Leitsatz (amtlich)
Kosten für medizinische Behandlungsmethoden, die von der gesetzlichen Krankenkasse nicht übernommen werden, rechtfertigen in der Regel auch keine Erhöhung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens.
Normenkette
ZPO § 850 f Abs. 1; InsO § 36 Abs. 1, 4
Verfahrensgang
LG Verden (Aller) (Beschluss vom 07.01.2008; Aktenzeichen 1 T 323/07) |
AG Verden (Aller) (Entscheidung vom 09.07.2007; Aktenzeichen 11 IK 235/05) |
Tenor
Der Schuldnerin wird zur Durchführung des Rechtsbeschwerdeverfahrens gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Verden vom 7.1.2008 Prozesskostenhilfe bewilligt. Sie hat monatliche Raten von 45 EUR ab 1.6.2009 an die Bundeskasse zu zahlen. Ihr wird Rechtsanwalt Dr. Schott beigeordnet.
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Verden vom 7.1.2008 wird auf Kosten der Schuldnerin zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 7.266 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
[1] Durch Beschluss vom 3.1.2006 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet. Mit Schreiben vom 5.2.2007 beantragte sie, den pfandfreien Betrag zu erhöhen, da sie Mehraufwendungen für therapeutische Maßnahmen habe. Sie leide an einer Somatisierungsstörung, einer Dysthymia sowie einer kombinierten Persönlichkeitsstörung. Zur Behandlung seien neben den ihr von der gesetzlichen Krankenkasse zur Verfügung gestellten Methoden eine multimodale Therapie mit energetischen Massagen, Osteopathie etc. sowie Aura-Gruppensitzungen erforderlich. Zur Begründung bezog sie sich auf verschiedene Bescheinigungen behandelnder Ärzte. Für die energetischen Massagen fielen 14-tägig Kosten von 26 EUR, für die Aura-Gruppensitzungen 14-tägig Kosten i.H.v. 23 EUR an. Hinzu kämen unregelmäßig Mehrkosten für Medikamente. Die Kostenübernahme wurde von der gesetzlichen Krankenkasse abgelehnt, da die Voraussetzungen für eine Erstattungsfähigkeit der Kosten dieser alternativen Behandlungsmethoden nicht erfüllt seien.
[2] Das AG hat den Antrag der Beschwerdeführerin zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Schuldnerin ihr Begehren weiter, ihr von dem pfändbaren Teil ihres Einkommens monatlich 173 EUR zu belassen.
II.
[3] Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 793 ZPO, weil sie vom LG zugelassen worden ist, § 36 Abs. 1 und 4 InsO (vgl. BGH, Beschl. v. 5.2.2004 - IX ZB 97/03, WM 2004, 834, 835; v. 6.5.2004 - IX ZB 104/04, ZIP 2004, 1379; v. 6.7.2006 - IX ZB 220/04, KTS 2007, 353). Hieran ist das Rechtsbeschwerdegericht gebunden, § 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO. Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig, § 575 Abs. 1 bis 3 ZPO.
III.
[4] Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das LG hat richtig entschieden.
[5] 1. Das LG meint, die Schuldnerin habe das besondere Bedürfnis i.S.d. § 850 f Abs. 1 Buchst. b ZPO nicht hinreichend dargelegt. Besondere Bedürfnisse in diesem Sinne lägen vor, wenn besondere medizinisch indizierte Therapien besondere Kosten verursachten, die nicht durch die gesetzliche Krankenkasse übernommen würden. Hierfür sei aber nicht ausreichend, dass die fragliche Therapie lediglich hilfreich oder sinnvoll sei. Vielmehr sei wegen der erforderlichen Abwägung der Gläubigerinteressen mit dem Schuldnerschutz zu fordern, dass ein objektivierbares, besonderes Bedürfnis des Schuldners bestehe, auf das billigerweise bei der Vollstreckung Rücksicht zu nehmen sei. Derartige Bedürfnisse lägen im Hinblick auf medizinische Behandlungen nur vor, wenn dem Schuldner nicht zugemutet werden könne, aus wirtschaftlichen Gründen eine erforderliche Behandlung zu unterlassen. Hierfür müsse die Behandlung dergestalt indiziert sein, dass der Betroffene auf sie aus medizinischen Gründen zwingend angewiesen sei, um eine Besserung seiner Krankheit oder ihrer Symptome zu erfahren oder einer Verschlechterung vorzubeugen. Diese Wirkung der Behandlung müsse objektivierbar, also wissenschaftlich nachgewiesen oder zumindest nachweisbar sein. Darüber hinaus müssten die Kosten, die für die Therapie anfallen, verhältnismäßig sein, also in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen.
