Entscheidungsstichwort (Thema)
Entscheidung des Großen Gemeinsamen Senats zu den Auswirkungen von Verzögerungszeiten bei der Fassung der schriftlichen Urteilsbegründung
Normenkette
VwGO § 108 Abs. 1 S. 1, § 117 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 4, § 138 Nr. 6; FGO § 119 Nr. 6; ZPO § 551 Nr. 7, § 552; RsprEinhG § 2 Abs. 2
Tenor
Ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil ist im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.
Gründe
I.
Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens streiten darüber, ob die im Oktober 1986 erteilte Zweite Teilbetriebsgenehmigung für das Kernkraftwerk B. rechtmäßig ist. Das Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein hat die vom Kläger erhobene Anfechtungsklage nach mündlicher Verhandlung am 13. und 14. Juni 1989 mit am 28. Juni 1989 verkündetem Urteil als unbegründet abgewiesen. Das Urteil ist vollständig abgefaßt und von allen Richtern unterschrieben am 11. Januar 1990 der Geschäftsstelle übergeben worden.
Der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts möchte das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein zurückverweisen. Er ist der Meinung, daß das Urteil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen ist, weil es erst mehr als fünf Monate nach seiner Verkündung vollständig abgefaßt und von allen Richtern unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden ist; nach Ablauf von fünf Monaten sei weder eine Übereinstimmung zwischen den tatsächlichen und den später niedergelegten Entscheidungsgründen noch deren Beurkundungsfunktion mit hinreichender Sicherheit gewährleistet. Da sich der 7. Senat an der beabsichtigten Entscheidung durch die Rechtsprechung anderer Revisionssenate des Bundesverwaltungsgerichts gehindert sah, hat er am 23. Mai 1991 beschlossen, dem Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts die Rechtsfrage zur Entscheidung vorzulegen, ob ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.
Der Große Senat möchte die Vorlagefrage bejahen. An einer solchen Entscheidung sieht er sich jedoch gehindert, weil er damit von der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes abweichen würde. Der Große Senat hat darauf hingewiesen, daß der Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht in ihrer Rechtsprechung zu den dem § 138 Nr. 6 VwGO entsprechenden Vorschriften des § 119 Nr. 6 FGO und des in der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit Anwendung findenden §§ 551 Nr. 7 ZPO im wesentlichen darin übereinstimmten, daß mit der Revision anfechtbare Urteile, deren Gründe erst nach der Urteilsverkündung schriftlich niedergelegt würden, dann als nicht mit Gründen versehen zu werten seien, wenn zwischen der Verkündung des Urteils und der Absetzung seiner Gründe bzw. der Übergabe des nachträglich vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle ein Zeitraum von einem Jahr und mehr liege (BFHE 151, 328 (einen Fall der Zustellung an Verkündungs Statt betreffend); SAGE 38, 55 ≪56 ff.≫; BAG, Urteil vom 11. November 1986 - 3 AZR 228/86 - ≪BB 1987, 1394/1395≫; BSG, Urteil vom 22. Mai 1984 - 10 RKg 3/83 - ≪SozR 1750 § 551 ZPO Nr. 12≫). Bei kürzeren Verzögerungszeiten hänge die Annahme eines nicht begründeten Urteils dagegen nach dieser Rechtsprechung entweder - so die Judikatur des Bundesfinanzhofs und wohl auch des Bundesarbeitsgerichts - vom Vorliegen neben den Zeitablauf tretender besonderer, eine solche Annahme ausschlaggebend stützender Umstände (vgl. BFHE 151, 328 ≪330≫; BFH, Urteil vom 22. August 1989 - VIII R 215/85 - ≪BFH/NV 1990, 210≫; BAGE 44, 323 ≪328 f.≫; offengelassen jedoch in BAG, Urteil vom 9. März 1983 - 4 AZR 350/81 - ≪DB 1984, 1836≫) oder - so die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - von der Feststellung im Einzelfall ab, daß das Urteil infolge der Verzögerung die Verhandlungs- und Beratungsergebnisse nicht zutreffend wiedergebe Urteil vom 22. Mai 1984 (a.a.O.≫). Der Bundesgerichtshof schließlich habe zu § 41, Abs. 3 Nr. 5 des Patentgesetzes - PatG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 1968 (BGBl. I S. 1) - jetzt § 100 Abs. 3 Nr. 5 PatG in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1980 (BGBl. I S. 1) - entschieden, daß ein mit Gründen versehener Beschluß des Bundespatentgerichts nicht schon deshalb wegen fehlender Begründung im Sinne der vorbezeichneten Regelung anfechtbar sei, weil die schriftliche Begründung erst längere Zeit - im damals zu beurteilenden Verfahren gut neuneinhalb Monate - nach der Verkündung zur Geschäftsstelle gelangt sei (Beschluß vom 7. Januar 1970 - I ZB 6/68 - ≪NJW 1970, 611≫).
Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit, sich zur Sache zu äußern. Sie haben auf eine mündliche Verhandlung vor dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes übereinstimmend verzichtet.
II.
1.
Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist in der sich aus dem Rubrum ergebenden Zusammensetzung zur Beantwortung der Vorlagefrage zuständig. Im vorliegenden Falle wirken neben den Präsidenten der obersten Bundesgerichte (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 RsprEinhG) und zwei Richtern des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts (§ 4 Abs. 2 RsprEinhG) zwei Richter des 1. Senats des Bundesarbeitsgerichts mit. In der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats (vgl. Beschluß vom 6. Februar 1973 - Gms-OGB 1/72 - AP Nr. 1 § 4 RsprEinhG = NJW 1973, 1273 ≪1274≫ sowie Beschluß vom 30. April 1979 - GmS-OGB 1/78 - NJW 1980, 172) ist bereits entschieden, daß dann, wenn der anrufende Senat in einer Rechtsfrage von Entscheidungen mehrerer oberster Gerichtshöfe des Bundes abweichen will, außer dem anrufenden Senat nur der Senat beteiligt ist, der von allen divergierenden Senaten der im Vorlagebeschluß genannten obersten Gerichtshöfe des Bundes die Rechtsfrage als letzter entschieden hat. Maßgebend ist insoweit freilich nicht die letzte im Vorlagebeschluß zitierte, sondern die dem Vorlagebeschluß als letzte zeitlich vorangehende divergierende Entscheidung (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 9. Oktober 1971 - GmS-OGB 3/70 - in BFHE 105, 101 ≪104≫). Im Vorlagebeschluß werden Senate aller obersten Gerichtshöfe des Bundes als divergierend bezeichnet; eine solche Divergenz besteht jedoch mit dem Bundesfinanzhof nicht mehr, nachdem im Verfahren nach § 12 RsprEinhG die in Betracht kommenden Senate des Bundesfinanzhofes erklärt haben, sie schlössen sich der Rechtsauffassung des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts an. Von den verbleibenden Senaten der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts vor Erlaß des Vorlagebeschlusses zeitlich zuletzt in einer vom Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts abweichenden Weise entschieden; er hat mit Urteil vom 7. April 1992 - 1 AZR 322/91 - dahin erkannt, daß ein Urteil, das nicht innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefaßt und von den beteiligten Richtern unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangt ist, gleichwohl rechtlich Bestand haben könne. Erst dann, wenn zwischen Verkündung und Zustellung mehr als ein Jahr liege, sei eine Entscheidung nicht mehr mit Gründen versehen.
2.
Die verbleibenden Divergenzen zwischen dem Beschluß des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts und den darin genannten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, des Bundessozialgerichts und des Bundesgerichtshofes betreffen "dieselbe Rechtsfrage" im Sinne des § 2 Abs. 1 RsprEinhG. Um "dieselbe Rechtsfrage" im Sinne dieser Vorschrift kann es sich auch dann handeln, wenn im wesentlichen gleiche Regelungen in unterschiedlichen Gesetzen auszulegen sind (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 6. Februar 1973 - GmS-OGB 1/72 - a.a.O.). So liegt es hier.
