Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung rechtlichen Gehörs. Ablehnung eines Antrags auf Terminsverlegung wegen Erkrankung. kurzfristig gestellter Antrag. Glaubhaftmachung. fehlende anwaltliche Vertretung
Orientierungssatz
1. Ein iS des § 227 Abs 1 S 1 ZPO ordnungsgemäß gestellter Verlegungsantrag mit einem hinreichend substantiiert geltend gemachten Verlegungsgrund begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (vgl BSG vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 = SozR 3-1750 § 227 Nr 1, vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R = USK 99111 und vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R = HVBG-INFO 2003, 1705).
2. Eine Erkrankung als Verlegungsgrund ist nicht zwingend bei Antragstellung durch Attest glaubhaft zu machen.
3. Wenn der Betroffene nicht anwaltlich vertreten ist, ist das Gericht auch bei kurzfristig gestellten Anträgen auf Terminsverlegung zu einem Hinweis oder zur Aufforderung an den Betroffenen, seinen Vortrag zu ergänzen, oder zu eigenen Nachforschungen verpflichtet (vgl BSG vom 13.10.2010 - B 6 KA 2/10 B = Breith 2011, 592).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, Abs. 5, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 1; ZPO § 227 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; SGG § 62; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Juli 2010 wird das Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der am 30.3.1960 geborene Kläger bezieht von dem Beklagten seit Juni 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Am 13.10.2008 erhob er eine Klage beim Sozialgericht (SG) Stuttgart, mit der er sich gegen Sanktionen sowie die Untätigkeit und verzögerte Bearbeitung seiner Angelegenheiten durch den Beklagten wandte. Die Klage wies das SG nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 11.12.2009 ab. Gegen den Gerichtsbescheid legte der Kläger Berufung ein und machte geltend, dass der Tatbestand im Gerichtsbescheid teilweise fehlerhaft sei. Eine umfassende Begründung reiche er im Laufe der Folgewoche nach. Im Februar 2010 telefonierte er mit der Geschäftsstelle und teilte mit, er habe eine schwere Erkrankung und bitte um Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist. In der Folge entschuldigte er sich aus Krankheitsgründen erneut und legte ein Attest des behandelnden Arztes Dr. J. K vom 29.3.2010 vor, wonach er wegen einer Lungenentzündung und eines Wirbelsäulensyndroms voraussichtlich bis 9.4.2010 arbeitsunfähig sei und auch keinen Gerichtstermin wahrnehmen könne. Am 12.5.2010 teilte der Kläger mit, er fühle sich nicht imstande das Haus zu verlassen, um sich weitere Unterlagen zur Begründung der Berufung zu verschaffen. Daraufhin wurde ihm fernmündlich erneut Verlängerung zur Begründung der Berufung bis zum 1.6.2010 gewährt.
Am 18.6.2010 bestimmte der Vorsitzende Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 14.7.2010, 9:00 Uhr. Mit Schreiben vom 10.7.2010, das bei Gericht am 13.7.2010 einging, beantragte der Kläger Terminverlegung um eine Woche. Er trug vor, es sei ihm momentan wieder nicht möglich selbstständig das Bett zu verlassen und an der Verhandlung teilzunehmen. Es seien zustehende Leistungen nicht ausgezahlt worden, sodass er weder die notwendigen Medikamente noch die Fahrkosten zahlen könne. Am 13.7.2010 versuchte der Berichterstatter den Kläger zweimal telefonisch zu erreichen, um ihn unter Bezugnahme auf einen Beschluss des Bundsfinanzhofes (BFH) vom 7.4.2004 (Az: I B 111/03) darauf hinzuweisen, dass die Verlegungsgründe in verschiedener Hinsicht (vor allem durch Vorlage eines nachvollziehbaren Attests) glaubhaft zu machen seien. Er erreichte den Kläger nicht. In einem Schreiben vom 12.7.2010, das bei Gericht ebenfalls am 13.7.2010 einging, nahm der Kläger Bezug auf ein Telefongespräch mit der Geschäftsstelle am Morgen des 12.7. und teilte mit, dass nunmehr sein Telefonanschluss gesperrt sei und er nur noch über ein fremdes Fax kommunizieren könne.
