Dr. Jürgen Blersch, Prof. Dr. Eberhard von Olshausen
Rn 6
Ansprüche auf Ersatz eines Gesamtschadens stehen nicht immer allen am Verfahren beteiligten Insolvenzgläubigern zu, weil eben nicht alle Insolvenzgläubiger Altgläubiger sein müssen, also schon bei Eintritt der Insolvenzreife Gläubiger des späteren Insolvenzschuldners gewesen sein müssen. Dies bedeutet aber natürlich nicht, dass im Fall einer verzögerten Insolvenzantragstellung bei Vorhandensein auch nur eines Neugläubigers, dem nach den oben dargestellten Grundsätzen ein Individualanspruch zusteht, auch alle übrigen durch die Insolvenzverschleppung geschädigten Insolvenzgläubiger, also die sog. Altgläubiger, die Einziehungs- und Prozessführungsbefugnis für ihre Ersatzansprüche behielten. Dies widerspräche der unterschiedlichen Betroffenheit und Interessenlage von Alt- und Neugläubigern. Auch die Begründung zum Regierungsentwurf der InsO geht davon aus, dass ein Nebeneinander von Gesamtschaden und Individualschaden bei Insolvenzgläubigern unter der Geltung des § 92 möglich ist und unterschiedliche Weisen der Geltendmachung – durch den Insolvenzverwalter einerseits, durch die Gläubiger andererseits – zur Folge hat. Es reicht daher aus, dass nur ein Teil der Insolvenzgläubigerschaft von dem "Gesamtschaden" betroffen ist, jedoch muss in diesem Fall nach Erhalt der Ersatzleistung vom Insolvenzverwalter eine Sondermasse gebildet werden, die nach Abzug der mit der Anspruchsdurchsetzung verbundenen Aufwendungen nur an diese Gläubiger verteilt wird.
Streitig ist aber die Frage nach dem Verhältnis der Ersatzansprüche der Alt- und Neugläubiger zu Ersatzansprüchen, die die Gesetze (§ 130a Abs. 3, § 177a Satz 1 HGB, § 92 Abs. 2 AktG, § 43 Abs. 2, § 64 Abs. 2 GmbHG) der Gesellschaft selbst zusprechen und die nach § 35 zur Insolvenzmasse gehören würden. In der Literatur werden hier nahezu alle denkbaren Meinungen vertreten. Der BGH hat ausgesprochen, dass der Insolvenzverwalter "einen Neugläubigerschaden auch nicht über § 43 GmbHG als Gesellschaftsschaden geltend machen" kann. Diese Frage wird sich freilich kaum jemals stellen. Denn wenn ein Neugläubiger einen Vertrauensschaden erlitten, also z.B. eine Vorleistung erbracht hat, für die er jetzt nur die Quote erhält, ist nicht zu sehen, wie dieser Schaden zugleich einen "Gesellschaftsschaden" darstellen kann; im Gegenteil wird die Gesellschaft hierdurch bereichert sein. In derselben Entscheidung hat es der BGH offen gelassen, ob der Insolvenzverwalter "im Verhältnis zu der Gläubigergesamtheit" gehalten ist, primär den Ersatzanspruch der Gesellschaft vor den Ansprüchen der Altgläubiger auf Ersatz ihres Quotenschadens geltend zu machen. Die Frage erlangt praktische Bedeutung, wenn sich unter den Insolvenzgläubigern neben Altgläubigern auch Neugläubiger befinden, und für diesen Fall ist sie eher in umgekehrter Richtung zu stellen, nämlich dahin, ob der Verwalter gegenüber den Altgläubigern verpflichtet ist, primär deren Ansprüche auf Ersatz ihres Quotenschadens geltend zu machen. Denn das dadurch Erlangte ist, wie eben ausgeführt, einer Sondermasse zuzuführen, die nur für die Befriedigung der Altgläubiger dient, während der Ersatzanspruch der Gesellschaft und der auf ihn entfallende Erlös in die unter alle Insolvenzgläubiger, einschließlich der Neugläubiger, zu verteilende Insolvenzmasse fallen. Da den Altgläubigern die Einziehungsbefugnis durch § 92 entzogen ist, während sie den Neugläubigern hinsichtlich ihrer Ansprüche auf Ersatz des Vertrauensschadens nach der Rechsprechung des BGH verbleibt, spricht vieles dafür, dass der Verwalter zum Ausgleich dieses Handicaps der Altgläubiger gehalten ist, primär die allein ihrem Schutz dienenden Ersatzansprüche geltend zu machen.