Prof. Dr. Stefan Müller, Laura Peters
1.1 Bilanzierungsverstöße – Begriff und Abgrenzung
Rz. 1
Der Begriff "Bilanzierungsverstoß" soll im Folgenden sowohl für die Verletzung gesetzlich oder anderweitig normierter Bilanzierungsvorschriften (z. B. des Handels- und Steuerrechts, des Börsenrechts, der Rechnungslegungsstandards etc.) als auch für die Missachtung von Bilanzierungsregeln, die durch unbestimmte Rechtsbegriffe vorgegeben sind (wie z. B. durch die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, GoB), verwandt werden.
Rz. 2
Der Begriff "Bilanzierung" soll weit verstanden werden, also nicht auf die Erstellung der Bilanz beschränkt sein, sondern vielmehr auch die Gewinn- und Verlustrechnung, den Anhang und den Lagebericht (ggf. inkl. Nachhaltigkeitsberichterstattung) sowie sämtliche ergänzenden Rechenwerke umfassen. Die treffendere, aber bisher unübliche Bezeichnung wäre diesbezüglich eigentlich "Rechnungslegungsverstöße". In der Literatur finden sich häufig auch die Bezeichnungen "Bilanzdelikte" und "Bilanzkriminalität" oder "Bilanzfälschung" und "Bilanzmanipulation".
Rz. 3
Letztlich soll auch in zeitlicher Hinsicht eine umfassende Betrachtung der Rechnungslegung vorgenommen werden. Das Augenmerk wird nicht nur auf Verstöße bei der Aufstellung der einzelnen Rechenwerke, sondern auch auf die Phasen der Prüfung, Feststellung und Offenlegung derselben gerichtet. Nicht erst durch die aktuelle Ausgestaltung der Nachhaltigkeitsberichterstattung durch den ESRS 2 wird deutlich, dass der Rechnungslegungsprozess weit in die Organisation des Unternehmens hineinstrahlt. Somit sind auch die im Unternehmen verankerten (oder fehlenden) Systeme Teil der Betrachtung von Bilanzierungsverstößen. Bislang waren nur kapitalmarktorientierte Unternehmen verpflichtet, im Lagebericht zum Risikomanagementsystem und internen Kontrollsystem bezogen auf den Rechnungslegungsprozess zu berichten. Ab dem Geschäftsjahr 2025 müssen dies auch alle großen Kapitalgesellschaften und konzernrechnungslegungspflichtige Mutterunternehmen zumindest bezogen auf die Nachhaltigkeitsberichterstattung umsetzen. Allerdings war der Aufsichtsrat schon bislang für die Prüfung der Wirksamkeit dieser Systeme verantwortlich. Bilanzierungsverstöße reichen somit bis hin zu Organisationsversäumnissen von Unternehmen.
1.2 Arten von Bilanzierungsverstößen
Rz. 4
Bilanzierungsverstöße lassen sich zum einen nach dem Zeitpunkt ihrer Begehung klassifizieren:
Sie können bereits im Rahmen der Aufstellung des Abschlusses begangen werden. Dabei ist zwischen der
- unterlassenen Aufstellung, bei der wiederum die Fälle völligen Unterlassens von jenen abzugrenzen sind, bei denen die Aufstellung nicht innerhalb der vorgeschriebenen Fristen erfolgt, und
- der inhaltlich fehlerhaften Aufstellung zu differenzieren.
Als formelle Bilanzierungsverstöße werden hierbei jene bezeichnet, die Normen verletzen, die die Bilanzgliederung (z. B. § 266 HGB), den Bilanzausweis ("am rechten Ort"),, die Klarheit und Übersichtlichkeit der Bilanz und die Verbindlichkeit der Bilanz betreffen.
Materielle Bilanzierungsverstöße können bei unzulässigerweise aufgenommenen oder unberechtigterweise weggelassenen Bilanzansätzen ("dem Grunde nach") oder den Bewertungsvorschriften widersprechenden Über- oder Unterbewertungen ("der Höhe nach") vorliegen.
- Umfasst sind des Weiteren Verstöße gegen die Vorschriften zur Prüfung des Abschlusses.
- Bilanzierungsverstöße können außerdem die Feststellung des Abschlusses betreffen.
- Schließlich werden Bilanzierungsverstöße auch bei der Offenlegung des Abschlusses begangen.
Rz. 5
Zur weiteren Einteilung von Bilanzierungsverstößen bieten sich zum anderen folgende Kriterien an:
- Grad des Verschuldens (vorsätzliche oder fahrlässige – leicht oder grob fahrlässige [leichtfertige] – Begehung),
- Art der Sanktion (Freiheits- oder Geldstrafe, Geldbuße, Zwangsgeld, Ordnungsgeld, Schadenersatz, Versagung des Bestätigungsvermerks etc.),
- Zugehörigkeit der verletzten Norm zu einem bestimmten Rechtsgebiet (Handelsrecht – im Einzelnen z. B. Aktienrecht, Konzernrecht etc. – Steuerrecht, Strafrecht, Börsenrecht etc.),
- Unterscheidung zwischen "Bilanzfälschung" und "Bilanzverschleierung" (Erstere verstößt gegen das Prinzip der Bilanzwahrheit, Letztere gegen das Gebot der Bilanzklarheit; wobei die Abgrenzung jedoch nicht einheitlich ist, sondern Mischtypen möglich sind).
Rz. 5a
Auch sind verschiedene Täterkreise denkbar und auch im HGB geregelt. Neben den Mitgliedern des vertretungsberechtigten Organs oder des Aufsichtsrats fallen darunter auch Abschlussprüfer und Gehilfen des Abschlussprüfers, Mitglieder eines Prüfungsausschusses sowie die persönlich haftenden Gesellschafter bzw. die Mitglieder der vertretungsberechtigten Organe der persönlich haftenden Gesellschafter oder die offene Handelsgesellschaft oder die Kommanditgesellschaft.