bis Juli 2011 in Höhe von insgesamt 70.279,16 Euro nicht ab. Zudem unterließen es die Mitangeklagte L. als Geschäftsführerin und der Angeklagte als faktischer Geschäftsführer der S. GmbH, für diese – zum 30. Juni des jeweils folgenden Jahres – Bilanzen für die Jahre 2007, 2008 und 2009 zu erstellen; die Gesellschaft war seit mindestens Januar 2008 zahlungsunfähig. Die polnischen Beschäftigten bildeten einen gemeinsamen Pool an Arbeitskräften zum Einsatz auf dem Bauernhof W. und in der S. GmbH, wobei die Angeklagten gemeinsam entschieden, wo und was jene zu arbeiten hatten.
Rz. 5
Hauptsächlich wurden auf dem Bauernhof W. Kartoffeln produziert; der Hof verfügte über Anbauflächen von 25 Hektar, die jährlich einen Ertrag von rund 1.000 Tonnen Kartoffeln erbrachten. Aufgabe der Mitangeklagten war es, die Kartoffeln zu Produkten wie Kartoffelsalat oder gewürfelten Kartoffeln zu verarbeiten. Um die erwirtschaftete Kartoffelmenge beim Kartoffelschälen und zur Verarbeitung zu bewältigen, waren – neben der Mitangeklagten – zusätzliche Arbeitskräfte vonnöten. Das wurde über polnische Beschäftigte gelöst, die als Saisonarbeiter auf dem Bauernhof W. zu einem Tageslohn angestellt wurden, der zuletzt 30 Euro betrug. Die Kartoffeln wurden in dem ehemaligen Elternhaus der Mitangeklagten in G.-D. geschält und – in den Nachtstunden – in den Räumlichkeiten der S. GmbH gekocht und dort anschließend von der Mitangeklagten sowie zwei Hilfskräften zu Kartoffelsalat verarbeitet. Von der S. GmbH aus erfolgten der Verkauf und die Lieferung des Kartoffelsalats an den jeweiligen Kundenstamm des Bauernhofs W. und der S. GmbH. Zudem ergänzte der Bauernhof W. seine Angebote um Produkte, die von der S. GmbH hergestellt wurden, etwa Spätzle oder Maultaschen. Diese Gemengelage ging einher mit halbjährlichen oder jährlichen „Hin- und Her-Rechnungen” zwischen den beiden Betrieben. Eine überschaubare Trennung der Betriebe war daraus nicht nachvollziehbar.
Rz. 6
Im Verhältnis der Angeklagten zueinander bestimmte der Angeklagte vorwiegend die wirtschaftliche Ausrichtung des Bauernhofs; Grundstücke, insbesondere Ackerflächen, gelangten sämtlich in sein Eigentum. Der Angeklagte war hauptsächlich für das Tagesgeschäft auf dem Bauernhof, die Mitangeklagte für das Tagesgeschäft in der S. GmbH zuständig. Die polnischen Beschäftigten, für die der Angeklagte der Chef war, respektierten auch die Mitangeklagte als Chefin und sprachen sie auch entsprechend an.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 7
1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Bankrotts (§ 283 Abs. 1 Nr. 7b StGB) in den Fällen 24 bis 26 der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Urteilsfeststellungen belegen nicht rechtsfehlerfrei, dass der Angeklagte faktischer Geschäftsführer der S. GmbH war.
Rz. 8
a) Das Landgericht ist im Ansatz zwar zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei dem Tatbestand des Bankrotts nach § 283 StGB um ein Sonderdelikt handelt, dessen Täter nur der Schuldner sein kann. Ist dieser – wie hier – keine natürliche Person, kann die Schuldnereigenschaft einer natürlichen Person nach § 14 StGB (strafrechtlich) zugerechnet werden. Eine Zurechnung des besonderen persönlichen Merkmals der Schuldnereigenschaft kann auch im Fall faktischer Geschäftsführung über § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfolgen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. November 2012 – 3 StR 199/12 Rn. 23 und vom 4. August 2021 – 2 StR 352/20 Rn. 6).