Am 14.7.2010 erschien zum Termin zur mündlichen Verhandlung für den Kläger niemand. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung mit Urteil vom selben Tage ab. Dem Vertagungsgesuch habe der Senat nicht nachkommen müssen. Auch in der Sache habe die Berufung keinen Erfolg, weil das SG die Klage zutreffend als unzulässig angesehen habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Er macht die Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend, weil das LSG seinem Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung wegen seiner Erkrankung und seiner fehlenden Möglichkeit, die Fahrkosten zum Termin zu bestreiten, nicht nachgekommen ist. Zudem macht er die Verletzung von § 153 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geltend und hält die Klage insgesamt für zulässig. Insbesondere seien LSG und SG fehlerhaft davon ausgegangen, dass eine Klageerweiterung nach § 99 SGG nicht zulässig gewesen sei.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Auf die Beschwerde des Klägers war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).
Der Kläger hat formgerecht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) gerügt, vom LSG nicht ausreichend rechtlich gehört worden zu sein (§ 62 SGG). Er hat die Verletzung des § 62 SGG hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen. Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), der Beteiligte ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird. Eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung trotz Abwesenheit eines Beteiligten ist dann ohne Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs möglich, wenn dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 110 RdNr 11; BVerwG NVwZ-RR 1995, 549).
Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn erhebliche Gründe für eine Terminsverlegung oder -vertagung vorliegen (Leitherer, aaO, § 110 RdNr 4b) und diese beantragt wird bzw ein unvertretener Beteiligter wenigstens seinen Willen zum Ausdruck bringt, an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu wollen (vgl BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - Juris RdNr 11). Ein iS des § 227 Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ordnungsgemäß gestellter Vertagungsantrag mit einem hinreichend substanziiert geltend gemachten Terminsverlegungsgrund begründet grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (BSG vom 10.8.1995, SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2; BSG vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R - Juris RdNr 16 und vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R - Juris RdNr 11). Die Behandlung von Anträgen auf Terminsverlegung hat dabei der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen (vgl hierzu BSG vom 16.11.2000, SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 58), insbesondere, wenn - wie vorliegend - eine mündliche Verhandlung vor dem SG nicht stattgefunden hat. Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Rüge ist jedoch, dass der Beteiligte seinerseits alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1).
Der Kläger hat in seinem Gesuch auf Terminsverlegung um eine Woche darauf hingewiesen, dass er wegen Krankheit zum Termin nicht erscheinen könne, er aber unbedingt an der mündlichen Verhandlung teilnehmen wolle (zur Anerkennung von Krankheit als erheblicher Grund iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO: BSG vom 28.4.1999 - B 6 KA 40/98 R; BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R; BSG vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R; BSG vom 21.7.2005 - B 11a/11 AL 261/04 B; alle veröffentlicht in Juris; vgl auch BSG vom 6.12.1983, SozR 1750 § 227 Nr 2). Ob daneben die fehlende Möglichkeit die Fahrkosten aufzubringen, einen erheblichen Grund zur Verlegung des Termins darstellt, ist jedenfalls für den Fall eines so kurzfristig gestellten Gesuchs zweifelhaft, braucht vorliegend aber nicht entschieden zu werden. Dabei hat der Kläger vorgetragen, das Bett aufgrund seiner Erkrankung nicht verlassen zu können, sodass die Auswirkung der Erkrankung - nicht zum Termin erscheinen zu können - schlüssig vorgetragen ist. Zwar hat der Kläger seine Erkrankung nicht durch Atteste der behandelnden Ärzte belegt. Eine Erkrankung als Verlegungsgrund ist aber nicht zwingend bei Antragstellung durch Attest glaubhaft zu machen, denn nach § 202 SGG iVm § 227 Abs 2 ZPO sind die erheblichen Gründe erst auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen. Der Kläger hat im Übrigen seinerseits alles ihm Obliegende getan, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Er hat offenbar am 12.7.2010 (mithin zwei Tage vor dem Termin) mit der Geschäftsstelle des Gerichts telefoniert, um Klarheit über sein Vertagungsgesuch zu gewinnen. Er musste als unvertretener Beteiligter nicht allein aufgrund der Kürze der noch verbleibenden Zeit davon ausgehen, dass dem Vertagungsgesuch zwingend ein Attest beizufügen gewesen wäre.
