Gründe
I Die Strafkammer hat festgestellt:
1. Der 1974 geborene Angeklagte, ein seit 1976 in Deutschland lebender italienischer Staatsangehöriger, hielt sich in der Nacht vom 4. auf 5. Juli 1997 in einer Diskothek auf, wo er gegen 3.00 Uhr in angetrunkenem Zustand (Blutalkoholkonzentration gegen 3.30 Uhr maximal 2,26 o/oo) aus unbekannter Ursache mit einem unbekannt gebliebenen anderen Diskothekenbesucher in Streit geriet; deshalb wurde er vom Personal der Diskothek "vor die Tür gesetzt". Er wartete vor dem Eingang, um seinem Kontrahenten "eine weitere Abreibung zu verpassen". Statt des Kontrahenten verließ der Nebenkläger H. gegen 3.30 Uhr die Diskothek. H. ist Vater des Kindes der Schwester des Angeklagten. Zwischen ihm und dem Angeklagten besteht ein "äußerst ungutes Verhältnis", seit H. einen Streit zwischen dem Angeklagten und dessen Lebensgefährtin schlichten wollte, worauf der Angeklagte auf H. mit dem Messer losging. Im Angeklagten "stieg sofort der alte Grimm gegen jenen ... hoch", als er H. aus der Diskothek kommen sah. Nach einem heftigen Wortwechsel stürmte er auf H. los. Obwohl H. den Angeklagten mit Tränengasspray besprühte, das er sich schon früher aus Angst vor dem Angeklagten beschafft hatte, führte der Angeklagte "gezielt und mit großer Wucht mit einem Klappmesser drei Stiche gegen den Oberkörper H. S.
Andere Diskothekenbesucher, darunter der Zeuge ein Neffe des Angeklagten zogen den Angeklagten zurück. Hierüber "ergrimmte der Angeklagte derart", daß er sich nunmehr gegen C. wandte und ihn zweimal mit dem Messer in den Bereich der Hüfte stach.
Nunmehr trennte der dem Angeklagten bis dahin unbekannte Nebenkläger L. den Angeklagten von C., worauf der Angeklagte ihn (L.) mit dem Messer "kräftig in den Bereich des Unterbauchs" stieß. L. flüchtete daraufhin, worauf ihn der Angeklagte verfolgte und ihm zwei weitere Stiche in den Bereich "des linken Oberarmes und der linken Flanke" versetzte.
Bei sämtlichen Stichen gegen H. und L. nahm der Angeklagte den Tod der Opfer billigend in Kauf.
Zusammenfassend stellt die Strafkammer fest, daß der Angeklagte "wußte, daß er das Messer H. mehrmals und L. mindestens einmal in den Leib gestoßen und diese hierdurch möglicherweise tödlich verletzt hatte".
H. konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden, auch L. mußte wegen des ersten, ihm in die Leibeshöhle gedrungenen Stiches sofort operiert werden, die Verletzungen von C. konnten ambulant versorgt werden.
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat die Strafkammer den Angeklagten wegen versuchten Totschlags (zum Nachteil von H. und L.) in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Von einer Unterbringung gemäß § 63 StGB wurde abgesehen.
3. Gegen dieses Urteil haben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Angeklagten Revision eingelegt, wobei die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat. Beide Rechtsmittel sind auf die Sachrüge gestützt.
Das Rechtsmittel des Angeklagten bleibt erfolglos, die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
II. Die Revision des Angeklagten
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung des Angeklagten hat keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben.
Der näheren Darlegung bedarf nur folgendes: Die Strafkammer hat festgestellt, daß der Angeklagte sowohl bei dem Stich in den "Unterbauch" des Nebenklägers L. als auch bei dem Stich in dessen "Flanke" die Möglichkeit des Todes vorausgesehen hat. Ebenso ist festgestellt, daß der Angeklagte "wußte, daß er das Messer ... L. mindestens einmal in den Leib gestoßen ... und (ihn) möglicherweise tödlich verletzt hatte".
Der Senat hat daher geprüft, ob insoweit ein Widerspruch in subjektiver Hinsicht vorliegt. Die Feststellung je eines mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Stiches "in" den "Unterbauch" und "in" die "Flanke" legt die Annahme von zwei Stichen "in" den "Leib" nahe.
An anderer Stelle des Urteils ist jedoch bei der Schilderung der Verletzungsfolgen dargelegt, daß nur der Stich in den "Unterbauch" in die "Leibeshöhle" eindrang, während dies bei dem Stich in die "Flanke" nicht der Fall war. Dementsprechend führte nur der Stich in den "Unterhauch", der das Bauchfell verletzt hatte, zur Notwendigkeit einer Operation, während dies bei dem Stich in die "Planke" nicht der Fall war; diese brauchte nur durch eine Wundnaht versorgt zu werden.
Unter diesen Umständen ergeben die Urteilsfeststellungen insgesamt mit noch hinlänglicher Klarheit, daß der Angeklagte zwar bei beiden Stichen Tötungsvorsatz hatte, aber erkannt hat, daß nur der Stich in den "Unterbauch" so tief in das Körperinnere eingedrungen war, daß er möglicherweise eine Todesgefahr auslösen konnte, während dies bei dem Stich in die "Flanke" nicht der Fall war.
Bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten zu berücksichtigen, daß er - auch - L. mehrere Stiche mit Tötungsvorsatz versetzt hatte, war die Strafkammer dadurch nicht gehindert.
III. Die Revision der Staatsanwaltschaft
Die Strafkammer hat einen minder schweren Fall i.S.d. 213 StGB angenommen. Dies ist darauf gestützt, daß sowohl der "vertypte Milderungsgrund" des Versuchs (§ 23 StGB) als auch der der erheblich verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) vorliege. Keiner dieser Gesichtspunkte könne für sich allein die Annahme von § 213 StGB rechtfertigen, wohl aber ihre Gesamtschau, wobei auch noch weitere strafmildernde Gesichtspunkte zu berücksichtigen seien. Neben seiner unreifen Persönlichkeit und einer nachträglichen Entschuldigung gegenüber L. falle zu seinen Gunsten ins Gewicht, "daß sein Fehlverhalten aller Voraussicht nach seine Ausweisung aus der Bundesrepublik nach sich ziehen wird".
Allerdings lägen auch gewichtige straferschwerende Gesichtspunkte vor. So sei der (u.a. wegen wiederholter Trunkenheitsfahrten, vorsätzlicher Körperverletzung und Einfuhr von Betäubungsmitteln) vorbestrafte und zur Tatzeit unter zweifacher Bewährung stehende Angeklagte "äußerst brutal und rabiat gleich gegen zwei Personen" vorgegangen.
Insgesamt sei die Anwendung selbst des zweifach gemäß § 49 Abs. 1 StGB geschilderten Strafrahmens des § 212 StGB nicht mehr schuldangemessen.
1. Die die Anwendung von § 213 StGB wesentlich mittragende Annahme erheblich verminderter Schuld im Sinne von § 21 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Hierzu ist folgendes festgestellt:
Nach der Auffassung des Sachverständigen liegt beim Angeklagten eine "Dysthymia", eine chronisch verlaufende depressive Psychose, vor. Diese falle unter die Kategorie einer schweren anderen seelischen Abartigkeit i.S.d. § 20 StGB, habe allerdings keinen Schweregrad, der zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit führe. Jedoch habe sich der Angeklagte wegen vorherigen Alkoholgenusses - die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten betrug zur Tatzeit maximal 2,26 o/oo - in einem mittelschweren Rausch befunden, zumal der Angeklagte in der Diskothek auch mehrere "joints" mit nicht feststellbarem Wirkungsgrad geraucht habe. Auch der Rausch des erheblich alkoholgewöhnten (und auch wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz vorbestraften) Angeklagten habe keinen zu einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit führenden Schweregrad erreicht. Beide psychischen Störungen hätten jedoch "in ihrer Kombination" die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Tat mit Sicherheit in erheblichem Umfang eingeschränkt, keinesfalls aber aufgehoben.
Diesen Ausführungen hat sich die Strafkammer angeschlossen.
a) Hiergegen könnten schon deshalb Bedenken bestehen, weil die Strafkammer nicht von einem zutreffenden Prüfungsansatz ausgeht: Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs handelt es sich bei der Frage, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit "erheblich" im Sinne des § 21 StGB ist, um eine Rechtsfrage, die der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen zu beantworten hat. Dabei fließen normative Erwägungen ein. Die rechtliche Erheblichkeit der Verminderung des Hemmungsvermögens hängt entscheidend von den Ansprüchen ab, die die Rechtsordnung an das Verhalten des (auch) in diesem Grade Berauschten zu stellen hat (BGHSt 43, 66, 77 m.w.Nachw.; vgl. auch Maatz StV 1998, 279, 280). Dies zu beurteilen und zu entscheiden ist Sache des Richters, der allenfalls zur Beurteilung der Vorfrage nach den medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen sachverständiger Hilfe bedarf, sofern er - wie hier - diese Frage nicht aufgrund seines medizinischen Allgemeinwissens beurteilen kann (vgl. hierzu Meyer-Goßner StPO 43. Aufl. § 244 Rdn. 74a m.w.Nachw.).
b) Selbst wenn aber von einer Erheblichkeit i.S.d. 21 StGB auszugehen wäre, hätte die Strafkammer prüfen müssen, ob dem Angeklagten gleichwohl eine Strafrahmenmilderung gemäß §§ 21, 49 StGB zu versagen ist. Dies gilt hier um so mehr, als selbst eine derartige Strafrahmenmilderung nach Auffassung der Strafkammer keinen schuldangemessenen Strafrahmen eröffnen würde und daher der Strafrahmen des § 213 StGB angewendet wurde (vgl. Maatz a.a.O. 284).
Anhaltspunkte, die eine derartige Prüfung geboten hatten, liegen vor. Die Strafkammer hat festgestellt, daß der Angeklagte, der "des öfteren Alkohol trinkt", seine Neigung kennt, in alkoholisiertem Zustand "aus nichtigen, teilweise auch von ihm selbst provozierten Anlässen heraus, gewalttätig zu werden". Belegt ist dies damit, daß er schon früher H. mit dem Messer angreifen wollte (vgl. oben I 1) und er dabei "erheblich angetrunken" war. Außerdem wurde der Angeklagte (neben seinen Vorstrafen) erst wenige Monate vor der hier abgeurteilten Tat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Dieses Urteil ist zwar noch nicht rechtskräftig, ihm liegt aber nach den eigenen Angaben des Angeklagten zugrunde, daß er "in angetrunkenem Zustand einen anderen mit dem Messer am Bauch verletzt hat".
c) Bei selbstverschuldeter Trunkenheit ist jedenfalls bei derartigen Vorerfahrungen eine Prüfung unerläßlich, ob die darauf beruhende erheblich verminderte Schuld dem Täter zugute kommen soll.
Beruht die erheblich verminderte Schuld auf einer für den Betroffenen schicksalhaft auftretenden "krankhaften" seelischen Störung, so ist diesem Umstand jedenfalls in aller Regel durch eine Strafmilderung Rechnung zu tragen (BGHSt a.a.O. 78).
Hier liegt die Besonderheit darin, daß - sollte letztlich von erheblich verminderter Schuldfähigkeit auszugehen sein (vgl. demgegenüber oben III 1a) - diese (nur) auf der Kombination der Dysthymia und des Alkoholkonsums beruht. Bei einer solchen Fallgestaltung ist entscheidend, inwieweit der Alkoholkonsum seinerseits auf die psychische Störung zurückzuführen ist. Nach den Urteilsgründen "neigt" der Angeklagte bei depressiven Einbrüchen und vor allem "bei auftretenden Konfliktsituationen persönlicher oder existenzbedrohender Natur" zu Alkoholkonsum.
aa) Weder ein solcher Einbruch noch eine solche Konfliktsituation sind indessen ausdrücklich festgestellt.
Allerdings hatte der Angeklagte - wie auch schon mehrfach bei früherer Gelegenheit - wenige Tage vor der Tat eine heftige Auseinandersetzung mit seiner Lebensgefährtin. Für den Tattag selbst, an dem er gearbeitet und am Nachmittag seine Schwester besucht hat, sind keinerlei Auffälligkeiten festgestellt worden. Alkohol hat er erst am Abend zu trinken begonnen, zunächst zu Hause und dann zusammen mit einem Bekannten in einer Gaststätte und zuletzt in erheblichen Mengen in der Diskothek. Als der die Tat letztlich auslösende Streit mit dem unbekannten Diskothekenbesucher (vgl. oben I 1) begann, war der Angeklagte bereits betrunken. Unter diesen Umständen bedurfte die Annahme krankheitsbedingten Alkoholkonsums eingehender Würdigung, an der es bisher fehlt.
bb) Selbst wenn ein solcher Zusammenhang zu bejahen wäre, würde die bisher allein getroffene Feststellung, daß der Angeklagte dann zu Alkoholkonsum "neigt", nicht für eine Strafmilderung genügen. Wie der Bundesgerichtshof bereits ausgesprochen hat, reicht allein die bloße Beeinträchtigung der Widerstandskräfte gegen Alkoholkonsum nicht aus, dessen Vorwerfbarkeit auszuschließen (BGH, Urteile vom 24. September 1991 - 1 StR 480/91 - und vom 16. Mai 1995 - 1 StR 117/95 -).