Rz. 9
b) Hinsichtlich einer faktischen Geschäftsführereigenschaft des Angeklagten hat das Landgericht – über die allgemeinen Feststellungen hinausgehend – ausgeführt, dass der Angeklagte die unternehmerischen Entscheidungen betreffend die S. GmbH von Anfang an mitbestimmte und sich als Interessent bei dem Gesellschafter J. gemeldet hatte, als dieser die Großküche angeboten hatte. Nach den Feststellungen trat der Angeklagte zudem in Vertragsverhandlungen mit der Kreissparkasse dominierend und federführend für die Interessen der S. GmbH auf und stellte schon beim ersten Bankgeschäft das Konzept vor. Beide Angeklagten entschieden nach einer Mandatskündigung durch den bisherigen Steuerberater über die Beauftragung des Steuerberaters H. und des Buchhalters W..
Rz. 10
c) Diese Feststellungen tragen die Wertung, dass der Angeklagte faktischer Geschäftsführer der S. GmbH ist, nicht.
Rz. 11
Zwar ist auch Geschäftsführer, wer ohne förmliche Bestellung die Stellung eines Geschäftsführers tatsächlich einnimmt. Das ist der Fall, wenn die betreffende Person faktisch die Leitung des Unternehmens übernommen und die rechtsgeschäftlichen Handlungen des Unternehmens maßgeblich – auch für Außenstehende erkennbar – bestimmt hat, ohne formal zum Geschäftsführer bestellt zu sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 14. Oktober 2020 – 1 StR 33/19 Rn. 26 mwN). Der Umstand, dass es daneben einen formell bestellten Geschäftsführer gibt, muss dem nicht entgegenstehen. Dann muss allerdings der faktische Geschäftsführer Geschäftsführerfunktionen in maßgeblichem Umfang übernommen haben, der in der Rechtsprechung mit „ein Übergewicht” (BGH, Urteil vom 19. April 1984 – 1 StR 736/83), „eine überragende Stellung” (BGH, Urteil vom 22. September 1982 – 3 StR 287/82 Rn. 9, BGHSt 31, 118, 120) oder „das deutliche Übergewicht” (BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2012 – 5 StR 407/12 Rn. 7) in – im Wesentlichen sprachlichen – Nuancen unterschiedlich umschrieben wird (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2013 – 1 StR 459/12 Rn. 34).
Rz. 12
Die bisherigen – eher rudimentären – Feststellungen erlauben bereits nicht den Schluss, dass der Angeklagte die Stellung eines Geschäftsführers der S. GmbH tatsächlich einnahm. Überdies fehlt es gänzlich an Feststellungen an einer überragenden Stellung des Angeklagten gegenüber der formell als Geschäftsführerin bestellten und für die S. GmbH tätigen Mitangeklagten.
Rz. 13
2. Auch die Verurteilung des Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in den Fällen 5 bis 23 der Urteilsgründe hat keinen Bestand.
Rz. 14
a) Aus den Feststellungen des Landgerichts ergibt sich schon nicht hinreichend, zu welchem Unternehmen – der S. GmbH oder dem Bauernhof W. und damit (wohl) dem landwirtschaftlichen Betrieb des Angeklagten – die polnischen Arbeitskräfte in einem inländischen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis (vgl. § 7 Abs. 1 SGB IV) standen, mithin wer deren Arbeitgeber im Sinne von § 266a Abs. 1 und 2 StGB war.
Rz. 15
aa) Ob eine Person Arbeitgeber im Sinne von § 266a StGB ist, richtet sich nach dem Sozialversicherungsrecht, das seinerseits diesbezüglich auf das Dienstvertragsrecht der §§ 611 ff. BGB abstellt. Arbeitgeber ist danach derjenige, dem gegenüber der Arbeitnehmer zur Erbringung von Arbeitsleistungen verpflichtet ist und zu dem er in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis steht, das sich vor allem durch die Eingliederung des Arbeitnehmers in den Betrieb des Arbeitgebers ausdrückt (siehe etwa BSGE 34, 111, 113). Das Bestehen eines solchen Beschäftigungsverhältnisses zum Arbeitgeber bestimmt sich dabei nach den tatsächlichen Gegebenheiten (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 24. September 2019 – 1 StR 346/18, BGHSt 64, 195 Rn. 24 und vom 4. September 2013 – 1 StR 94/13 Rn. 10; jeweils mwN).
Rz. 16
bb) Auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts ist eine Zuordnung der Beschäftigungsverhältnisse der polnischen Arbeitnehmer zu dem landwirtschaftlichen Betrieb des Bauernhofs, dessen alleiniger Betriebsinhaber der Angeklagte gewesen sein dürfte, oder zu der S. GmbH nicht möglich. Soweit das Landgericht in diesem Zusammenhang auf eine „praktische Verschmelzung der S. GmbH mit dem Bauernhof W. „ (UA S. 55) und eine Bewirtschaftung beider Betriebe durch beide Angeklagten gemeinsam in arbeitsteiliger Weise verweist, enthebt dies grundsätzlich nicht von der rechtlichen Verpflichtung, die Beschäftigungsverhältnisse dem landwirtschaftlichen Betrieb oder der S. GmbH als unterschiedlichen Rechtssubjekten zuzuordnen.
Rz. 17
cc) Eine derartige Zuordnung ist auch deshalb erforderlich, da – soweit die Arbeitnehmer bei der S. GmbH beschäftigt waren – aus dem zuvor unter 1. Ausgeführten folgt, dass auch die faktische Arbeitgebereigenschaft des Angeklagten im Sinne von § 266a StGB nicht belegt ist (vgl. BGH, Urteil vom 14. Oktober 2020 – 1 StR 33/19 Rn. 26).
Rz. 18
b) Das Landgericht hat sich zudem rechtsfehlerhaft nicht mit der dem Straftatbestand des § 266a StGB als echtem Unterlassungsdelikt immanenten Tatbestandsvoraussetzung, dass dem Arbeitgeber die Erfüllung der Handlungspflicht möglich und zumutbar sein muss (vgl. BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 17 und Beschluss vom 28. Mai 2002 – 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318, 320), auseinandergesetzt.
Rz. 19
c) Auch der festgestellte Schuldumfang begegnet rechtlichen Bedenken.
Rz. 20
Das Landgericht hat die vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge durch Schätzung ermittelt und dabei – bezogen auf beide Betriebe – für das Jahr 2010 gleichzeitig durchschnittlich 15 polnische Beschäftigte und für Januar bis Juli 2011 durchschnittlich zehn polnische Beschäftigte sowie sechs Wochenarbeitstage und durchschnittlich 13 Arbeitsstunden täglich zugrunde gelegt. Anstelle des sittenwidrig niedrigen Tageslohns von 30 Euro ist das Landgericht von einer üblichen Vergütung auf der Grundlage des tariflichen Bruttostundenlohns von 7,70 Euro für Landarbeiter der Stufe 2 aus dem Lohntarifvertrag für Landarbeiter in Baden-Württemberg vom 8. April 2009 zwischen dem Arbeitgeberverband der Land- und Forstwirtschaft in Baden-Württemberg und dem Landwirtschaftlichen Arbeitgeberverband für Südbaden sowie der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt ausgegangen.
Rz. 21
aa) Zwar ist es grundsätzlich rechtlich zulässig, die vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge auf der Grundlage der tarifvertraglichen Stundenlöhne zu berechnen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. April 2016 – 1 StR 1/16 und vom 12. September 2012 – 5 StR 363/12 Rn. 10 mN). Allerdings setzt dies – soweit es sich um nicht unmittelbar tarifgebundene Unternehmen handelt – hinsichtlich der tarifvertraglichen Stundenlöhne voraus, dass der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Dezember 2020 – 1 StR 310/20 Rn. 4 mwN). Ob es eine entsprechende Allgemeinverbindlicherklärung gab, hat das Landgericht indes nicht festgestellt.
Rz. 22
bb) Unabhängig davon bestehen für den Fall einer Tarifbindung des Arbeitgebers keine Bedenken gegen eine Schätzung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge auf der Grundlage der tarifvertraglichen (Brutto-)Stundenlöhne. Insoweit gilt allgemein:
Rz. 23
(1) Dem Tatgericht obliegt es grundsätzlich, die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge für die Fälligkeitszeitpunkte gesondert nach Anzahl, Beschäftigungszeiten, Löhnen der Arbeitnehmer und der Höhe des Beitragssatzes der örtlich zuständigen Krankenkasse festzustellen, weil die Höhe der geschuldeten Beiträge auf der Grundlage des Arbeitsentgelts nach den Beitragssätzen der jeweiligen Krankenkassen sowie den gesetzlich geregelten Beitragssätzen der Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung zu berechnen ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 11. Januar 2022 – 2 StR 460/20 Rn. 7 mwN). Falls solche Feststellungen im Einzelfall nicht möglich sind, kann die Höhe der vorenthaltenen Beiträge auf Grundlage der tatsächlichen Umstände geschätzt werden (BGH, Urteile vom 8. Januar 2020 – 5 StR 122/19 Rn. 13 und vom 19. Dezember 2018 – 1 StR 444/18 Rn. 21 mwN).
Rz. 24
(2) Bei der Auswahl der Schätzungsmethode kommt dem Tatgericht ein Beurteilungsspielraum zu; die revisionsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich darauf, ob das Tatgericht nachvollziehbar dargelegt hat, warum es sich der gewählten Schätzungsmethode bedient hat und weshalb diese dafür geeignet ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2009 – 1 StR 283/09 Rn. 19; vgl. zur Schätzung im Steuerstrafrecht etwa auch: BGH, Beschluss vom 10. Februar 2022 – 1 StR 484/21 Rn. 5). Vorgegebenes Ziel einer solchen Schätzung ist es, der Wirklichkeit durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen möglichst nahe zu kommen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2009 – 1 StR 283/09 Rn. 19; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 4. Februar 1992 – 5 StR 655/91 Rn. 4 und vom 14. Juni 2011 – 1 StR 90/11 Rn. 10).
Rz. 25
(3) Im Sozialversicherungsrecht gilt – anders als im Steuerrecht – grundsätzlich das Entstehungsprinzip (§ 22 Abs. 1 SGB IV; vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2002 – 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318, 319 und Urteil vom 2. Dezember 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 16). Der Schuldumfang bei Straftaten der Beitragsvorenthaltung gemäß § 266a StGB im Rahmen von illegalen, aber versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen bestimmt sich nach dem nach sozialversicherungsrechtlichen Maßstäben zu ermittelnden Bruttoentgelt und der hieran anknüpfenden Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge. Vorenthalten im Sinne von § 266a StGB sind die nach den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften tatsächlich geschuldeten Beiträge (BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 14). Ob und in welcher Höhe ein Arbeitsentgelt an den Arbeitnehmer ausgezahlt wird, ist unerheblich (vgl. Wiedner in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 266a Rn. 26b).
Rz. 26
(4) Hieraus folgt für die Ermittlung der hinterzogenen Sozialversicherungsbeiträge tarifgebundener Arbeitgeber:
Rz. 27
(a) Der Rückgriff auf einschlägige tarifvertragliche Regelungen zur Schätzung der geschuldeten Beiträge ist nicht nur rechtsfehlerfrei, sondern kann aus Rechtsgründen sogar geboten sein, sofern – wie hier – der nach dem Tarifvertrag zu zahlende Bruttostundenlohn den fiktiven Bruttostundenlohn übersteigt, der sich nach Hochrechnung des vom Tatgericht ermittelten, an die illegal beschäftigten Arbeitnehmer gezahlten Schwarzlohns auf eine Bruttolohnsumme nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 11) ergibt. Dies ist immer dann der Fall, wenn der Tariflohn den tatsächlich gezahlten Schwarzlohn um den Hochrechnungsfaktor, der in der Regel zwischen 1,5 und 1,6 beträgt (vgl. BGH, Urteil vom 16. Januar 2020 – 1 StR 113/19 Rn. 17), übersteigt. In diesen Fällen bildet der tarifvertragliche (Brutto-)Stundenlohn den vom Tatrichter zu beachtenden Maßstab, was insbesondere im Bereich des Lohndumpings Relevanz erlangt.
Rz. 28
(b) Gleiches gilt im Übrigen für den nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG) zu zahlenden Mindestlohn, der zum 1. Januar 2022 auf 9,82 Euro erhöht wurde und zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro steigen wird. Auch dieser bildet eine Untergrenze, die der Tatrichter bei der Bemessung der im Sinne von § 266a StGB vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge in den Blick zu nehmen hat.
Rz. 29
(c) Die Regelung des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV steht der Bestimmung der tatsächlich geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge unter Zugrundelegung von Tarif- oder Mindestlöhnen nicht entgegen. Diese Vorschrift enthält lediglich eine Fiktion einer Nettolohnabrede für illegale Beschäftigungsverhältnisse, bei denen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge nicht gezahlt werden, die zur Folge hat, dass das Arbeitsentgelt der Beschäftigten in solchen Fällen aus dem als Nettolohn zu behandelnden Barlohn, der um die darauf entfallenden Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung zu erhöhen, d.h. zu einem Bruttolohn „hochzurechnen” ist (vgl. BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 11). Der so bestimmte fiktive Bruttolohn bildet jedoch nur dann die für die Bemessung der Sozialversicherungsbeiträge maßgebliche Grundlage, wenn die tatsächlich geschuldeten Beiträge nicht aus anderen rechtlichen Gründen, etwa durch eine Tarifbindung oder das Mindestlohngesetz, höher sind.
Rz. 30
(5) Für die Berechnung der Lohnsteuer aus den Schwarzlohnzahlungen müssen Tarif- und Mindestlohn hingegen außer Betracht bleiben. Wegen des im Steuerrecht geltenden Zuflussprinzips (vgl. BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 16) ist die hinterzogene Lohnsteuer auf der Grundlage der – tatsächlich gezahlten – Nettolöhne zu ermitteln (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2009 – 1 StR 283/09 Rn. 29).
Rz. 31
3. Die Aufhebung der Verurteilungen in den Fällen 5 bis 23 und 24 bis 26 der Urteilsgründe hat die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs zur Folge. Auch die den Verurteilungen in diesen Fällen zugrunde liegenden Feststellungen sind von dem Rechtsfehler betroffen (§ 353 Abs. 2 StPO) und daher aufzuheben.
Rz. 32
Die Entscheidung über die Kompensation aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bleibt von der Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs unberührt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2019 – 1 StR 50/19 Rn. 10 mwN).
Rz. 33
4. Gemäß § 357 Satz 1 StPO ist die Aufhebung der Verurteilung in den Fällen 5 bis 23 der Urteilsgründe auf die nicht revidierende Mitangeklagte L. zu erstrecken. Dies führt auch bei dieser zur Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs.
Unterschriften
Raum, Bellay, Hohoff, Leplow, Pernice
Fundstellen
wistra 2022, 3 |
NStZ-RR 2022, 6 |
NJW-Spezial 2022, 570 |