Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtvorliegen. Verfahrensmangel. Versagung der Bestellung eines besonderen Vertreters. Entscheidung über Prozessfähigkeit
Orientierungssatz
1. Ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegt nicht vor, wenn das Berufungsgericht die Versagung der Bestellung eines besonderen Vertreters nicht mit der Halt- und Aussichtslosigkeit des vom Kläger verfolgten Klagebegehrens begründet, sondern die Auffassung vertritt, dass der Kläger nicht prozessunfähig iS des § 72 Abs 1 SGG ist.
2. Die Entscheidung über die Prozessfähigkeit iS des § 71 Abs 1 SGG, an den § 72 Abs 1 SGG mit der Verpflichtung zur Bestellung eines besonderen Vertreters anknüpft, obliegt der tatrichterlichen Würdigung.
3. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 2. Kammer vom 27.10.2010 - 1 BvR 2623/10).
Normenkette
SGG § 71 Abs. 1, § 72 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger war bis zum Jahr 2004 in J. zur vertragszahnärztlichen Versorgung zugelassen und in den 1990er Jahren Mitglied des Vorstands der beklagten Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZÄV). Er wendet sich gegen die von ihm als verspätet angesehene Auszahlung vertragszahnärztlichen Honorars für den Monat April 2004 durch die Beklagte.
Sein Widerspruch gegen die Monatsabrechnung ist ebenso wie die nachfolgende Klage und Berufung erfolglos geblieben. Das LSG hat es abgelehnt, dem im Berufungsverfahren nicht anwaltlich vertretenen Kläger wegen Zweifeln an der Prozessfähigkeit einen besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG zu bestellen. Es hat den Kläger in der hier betroffenen vertragszahnärztlichen Angelegenheit als prozessfähig angesehen (Urteil vom 21.7.2009). Den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) hat das LSG mit Beschluss vom 14.12.2009 wegen fehlender Erfolgsaussichten abgelehnt.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, das LSG hätte nicht entscheiden dürfen, ohne für ihn einen besonderen Vertreter nach § 72 Abs 1 SGG zu bestellen, weil er im Berufungsverfahren nicht prozessfähig gewesen sei (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der allein gerügte Verfahrensfehler der unterlassenen Bestellung eines besonderen Vertreters liegt tatsächlich nicht vor. Das LSG hat mit seiner Annahme, der Kläger sei prozessfähig, Bundesrecht nicht verletzt.
Nach der Rechtsprechung des BSG liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, wenn der Vorsitzende des zuständigen Berufungssenats von der Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 Abs 1 SGG bei einem Beteiligten absieht, obwohl er diesen für prozessunfähig hält; von der Bestellung eines besonderen Vertreters kann nur dann abgesehen werden, wenn sich die Rechtsverfolgung als offensichtlich haltlos erweist (BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 1). Das hat das Berufungsgericht nicht verkannt. Die Versagung der Bestellung eines besonderen Vertreters hat es nicht mit der Halt- bzw Aussichtslosigkeit des vom Kläger verfolgten Klagebegehrens begründet, sondern es hat vielmehr die Auffassung vertreten, dass der Kläger nicht prozessunfähig iS des § 72 Abs 1 SGG sei.
Die Entscheidung über die Prozessfähigkeit iS des § 71 Abs 1 SGG, an den § 72 Abs 1 SGG mit der Verpflichtung zur Bestellung eines besonderen Vertreters anknüpft, obliegt der tatrichterlichen Würdigung. Das Beschwerdegericht ist bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Vorschrift vorliegen, auf die Kontrolle beschränkt, ob das Berufungsgericht von zutreffenden Maßstäben für die Beurteilung der Prozessfähigkeit ausgegangen ist. Das ist hier der Fall.
Prozessunfähig sind Personen, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 BGB sind (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 64). Das ist nach § 104 Nr 2 BGB der Fall, wenn sich eine Person in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen; es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet (Palandt/Ellenberger BGB, 69. Aufl 2010, § 104 RdNr 5). Das Vorliegen dieser sehr strengen Voraussetzungen für die Annahme von Geschäfts- und damit Prozessunfähigkeit hat das LSG fehlerfrei verneinen dürfen.
Das Berufungsgericht hat nicht verkannt, dass verschiedene Unterlagen sowie ärztliche Bescheinigungen vorliegen, aus denen hervorgeht, dass der Kläger infolge eines Unfalls vom 24.2.1998 sowie erheblicher Auseinandersetzungen im Zuge seiner Tätigkeit als Vertragszahnarzt wie auch als Mitglied des Vorstands der beklagten KZÄV an psychischen Störungen, insbesondere einer reaktiven Depression im Sinne einer posttraumatischen Anpassungsstörung leidet, die nach einer gutachtlichen Stellungnahme von Dr. S. vom 13.11.2001 schon seit mehreren Jahren besteht. In einer Stellungnahme vom 28.9.2008 bescheinigt Dr. S., dass sich der Kläger in einem von Ängsten, Vermeidungsverhalten, Rückzug, Grübelneigung und schmerzhaftem Bewusstwerden des Ausgegrenztseins geprägten Gesundheitszustand befindet. Sie formuliert weiter, aufgrund der vielen juristischen Fragen bzw noch ausstehenden Ergebnisse ergäben sich viele therapeutische Fragen; solange keine Ruhe in den Prozessen einkehre, werde auch keine psychische Stabilisierung zu erwarten sein.
In einer Stellungnahme des Internisten und Rheumatologen Dr. A. vom 6.7.2009 wird bescheinigt, in Anbetracht der persönlichen Schmerzsituation des Klägers habe sich im Hintergrund standespolitischer Auseinandersetzung und deren gerichtlicher Folgen ein psychosomatisches Schmerzsyndrom entwickelt, in dessen Folge der Patient unter Stresssituationen deutlich in seiner Konzentration eingeschränkt sei. Weder diese Stellungnahme noch die Tatsache, dass der Vorsitzende des 6. Senats des Thüringer LSG in zahlreichen bei ihm anhängigen Verfahren dem Kläger einen besonderen Vertreter bestellt hat, schließen jedoch die Annahme aus, dass der Kläger in den vertragszahnärztlichen Angelegenheiten prozessfähig gewesen und geblieben ist.
In diesem Zusammenhang durfte das LSG auch das Gesamtverhalten des Klägers würdigen, der sich im Verlaufe der zahlreichen vertragszahnärztlichen Streitverfahren, von denen einige nunmehr im Stadium der Nichtzulassungsbeschwerde bei dem erkennenden Senat anhängig sind, immer wieder bis in die jüngste Zeit hinein sachbezogen und umfassend zum Sach- und Streitstand sowie zu den rechtlichen Grundlagen der Honorarberichtigungs- bzw Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren geäußert hat. Angesichts des Bildungsstandes des Klägers, seiner beruflichen Befähigung und der Art und Weise, in der er sich auch gegenüber dem erkennenden Senat im Jahre 2010 geäußert hat, sind gewisse querulatorische Neigungen sowie eine extreme Fixierung auf die anhängigen gerichtlichen Verfahren nicht zu verkennen. Soweit das LSG gleichwohl angenommen hat, die Schwelle der Ausschließung der freien Willensbestimmung iS des § 104 Nr 2 BGB sei noch nicht erreicht, ist das nicht zu beanstanden.
Auf entsprechende Anfrage des Senatsvorsitzenden im Parallelverfahren B 6 KA 36/09 B hat die Bevollmächtigte des Klägers unter dem 10.2.2010 ausdrücklich bestätigt, dass für den Kläger bei dem für ihn zuständigen Amtsgericht J. kein Betreuungsverfahren eingeleitet worden und entsprechend auch kein Betreuer bestellt worden ist. Auch die Bevollmächtigte des Klägers in diesem Verfahren sowie die Bevollmächtigten in anderen Verfahren haben eine Betreuerbestellung nicht angeregt, obwohl sie dazu - unterstellt der Kläger wäre geschäftsunfähig - Anlass gehabt hätten. Wenn nämlich der Kläger mindestens seit dem Jahre 2001 geschäftsunfähig wäre, wären auch alle Verträge mit den Bevollmächtigten nach § 105 Abs 1 BGB nichtig. Aus dem Umstand, dass der Kläger offenbar seine gesamten wirtschaftlichen Angelegenheiten nach wie vor eigenständig regelt, Rechtsanwälte mit der Führung von Verfahren beauftragt und mit dem Gericht sachgerecht zu korrespondieren in der Lage ist, darf im Hinblick auf die in vieler Hinsicht vagen Befunde der oben erwähnten medizinischen Stellungnahmen geschlossen werden, dass der Kläger zwar deutlich psychisch erkrankt und die Führung der Prozesse sowie die Fixierung darauf Teil des Krankheitsbildes ist, doch damit die Schwelle zur Prozessunfähigkeit noch nicht erreicht ist. Der Kläger selbst hat unter dem 20.3.2010 dem Vorsitzenden des Senats mitgeteilt, er habe in verschiedenen Verfahren - ua in dem hier anhängigen - seine bevollmächtigte Rechtsanwältin W. zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde bevollmächtigt. Schon dies wäre nicht wirksam möglich gewesen, wenn der Kläger selbst davon ausgehen würde, dass er geschäftsunfähig ist. Es kann einer Person mit der beruflichen Befähigung des Klägers nicht verborgen bleiben, dass er nicht gleichzeitig geltend machen kann, generell geschäftsunfähig zu sein, und doch in der Lage zu sein, wirksam Anwälte mit der Vertretung seiner wirtschaftlichen Angelegenheiten zu beauftragen, ohne zuvor sich selbst um die Bestellung eines Betreuers bemüht zu haben. Auch die Rechtsanwälte, die sich vom Kläger beauftragen lassen und auf der Basis einer von diesem ausgestellten Vollmacht gegenüber den Gerichten tätig werden, dürften nicht davon überzeugt sein, dass der Kläger generell geschäftsunfähig ist.