Der Senat hat im Zusammenhang mit drohenden "Entzugserscheinungen" ausgeführt, daß bei der Beurteilung der Frage, ob einem alkoholabhängigen Straftäter die konkrete Alkoholaufnahme trotz einschlägiger Vorerfahrungen vorzuwerfen ist, auch das Gewicht der drohenden Straftaten erkennbar in die Erwägungen einzubeziehen sei. Je schwerwiegender die Straftaten seien, mit deren Begehung ein alkoholabhängiger Täter rechnen muß, um so eher sei trotz seines Zustands die Vorwerfbarkeit des Alkoholkonsums zu bejahen (BGH, Urteil vom 16. Mai 1995 - 1 StR 117/95 -). Diese Grundsätze gelten auch für die Pflicht des Angeklagten, psychische Belastungen zu ertragen und der hierauf zurückgehenden Neigung zu Alkoholkonsum zu widerstehen, wenn er weiß, daß er in alkoholisiertem Zustand immer wieder andere mit einem Messer angreift.
2. Für die neue Verhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
a) Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer wird Gelegenheit haben, aggressives Verhalten des Angeklagten gegenüber C. in ihre Strafzumessungserwägungen einzubeziehen. Der ausdrückliche Hinweis auf "zwei" Geschädigte deutet darauf hin, daß dies bisher unterblieben ist.
b) Ausländerrechtliche Folgen einer Tat sind in der Regel keine bestimmenden Strafzumessungsgründe (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Lebensumstände 16, 17). Nur besondere Umstände können im Einzelfall eine andere Beurteilung rechtfertigen. Im übrigen können dann, wenn, wie hier, eine Ausweisung nicht zwingend vorgeschrieben ist (§ 2 Abs. 2 AuslG i.V.m. § 12 Abs. 4 AufenthG/EWG; zu den nur eingeschränkten Möglichkeiten einer Ausweisung von EG-Ausländern vgl. auch Schmülling/Walter StV 1998, 313, 314 m.w.Nachw.), besondere im Ausweisungsverfahren berücksichtigt werden (BGHR a.a.O. 17 m.w.Nachw.). Zu alledem hat sich die Strafkammer bei der strafmildernden Berücksichtigung der voraussichtlich drohenden Ausweisung nicht geäußert. Ebensowenig enthalten die Urteilsgründe Feststellungen, die hier eine besondere Berücksichtigung dieses Punktes auch ohne ausdrückliche Ausführungen nahelegen würden.
c) Das Ergebnis der Prüfung des Zusammenhangs zwischen Krankheit, Alkoholkonsum und dessen Vermeidbarkeit (vgl. oben III 1c) kann auch Auswirkungen auf die nunmehr erneut zu prüfende Anordnung einer Unterbringung gemäß § 63 StGB haben.
Alkoholsucht, die auf geistigen Defekten i.S.d. § 20 StGB beruht, kann bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen eine Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB begründen (vgl. hierzu insgesamt Tröndle, StGB 48. Aufl. § 63 Rdn. 2 b; Stree in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 63 Rdn. 12 jew. m.w.Nachw.). Nichts anderes gilt, wenn der Täter zwar sonst nicht krankhaft alkoholabhängig ist, er aber bei Ausbrüchen eines ständig vorhandenen geistigen Defekts eine hierauf zurückgehende Neigung zu Alkoholkonsum hat, der er aus eigenem Willen nicht widerstehen kann. Wäre dies zu bejahen, lägen die Voraussetzungen des § 63 StGB auch im übrigen vor. An der Gefährlichkeit des Angeklagten könnte angesichts seiner wiederholten Messerattacken kein Zweifel bestehen.
Fundstellen
Haufe-Index 2993551 |
NStZ 1999, 22 (Altvater) |
NStZ-RR 1999, 295 |
StV 1999, 309 |