[6] Diese Grundsätze lägen auch dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung zugrunde, so dass derartige Kosten regelmäßig nach § 850 f Abs. 1 Buchst. b ZPO nicht zu berücksichtigen seien, wenn sie auch von der gesetzlichen Krankenkasse mangels Indikation oder Wirtschaftlichkeit nicht erstattet würden.
[7] Die Schuldnerin mache Kosten für alternative Behandlungsmethoden geltend, die von der Krankenkasse unter den genannten besonderen Voraussetzungen gem. § 12 SGB V zu übernehmen wären. Da die Krankenkasse die Übernahme abgelehnt habe, sei der Vortrag der Schuldnerin zur medizinischen Indikation der Behandlung unzureichend. Insbesondere sei nicht ausreichend, dass sie lediglich Bestätigungen der zu behandelnden Ärzte vorgelegt habe, nach denen die Behandlungen indiziert bzw. sinnvoll wirken könnten. Ersichtlich sei damit keine wissenschaftlich nachgewiesene medizinische Indikation gemeint, da die Schuldnerin zugleich davon ausgehe, keinen Anspruch auf Kostenübernahme ggü. der Krankenkasse zu haben. Deshalb sei kein Gutachten über die medizinische Indikation der fraglichen Behandlungsmaßnahmen einzuholen gewesen.
[8] Aus denselben Gründen käme keine Erhöhung des pfändungsfreien Betrages aufgrund von Zuzahlungen zu Medikamenten in Betracht. Zuzahlungen in üblicher Höhe seien ohnehin bei der Bemessung des Pauschalbetrages berücksichtigt.
[9] 2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung im Ergebnis stand.
[10] a) Das Beschwerdegericht hat § 850 f Abs. 1 Buchst. b ZPO zutreffend ausgelegt. Ein besonderes Bedürfnis des Schuldners im Sinne dieser Vorschrift setzt voraus, dass dieses konkret und aktuell vorliegt und außergewöhnlich in dem Sinne ist, dass es bei den meisten Personen in vergleichbarer Lage nicht auftritt (Hk-ZPO/Kemper, 2. Aufl., § 850 f Rz. 5). Denn die Vorschrift dient dazu, einen Ausgleich zu schaffen, wenn der individuelle Bedarf durch die pauschal unpfändbaren Einkommensteile aufgrund besonderer Umstände nicht gedeckt werden kann (Zöller/Stöber, ZPO, 27. Aufl., § 850 f Rz. 1). Im Hinblick auf medizinische Behandlungen ist dies dann der Fall, wenn der Schuldner Beträge aufwenden muss, die ihm aus Anlass einer Krankheit entstehen (LG Düsseldorf JurBüro 2006, 156; Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 22. Aufl., § 850 f Rz. 4; Zöller/Stöber, a.a.O., § 850 f Rz. 4; Musielak/Becker, ZPO, 6. Aufl., § 850 f Rz. 5; Kessal-Wulf in Schuschke/Walker, Vollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz, 4. Aufl., § 850 f ZPO Rz. 7), ohne dass die Kosten von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden. Davon umfasst sind grundsätzlich aus medizinischen Gründen erforderliche Therapien. Zutreffend ist das LG auch davon ausgegangen, dass im Hinblick auf die erforderliche Abwägung zwischen Gläubigerinteressen und Schuldnerschutz zu fordern ist, dass ein objektivierbares Bedürfnis des Schuldners bestehen muss, auf das billigerweise bei der Vollstreckung oder der Durchführung des Insolvenzverfahrens Rücksicht zu nehmen ist. Hierfür genügt nicht, dass die fragliche Therapie hilfreich oder sinnvoll ist, wie in den vorgelegten Attesten bestätigt wurde. Vielmehr liegt ein anzunehmendes Bedürfnis nur vor, wenn dem Schuldner nicht zugemutet werden kann, aus wirtschaftlichen Gründen auf die Behandlung zu verzichten. Die Behandlung muss aus medizinischen Gründen erforderlich sein, um eine Besserung der Krankheit oder ihrer Symptome zu erreichen oder einer Verschlechterung vorzubeugen. Diese Wirkung muss objektivierbar, also für das Leiden des Schuldners wissenschaftlich nachgewiesen sein. Darüber hinaus müssen die Kosten für die Therapie verhältnismäßig sein, also individuell gerade beim Schuldner in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen stehen. Dies ist tatrichterlich unter Würdigung aller Umstände festzustellen.
[11] b) Das Beschwerdegericht hat ebenfalls zutreffend gesehen, dass entsprechende Grundsätze dem Recht der gesetzlichen Krankenkassen zugrunde liegen. Deren Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, dürfen aber das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können die Versicherten nicht beanspruchen. Andernfalls hat unter den genannten Voraussetzungen die gesetzliche Krankenkasse nach §§ 12, 13 SGB V die Kosten zu übernehmen. Dabei müssen die Behandlungsmethoden gem. § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V nicht zur Schulmedizin gehören.
[12] Nach neuem Recht ist allerdings in der gesetzlichen Krankenversicherung ein allgemeines Prüfungsverfahren eingeführt, in dem bei - in weitem Sinn zu verstehenden - neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden die Leistungspflicht der Krankenkasse von der Anerkennung der Methode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen nach § 135 SGB V abhängt. Eine unmittelbare Anwendung des § 12 SGB V im Einzelfall ist daher nur außerhalb des Anwendungsbereiches des § 135 SGB V zulässig, also wenn keine neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden vorliegen. Innerhalb des Anwendungsbereiches des § 135 SGB V kommen Einzelfallentscheidungen der Krankenkassen und SG nur in Betracht, wenn die Einleitung oder Durchführung des Verfahrens des Bundesausschusses nach § 135 SGB V willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen blockiert oder verzögert wird (BSGE 81, 54; 86, 54; Höfler in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 12 SGB V Rz. 15 ff., Rz. 19; Wannagat/Ulmer, Sozialgesetzbuch, § 12 SGB V Rz. 18 ff.).
[13] Ist allerdings § 12 SGB V unmittelbar anwendbar, müssen dessen Voraussetzungen für die Leistungserbringung im konkreten Einzelfall geprüft werden. Gegebenenfalls hat der Versicherte sodann einen Anspruch auf Kostenerstattung gem. § 13 SGB V (vgl. Wannagat/Ulmer, a.a.O., Rz. 32).
[14] c) Für den Schuldner, der Sozialhilfe bezieht, werden als Hilfen zur Gesundheit gem. § 52 SGB XII die Leistungen nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenkassen erbracht; für ihn gelten gleichermaßen die Zuzahlungspflichten in der Krankenversicherung (Grube/Wahrendorf, SGB XII 2. Aufl., § 48 Rz. 24, Bieritz-Harder/Birk in LPK-SGB XII, 8. Aufl., § 48 Rz. 14). Deren Ausgaben für die Gesundheitspflege sind nach heute geltendem Recht beim Sozialhilfeempfänger vom Regelsatz der Regelsatzverordnung umfasst, weil dieser den Gesamtbedarf deckt (Grube/Wahrendorf, a.a.O., § 48 SGB XII Rz. 26, § 28 Rz. 8; Bieritz-Harder/Birk, a.a.O., § 48 Rz. 27).
[15] d) Der Maßstab für die Beurteilung besonderer Bedürfnisse i.S.d. § 850 f Abs. 1 Buchst. b ZPO ist zwar die individuelle Situation beim konkreten Schuldner. Bei der Frage, ob ihm zu Lasten der Gläubiger ein pfändbarer Teil seines Einkommens zu belassen ist, kann jedoch bei der Abwägung der Belange des Schuldners und der Gläubiger in der Regel kein Maßstab angelegt werden, der den Schuldner besser stellt als die gesetzlich Krankenversicherten oder diejenigen Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Dass er insoweit nicht schlechter gestellt wird als ein Empfänger von Sozialhilfe, wird bereits durch § 850 f Abs. 1 Buchst. a ZPO gewährleistet (vgl. Zöller/Stöber, a.a.O., § 850 f ZPO Rz. 2a). Den Gläubigern können keine weitergehenden Einschränkungen ihrer Rechte zugemutet werden, wenn der Gesetzgeber sie auch der Versichertengemeinschaft bzw. dem Träger der Sozialhilfe nicht auferlegt. Das Interesse der Schuldnerin an der Verbesserung ihres gesundheitlichen Zustandes kann in diesem Rahmen keinen Vorrang beanspruchen.
[16] e) Dagegen kann nicht eingewandt werden, die Anwendung des § 850 f Abs. 1 Buchst. b ZPO setze doch gerade voraus, dass die besonderen Kosten von der Krankenkasse nicht übernommen würden. Für die Vorschrift verbleibt auch unter Zugrundelegung der vorstehenden Ausführungen ein Anwendungsbereich insoweit, als es um den Selbstbehalt des Schuldners geht, der unter Berücksichtigung der von dem Krankenversicherer oder dem Träger der Sozialhilfe erbrachten Leistungen verbleibt (vgl. Zöller/Stöber, a.a.O., § 850 f ZPO Rz. 4).
[17] f) Nach dem eigenen Vortrag der Schuldnerin hat die gesetzliche Krankenkasse die Übernahme der Kosten abgelehnt. Die Schuldnerin macht nicht geltend, dass dies mit dem SGB V in Widerspruch stünde; andernfalls hätte sie den Bescheid vor den SG überprüfen lassen können. Im Gegenteil trägt sie ausdrücklich vor, dass die von ihr begehrten ergänzenden Behandlungen bisher keinen Eingang in die vom Gemeinsamen Bundesausschuss zur Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden festgelegten Richtlinien gefunden haben. Dass dies willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen unterblieben sei, macht sie nicht geltend.
[18] Somit kommt eine Erhöhung des pfändungsfreien Betrages schon aus Rechtsgründen nicht in Betracht. Deshalb hat das LG auch zutreffend von der Einholung eines Gutachtens über die medizinische Indikation der fraglichen Behandlungsmaßnahmen abgesehen.
Fundstellen
Haufe-Index 2167296 |
NJW 2009, 2313 |
BGHR 2009, 957 |
EBE/BGH 2009, 178 |
JurBüro 2009, 606 |
DZWir 2009, 383 |
KKZ 2010, 222 |
MDR 2009, 951 |
MDR 2010, 493 |
NZI 2009, 623 |
NZS 2010, 91 |
Rpfleger 2009, 470 |
VuR 2009, 474 |
ZInsO 2009, 1072 |
FoVo 2009, 118 |
NJW-Spezial 2009, 454 |
StX 2009, 462 |
VE 2009, 158 |
ZVI 2009, 290 |
Rafa-Z 2009, 10 |