Der Kläger hat in dem zitierten Schreiben gegenüber dem Senatsvorsitzenden vom 20.3.2010 weiter formuliert, "wegen Krankheit kann er keinen Kontakt zum Rechtsbeistand halten. Er lässt deshalb um die Zusendung des Schriftverkehrs - insbesondere der Beschlüsse - an seine obige Anschrift bitten, damit ihre Anfragen mit fremder Hilfe beantwortet werden können". Das lässt das auch schon vom Berufungsgericht hervorgehobene taktische Verhalten des Klägers zur Führung der anhängigen Verfahren erkennen, das möglicherweise inzwischen Krankheitswert erreicht hat, aber nicht dazu führt, dass von einem Zustand der gänzlich fehlenden freien Willensbestimmung ausgegangen werden kann. Denn es ist schon in sich widersprüchlich wie unglaubwürdig, dass der Kläger einerseits angibt, aus gesundheitlichen Gründen keinen Kontakt zu einem selbst gewählten Bevollmächtigten halten zu können, andererseits aber die Zusendung des Schriftverkehrs an sich selbst verlangt, um sodann Anfragen des Gerichts "mit fremder Hilfe" beantworten zu können.
Auf der Grundlage aller vorliegenden schriftlichen Äußerungen des Klägers sowie der vorhandenen medizinischen Befunde hat das Berufungsgericht jedenfalls verfahrensfehlerfrei zu der Einschätzung kommen können, dass der Kläger einerseits auf die Prozesse insbesondere im Zusammenhang mit seiner früheren vertragszahnärztlichen Tätigkeit fixiert ist, zumal diese in ihrer Gesamtheit auch erhebliche wirtschaftliche Bedeutung für den nicht mehr berufstätigen Kläger haben, dass er andererseits aber auch in der Führung dieser Prozesse einen gewissen Lebensinhalt sieht und alles darauf anlegt, dass diese tatsächlich nicht zu dem zügigen Ende kommen, von dem die Ärztin Dr. S. wiederum allein eine Stabilisierung der psychischen Situation des Klägers erwartet. Der Kläger handelt auch im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde so, dass er die für ihn auftretende Bevollmächtigte, die insoweit nicht in einer anderen Lage ist als ein Rechtsanwalt, der auf der Grundlage des § 72 Abs 1 SGG zum besonderen Vertreter des Klägers bestellt ist, im Interesse einer Verzögerung der Verfahren an der unverzichtbaren Kooperation mit dem Gericht hindert. Das wird beispielhaft an der Behandlung des Prozesskostenhilfegesuches in den Parallelverfahren B 6 KA 36/09 B und B 6 KA 39/09 B deutlich.
Der Senatsvorsitzende hat den Kläger dort zu Händen seiner Bevollmächtigten aufgefordert, unplausible Darstellungen in dem im Vordruck über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach § 118 ZPO klarzustellen, insbesondere zu erläutern, wie er - der Kläger - seine Lebensführung gestaltet, wenn er bei einem Gesamteinkommen von 2090 Euro angeblich 1550 Euro monatlich auf einen Kredit für die Finanzierung der inzwischen aufgegebenen Praxis abführt. Diese Anfrage kann die Bevollmächtigte des Klägers nur beantworten, wenn der Kläger mit ihr korrespondiert und ihr Einblicke in seine wirtschaftliche Situation gibt. Solange nämlich für den Kläger kein Betreuer bestellt ist, der auch gegen den Willen des Klägers Einblick in seine wirtschaftliche Situation nehmen und etwa wirtschaftlich ruinöse Darlehensverträge möglicherweise kündigen oder zumindest auf eine Anpassung der Darlehensraten hinwirken kann, kann insoweit eine weitere Klärung nicht erreicht werden. Ein besonderer Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG zur Führung der anhängigen vertragszahnärztlichen Verfahren, dessen Rechte nicht denen eines Betreuers entsprechen, sondern die auf die Führung der Prozesse und die damit verbundenen Handlungen beschränkt sind, stünde also nicht anders da als die vom Kläger selbst beauftragte Bevollmächtigte. Da der Kläger die Bestellung eines Betreuers nicht betreibt und die Personen und Institutionen, die mit dem Kläger außerhalb der anhängigen vertragszahnarztrechtlichen Verfahren zu tun haben, offenbar auch keinen Anlass sehen, an der generellen Fähigkeit des Klägers zur Ordnung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Angelegenheiten zu zweifeln, ist die berufungsgerichtliche Annahme fortbestehender Prozessfähigkeit zumindest im Hinblick auf die seiner beruflichen Sphäre zuzuordnenden vertragszahnarztrechtlichen Verfahren nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts entspricht (gerundet) der Festsetzung der Vorinstanz vom 14.12.2009, die von keinem der Beteiligten in Frage gestellt worden ist (§ 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 2, § 47 Abs 1 und 3 GKG).
Fundstellen