Der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat seine Entscheidung auf die §§ 108 Abs. 1 Satz 2, 117 Abs. 4 und 138 Nr. 6 VwGO gestützt. Im wesentlichen gleichlautende Vorschriften enthalten das arbeitsgerichtliche Verfahren (§ 46 Abs. 2 Satz 1 und § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG in Verbindung mit §§ 495, 523, 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO, §§ 60 Abs. 4 Satz 4, 69 ArbGG, § 551 Nr. 7 ZPO in Verbindung mit § 72 Abs. 5 ArbGG), das sozialgerichtliche Verfahren (§§ 128, 134 SGG, § 551 Nr. 7 ZPO in Verbindung mit § 202 SGG) und das patentgerichtliche Verfahren (§ 93 Abs. 1 Nr. 2, § 315 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 99 Abs. 1 und § 100 Abs. 3 Nr. 5 PatG). Die genannten Vorschriften der jeweiligen Prozeßordnungen stimmen nicht nur in ihrem Wortlaut im wesentlichen überein, sondern sind auch in derselben Weise aufeinander bezogen und damit nach denselben Prinzipien auszulegen. Es geht damit jeweils um dieselbe Rechtsfrage.
3.
Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes beantwortet die ihm vorgelegte Frage dahin, daß ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.
Nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind in dem Urteil des Gerichts die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Dieser Verpflichtung ist nur dann genügt, wenn die Entscheidungsgründe, die in das gemäß § 117 Abs. 1 Satz 2 VwGO schriftlich abzufassende und von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnende Urteil aufgenommen worden sind (§ 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO), mit den Gründen übereinstimmen, die nach dem Ergebnis der auf die mündliche Verhandlung folgenden Urteilsberatung für die richterliche Überzeugung und für die von dieser getragenen Entscheidung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) maßgeblich waren. Damit von einer solchen Übereinstimmung ausgegangen werden kann, ist es notwendig, daß zwischen der Beratung und Verkündung eines noch nicht vollständig abgefaßten Urteils und der Niederlegung, Unterzeichnung und Übergabe des ganzen Urteils an die Geschäftsstelle eine nicht zu große Zeitspanne liegt.
§ 117 Abs. 4 VwGO trägt dem in der Weise Rechnung, daß er die Richter, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, verpflichtet, ein bei der Verkündung im angeführten Sinne unvollständiges Urteil vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle zu übergeben (Satz 1). Kann dies "ausnahmsweise" nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle zu übergeben; Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung sind " alsbald " nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übergeben (Satz 2).
4.
§ 117 Abs. 4 VwGO stellt sich nicht als eine Ordnungsvorschrift dar, die den Richtern eine mehr oder weniger unverbindliche Frist für die Übergabe des vollständig abgefaßten und unterschriebenen Urteils läßt; vielmehr handelt es sich um eine Verfahrensvorschrift mit zwingendem Inhalt. Das gilt für die Zwei-Wochen-Frist - die freilich mit einem Ausnahmevorbehalt versehen ist - ebenso wie für die Verpflichtung, das vollständige und unterschriebene Urteil, falls die Zwei-Wochen-Frist ausnahmsweise nicht eingehalten werden kann, "alsbald" der Geschäftsstelle zu übergeben. Gerade im Hinblick darauf, daß § 117 Abs. 4 VwGO eine Verfahrensvorschrift ist, ist es auch geboten, den Begriff "alsbald" dergestalt zu konkretisieren, daß für Richter und Prozeßbeteiligte gleichermaßen deutlich ist, bis zu welchem Zeitpunkt ein Urteil spätestens der Geschäftsstelle übergeben sein muß.
Das Merkmal "alsbald" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der zunächst, wie auch die Bedeutung im Sinne von "sogleich", "kurz danach" im allgemeinen Sprachgebrauch (Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2. Auflage 1989, Seite 95) zeigt, keine feste Zeitgröße, sondern eine eher offene Zeitangabe enthält. Ihre nähere Festlegung ist im Blick auf die Beurkundungsfunktion der Urteilsgründe vorzunehmen, die § 117 Abs. 4 VwGO in Satz 2 2. Halbsatz mit der zeitlichen Begrenzung "alsbald" gewährleisten will. Die Gefahr, daß diese Funktion wegen des abnehmenden richterlichen Erinnerungsvermögens im Einzelfall nicht mehr gewahrt ist, wird in dem Maße größer, in dem der Zeitabstand zwischen mündlicher Verhandlung und Urteilsberatung auf der einen und Abfassung der Urteilsgründe auf der anderen Seite zunimmt. Deshalb ist es geboten, den Begriff "alsbald" so zu konkretisieren, daß er einerseits der Rechtsprechung den aus der Natur eines unbestimmten Rechtsbegriffs folgenden Spielraum beläßt, andererseits aber am Ende eine möglichst klare und für alle Beteiligten ohne weiteres erkennbare Grenzlinie markiert. Hierfür bietet sich, wie der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes im Anschluß an den Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts meint, allein die Fünf-Monats-Frist des § 552 ZPO an. Zwar ist diese Vorschrift (und ebenso § 516 ZPO) im Verwaltungsstreitverfahren nicht gemäß § 173 VwGO entsprechend anwendbar. Dies hindert jedoch nicht, zur Konkretisierung des Merkmals "alsbald" auf die in den §§ 516, 552 ZPO zum Ausdruck kommende gesetzliche Wertung zurückzugreifen und - wie im Zivilprozeß - "zur Vermeidung von Fehlerinnerung" und damit "aus Gründen der Rechtssicherheit" die Zeit für die nachträgliche Abfassung, Unterzeichnung und Übergabe des bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßten Urteils auf längstens fünf Monate zu begrenzen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 29. Oktober 1986 - IVa ZR 119/85 - NJW 1987, 2446 f.; Urteil vom 24. Oktober 1990 - XII ZR 101/89 - AP Nr. 18 zu § 551 ZPO m.w.N.).
Der Gemeinsame Senat hat erwogen, ob etwa die von der Rechtsprechung bisher favorisierte Jahresfrist als äußerste Grenze für die Übergabe des vollständigen Urteils an die Geschäftsstelle geeignet sei. Immerhin markieren verschiedene Prozeßordnungen die Jahresfrist als Grenze für die Einlegung eines Rechtsmittels, nämlich für den Fall, daß die Prozeßbeteiligten über das ihnen zustehende Rechtsmittel nicht (oder nicht in einer dem Gesetz genügenden Weise) belehrt worden sind. Ist die Rechtsmittelbelehrung nicht oder unrichtig erteilt worden, so ist die Einlegung eines Rechtsmittels nur innerhalb eines Jahres nach Zustellung der Entscheidung zulässig (vgl. z.B. § 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG, § 66 Abs. 2 SGG, § 55 Abs. 2 FGO, § 58 Abs. 2 VwGO). Gegen die Annahme, die äußerste zeitliche Grenze, die dem Begriff "alsbald" noch gerecht werde, lasse sich den genannten Vorschriften entnehmen, spricht jedoch folgendes: Der Fall, daß ein vollständig abgefaßtes Urteil den Parteien ohne Rechtsmittelbelehrung oder mit unrichtiger Rechtsmittelbelehrung zugestellt wird, läßt sich nicht mit dem Fall des Fehlens von Tatbestand und Entscheidungsgründen gleichsetzen. Ein vollständig abgefaßtes und unterzeichnetes Urteil sichert die Beurkundungsfunktion auch dann, wenn die Rechtsmittelbelehrung fehlt oder wenn diese fehlerhaft ist. Insbesondere im Hinblick auf das ausreichende Erinnerungsvermögen der beteiligten Richter gibt die Zustellung ohne oder mit unrichtiger Rechtsmittelbelehrung nichts her. Demgegenüber ist dem § 552 ZPO eine Wertung des Gesetzgebers zu entnehmen, bis wann ein Rechtsmittel eingelegt werden kann, wenn die unterlegene Partei eine Entscheidung nicht in Händen hat.
Hinzu kommt, daß es sich verbietet, den Begriff "alsbald" losgelöst vom übrigen Inhalt des § 117 Abs. 4 VwGO zu interpretieren. Die Vorschrift geht davon aus, daß ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht abgesetzt war, (generell) innerhalb von zwei Wochen vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle zu übergeben ist. Damit will der Gesetzgeber die Richter erkennbar anhalten, nach Verkündung das Urteil schnell abzufassen. Von dieser auf eine Zwei-Wochen-Frist abstellenden Grundregel macht der Gesetzgeber eine "Ausnahme": Nur wenn die Zwei-Wochen-Frist ausnahmsweise nicht eingehalten werden kann, ist es zulässig, das vollständige Urteil der Geschäftsstelle "alsbald" zu übergeben. Wollte man diese Ausnahme dahin interpretieren, daß auch ein bis zu einem Jahr nach Verkündung der Geschäftsstelle übergebenes Urteil gleichwohl noch als "alsbaldige" Übergabe angesehen werden kann, so stände dies in einem erkennbaren Mißverhältnis zur Grundregel. Dem Gesetzgeber kann nicht unterstellt werden, daß er die Grundregel in einer solchen Weise hat aushöhlen wollen.
Dem zur Auslegung des Begriffs "alsbald" sich anbietenden Rückgriff auf die Fünf-Monats-Frist des § 552 ZPO steht auch nicht entgegen, daß der Gesetzgeber diese Vorschrift durch die Vereinfachungsnovelle vom 3. Dezember 1976 (BGBl. I S. 3281) dahin geändert hat, daß die Revisionsfrist ausnahmslos mit der Zustellung des in vollständiger Form abgesetzten Urteils zu laufen begann und daß erst mit Gesetz vom 13. Juni 1980 (BGBl. I S. 677) die Ausschlußfrist von fünf Monaten wiedereingeführt worden ist; denn die kurzfristige Zwischenlösung beruhte auf der Annahme des Gesetzgebers, der Wegfall der Parteizustellung bzw. der Obergang zur Amtszustellung werde unangemessene Verzögerungen der Zustellung verhindern. Nachdem sich zeigte, daß trotz der - in den anderen Prozeßordnungen ohnehin vorgeschriebenen - Amtszustellung erhebliche Fristüberschreitungen nicht auszuschließen waren, ist der Gesetzgeber zur Fünf-Monats-Frist zurückgekehrt. Daß er damit sowohl das Erinnerungsvermögen der Richter berücksichtigt hat (vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 1986 - IVa ZR 119/85 - a.a.O.) als auch im Interesse der Prozeßbeteiligten das Verfahren nach Urteilsverkündung möglichst beschleunigen wollte, entspricht dem Sinn des § 552 ZPO.
Der Gemeinsame Senat hat noch erwogen, ob aus der für die Tatbestandsberichtigung geltenden Drei-Monats-Frist des § 320 Abs. 2 Satz 3 ZPO Erkenntnisse für die Auslegung des Begriffs "alsbald" zu gewinnen sind. Er sieht jedoch keine Möglichkeit, den Begriff "alsbald" dahin zu interpretieren, daß damit eine Frist von drei Monaten gemeint sei, innerhalb der das vollständige und unterzeichnete Urteil der Geschäftsstelle zu übergeben ist; denn der Fall des Fehlens von Tatbestand und Entscheidungsgründen ist nicht vergleichbar mit dem Fall, daß eine Partei eine Berichtigung des Tatbestands begehrt. Vielmehr kommt eine Tatbestandsberichtigung in der Regel gerade dann in Betracht, wenn für die Prozeßbeteiligten erkennbar ist, welche tatsächlichen Feststellungen das Gericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Die Frist, innerhalb der das vollständige Urteil spätestens der Geschäftsstelle zu übergeben ist, kann angesichts dieses unterschiedlichen Regelungsgehalts der Vorschriften nicht in Anlehnung an § 320 Abs. 2 ZPO bemessen werden.
§ 320 Abs. 2 ZPO unterstützt jedoch die Annahme, die Frist des § 552 ZPO könne der Interpretation des § 117 Abs. 4 VwGO dienen: Auch § 320 Abs. 2 ZPO hebt u.a. auf das Erinnerungsvermögen der Richter ab. Er bemißt die Frist für den Antrag auf Tatbestandsberichtigung so, daß davon ausgegangen werden kann, daß sich der Richter noch hinreichend an Einzelheiten des Sachverhalts erinnern kann. Bewertet der Gesetzgeber hinsichtlich des Tatbestands das Erinnerungsvermögen in dieser Weise, so mag es sich zwar rechtfertigen, dem Richter für Tatbestand und Entscheidungsgründe eine darüber hinausgehende äußerste Frist zuzubilligen, zumal die rechtliche Argumentation ggf. leichter erinnernd zu reproduzieren ist, als Details eines Tatbestands. Zumindest aber streitet § 320 Abs. 2 ZPO dagegen, das Erinnerungsvermögen der Richter so zu bewerten, daß die vollständige Absetzung eines Urteils und dessen Übergabe an die Geschäftsstelle bis zu einem Jahr hinausgezögert werden dürfe: Wenn ebenso wie § 320 Abs. 2 Satz 3 ZPO auch § 552 ZPO u.a. auf das Erinnerungsvermögen der Richter abhebt, spricht die für Tatbestandsberichtigungen geltende Drei-Monats-Frist zugleich dafür, daß der Gesetzgeber mit der Fünf-Monats-Frist eine äußerste Grenze ziehen wollte, bis zu der das vollständige und von den Richtern unterzeichnete Urteil der Geschäftsstelle zu übergeben ist (in diesem Sinne bereits Urteil des BVerwG vom 5. Oktober 1990 - BVerwG 4 CB 18.90 - Buchholz 310 § 138 Nr. 6 VwGO Nr. 21 = NJW 1991, 313).
Die Auslegung des Begriffs "alsbald" in § 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO mittels Rückgriffs auf die Fünf-Monats-Frist des § 552 ZPO dient somit der Sicherung der Beurkundungsfunktion, die ihrerseits voraussetzt, daß das Urteil auf dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und gleichermaßen auf dem Beratungsergebnis beruht. Das wiederum bedingt, daß die Erinnerung der Richter noch hinreichend verläßlich ist. Es entspricht jedoch allgemeiner Lebenserfahrung, daß die Erinnerung mit fortschreitender Zeit zunehmend verblaßt (vgl. - wenn auch zum Zeugenbeweis - z.B. Egon Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 4. Aufl. 1987, Rn. 730 ff., ferner Rüßmann in: Alternativ-Kommentar zur ZPO, vor § 373 Rn. 27 ff. m.w.N.). So kann z.B. davon ausgegangen werden, daß nach einer Frist von über fünf Monaten das Beratungsergebnis - aufbauend auf dem vorhandenen Fachwissen - eher rekonstruiert als reproduziert wird. Gerade deswegen teilt der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes die Rechtsmeinung des Bundesgerichtshofes, der entschieden hat, § 552 ZPO ordne "aus Gründen der Rechtssicherheit" an, bis zu welchem Zeitpunkt "zur Vermeidung von Fehlerinnerung" das vollständige Urteil vorliegen müsse (BGH, Urteil vom 29. Oktober 1986 - IVa ZR 119/85 - a.a.O.). Das gilt für alle Gerichtsbarkeiten: Im Hinblick auf das Erinnerungsvermögen der Richter lassen sich Unterschiede zwischen den verschiedenen Gerichtsbarkeiten nicht ausmachen. Es ist auch nicht erkennbar, daß vom Schwierigkeitsgrad der Materie oder vom Umfang der Prozesse her ein Urteil nicht innerhalb von fünf Monaten mit Tatbestand und Entscheidungsgründen versehen, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben werden könnte. Gewisse in Einzelfällen denkbare Engpässe sind von den Gerichten durch organisatorische Maßnahmen in gleicher Weise zu bewältigen, wie Anwälte und Behörden die mit der Einlegung und Begründung von Rechtsmitteln verbundenen Zeitprobleme - übrigens zum Teil in wesentlich kürzeren Fristen - bewältigen müssen, selbst wenn es sich um äußerst umfangreiche oder rechtlich schwierige Verfahren handelt. Schließlich meint der Gemeinsame Senat, es sei insbesondere der unterlegenen und an der Einlegung eines Rechtsmittels interessierten Partei nicht zuzumuten, nach der Verkündung eines Urteils bis zu einem Jahr warten zu müssen, um - über eine etwaige mündliche Urteilsbegründung hinaus - die detaillierten Gründe zu erfahren, die zu ihrem Unterliegen geführt haben. Auch diese Gesichtspunkte streiten zusätzlich dafür, den Begriff "alsbald" in § 117 Abs. 4 VwGO unter Rückgriff auf die in § 552 ZPO verankerte Fünf-Monats-Frist auszulegen. Die Gerichte haben deswegen - freilich nur auf eine entsprechende Rüge hin - im Falle der Überschreitung der Fünf-Monats-Frist ein Urteil, das wegen dieser Fristüberschreitung die Beurkundungsfunktion nicht mehr erfüllt und deswegen als "nicht mit Gründen versehen" gilt, aufzuheben.
Unterschriften
Klein
Kissel
Reiter
Odersky
Franßen
Schlichter
Bermel
Weller
Rost
Fundstellen