Anderes kann gelten, wenn offenkundig Prozessverschleppungsabsicht besteht. Hiervon konnte das LSG jedoch nach dem bisherigen Stand des Berufungsverfahrens nicht ohne Weiteres ausgehen. Der Kläger hatte zwar zweimal um Verlängerung der vom Gericht gesetzten Frist zur Begründung der Berufung gebeten und die Berufung auch bis zum Termin nicht begründet. Er hatte diesen Vortrag im März 2010 jedoch mit ärztlichen Unterlagen belegt, die das Gericht nicht (für ihn erkennbar) in Zweifel gezogen hat. Soweit beim Gericht bereits im Laufe des schriftlichen Verfahrens der Eindruck entstanden sein sollte, die Gründe für die verzögerten Stellungnahmen des Klägers seien aus prozesstaktischen Motiven vorgeschoben, hätte es seiner Pflicht entsprochen, den Kläger darauf hinzuweisen, dass weiterer Aufschub und ggf eine Verlegung des Termins nur nach entsprechender Glaubhaftmachung durch im einzelnen nachvollziehbare Atteste in Betracht komme. Ohne dass es dem unvertretenen Kläger zuvor Hinweise dahin gegeben hatte, dass sein bisheriger Vortrag im Hinblick auf seine Erkrankungen künftig nicht mehr als ausreichend angesehen werde, durfte es auch den kurzfristig gestellten Vertagungsantrag nicht übergehen.
Aus der vom LSG zitierten Rechtsprechung des BFH, der sich das Bundessozialgericht (BSG) insoweit bereits angeschlossen hat, folgt kein anderes Ergebnis. BFH und BSG haben die strengeren Voraussetzungen bei der Prüfung kurzfristig gestellter Terminverlegungsgesuche auf die Fälle beschränkt, in denen der Kläger anwaltlich vertreten ist. Wenn der Betroffene nicht anwaltlich vertreten ist, ist das Gericht auch bei kurzfristig gestellten Anträgen zu einem Hinweis oder zur Aufforderung an den Betroffenen, seinen Vortrag zu ergänzen, oder zu eigenen Nachforschungen verpflichtet (vgl zuletzt BSG vom 13.10.2010 - B 6 KA 2/10 B - Juris RdNr 13 unter Hinweis auf BSG vom 28.4.1999, USK 99111 S 650 f = Juris RdNr 17; BSG vom 13.11.2008 - B 13 R 277/08 B - Juris RdNr 17; BSG vom 21.7.2009 - B 7 AL 9/09 B - Juris RdNr 5; ebenso BFH vom 19.8.2003, DStRE 2004, 540, 541 = Juris RdNr 21 iVm 25). Andernfalls hat es dem Vertagungsantrag nachzukommen. Der Berichterstatter am LSG hat zwar versucht, den Kläger zu erreichen, aber erfolglos, sodass die aufgezeigten Voraussetzungen nicht vorlagen.
Die angefochtene Entscheidung kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger zum Zeitpunkt der anberaumten mündlichen Verhandlung in der Tat verhandlungsunfähig war. Im Übrigen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert hat, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Entscheidung beeinflusst hat; einer Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es nicht (vgl nur BSG vom 16.11.2000, SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62).
Der Senat kann offen lassen, ob die gerügten weiteren (Verfahrens)Fehler vorliegen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen