Verfahrensgang
SG Dresden (Entscheidung vom 16.10.2018; Aktenzeichen S 33 KN 1817/16) |
Sächsisches LSG (Beschluss vom 26.03.2019; Aktenzeichen L 5 R 705/18 KN) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. März 2019 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin wendet sich gegen eine Erstattungsforderung des beklagten Rentenversicherungsträgers in Höhe von 11 892,93 Euro. In dieser Höhe ist nach Auffassung der Beklagten eine Überzahlung der Witwenrente der Klägerin zwischen dem 1.1.1992 und dem 30.4.2016 wegen des zeitgleichen Bezugs einer Altersrente für Frauen entstanden. Mit ihrem Begehren auf Aufhebung der die Änderung des Witwenrentenbescheids und die Rückforderung regelnden Verwaltungsakte ist die Klägerin im Vorverfahren sowie im Klage- und Berufungsverfahren erfolglos geblieben. Das LSG hat die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen und der Anspruch der Beklagten sei nicht verwirkt. Das Berufungsgericht hat die Revision in seinem Beschluss vom 26.3.2019 nicht zugelassen.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde an das BSG und macht geltend, die Revision sei zuzulassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) habe.
II
Die Beschwerde der Klägerin ist als unzulässig zu verwerfen. Die Klägerin hat mit der Begründung des Rechtsmittels entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG keinen Zulassungsgrund hinreichend dargelegt oder bezeichnet.
Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- die angefochtene Entscheidung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Die Klägerin beruft sich ausschließlich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die Beschwerdebegründung vom 11.6.2019 verfehlt jedoch die Darlegungsvoraussetzungen für eine Grundsatzrüge (vgl hierzu exemplarisch BSG Beschluss vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34, juris RdNr 6 mwN). Es ist schon zweifelhaft, ob darin eine abstrakt-generelle Rechtsfrage - zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht - formuliert wird (vgl allgemein BSG Beschluss vom 24.10.2018 - B 13 R 239/17 B - juris RdNr 8 mwN). Die Formulierung "… Ob nach mehr als 10 Jahren der Zahlung der Witwenrente, ein Vertrauensschutztatbestand entstanden ist, der die Rückforderung der Beklagten verwirken lässt (Verwirkungstatbestand). Dies im Hinblick auf die Entscheidung des Sozialgerichts Stuttgart vom 23.6.2017 (Az S 12 R 584/15). Es geht der Klägerin um eine einheitliche Rechtsprechung (einheitliche Rechtsanwendung)." lässt - selbst unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen - einen Bezug zu einer revisiblen Norm allenfalls erahnen. Die Bezeichnung einer abstrakten, aus sich heraus verständlichen Rechtsfrage ist jedoch unverzichtbar, damit das Beschwerdegericht an ihr die weiteren Voraussetzungen der Grundsatzrüge prüfen kann (Becker, SGb 2007, 261, 265; Krasney/Udsching/Groth, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, Kap IX RdNr 181).
Die nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG geltenden Anforderungen werden jedenfalls verfehlt, soweit sich den nachfolgenden Ausführungen der Beschwerdebegründung (S 3) sinngemäß entnehmen lässt, dass die Klägerin meint, vorliegend hätte die Verwirkung der Berechtigung der Beklagen zur Geltendmachung der Erstattungsforderung geprüft werden müssen. Zu der Rechtsfrage der Verwirkung nach mehr als 10 Jahren der ungeminderten und widerspruchslosen Zahlung gebe es keine Rechtsprechung des BSG. Diese Frage sei daher klärungsbedürftig. Die bloße Behauptung der fehlenden Rechtsprechung genügt den Darlegungserfordernissen für eine Nichtzulassungsbeschwerde jedoch nicht.
Um diesen zu genügen muss der Beschwerdeführer anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Aus klägerischer Sicht wäre insoweit eine Auseinandersetzung mit der bereits vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung erforderlich gewesen. Denn als höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, aber schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (stRspr; zB BSG Beschluss vom BSG 15.8.2019 - B 9 SB 23/19 B - juris RdNr 9; Beschluss vom 8.3.2018 - B 9 SB 93/17 B - juris RdNr 7; BSG Beschluss vom 24.3.2018 - B 12 R 44/17 B - juris RdNr 8). Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu dem Problemkreis substantiiert vorgetragen werden, dass das BSG zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung gefällt hat oder durch die schon vorliegenden Entscheidungen die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet worden ist (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 22.3.2018 - B 5 RE 12/17 B - juris RdNr 12 mwN).
Die Klägerin setzt sich hier nicht in diesem Sinne mit den vom BSG formulierten Anforderungen an eine „Verwirkung“ auseinander und in Folge dessen auch nicht damit, warum sich die von ihr aufgeworfene Fragestellung nicht aufgrund dieser Rechtsprechung beantworten lässt. Das BSG hat befunden, das richterrechtliche Institut der Verwirkung sei als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) im Sozialversicherungsrecht ebenso wie im allgemeinen Verwaltungsrecht und im Zivilrecht anerkannt (vgl BSG Urteil vom 20.5.1958 - 2 RU 285/56 - BSGE 7, 199, 200; BSG Urteil vom 29.6.1972 - 2 RU 62/70 - BSGE 34, 211, 213 = SozR Nr 14 zu § 242 BGB, SozR Nr 2 zu § 9 VwZG; BSG Urteil vom 26.3.1976 - 6 RKa 18/75 - BSGE 41, 275, 278 = SozR 5548 § 3 Nr 2; BSG Urteil vom 6.11.1985 - 8 RK 20/84 - BSGE 59, 87, 94 = SozR 2200 § 245 Nr 4 S 22 f; BSG Urteil vom 29.1.1997 - 5 RJ 52/94 - BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f). Eine solche Verwirkung setze allgemein voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen habe, etwa deutlich mehr als ein Jahrzehnt. Zum Zeitablauf müssten jedoch weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des einschlägigen Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen ließen (vgl BVerfG Beschluss vom 26.1.1972 - 2 BvR 255/67 - BVerfGE 32, 305; BVerwG Urteil vom 7.2.1972 - III C 115.71 - BVerwGE 44, 339, 343; BFH Urteil vom 4.7.1979 - II R 74/77 - BFHE 129, 201, 202; BSG Urteil vom 29.6.1972 - 2 RU 62/70 - BSGE 34, 211, 214 = SozR Nr 2 zu § 9 VwZG; BSG Urteil vom 5.12.1972 - 10 RV 441/71 - BSGE 35, 91, 95 = SozR Nr 31 zu § 41 VerwVG mwN). Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" lägen vor, wenn der Verpflichtete - erstens - infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dieser werde das Recht nicht mehr geltend machen (Vertrauensgrundlage), - zweitens - der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut habe, das Recht werde nicht mehr ausgeübt (Vertrauenstatbestand), und - drittens - er sich infolge dessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet habe (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl BSG Urteil vom 30.11.1978 - 12 RK 6/76 - BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15 mwN; BSG Urteil vom 29.1.1997 - 5 RJ 52/94 - BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 18; BVerwG Urteil vom 7.2.1974 - III C 115.71 - BVerwGE 44, 339, 343 f; vgl hierzu insgesamt BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/15 R - SozR 4-1300 § 48 Nr 31 RdNr 22).
Auch soweit die Klägerin wohl selbst erkennt, dass das Institut der "Verwirkung" im Rahmen der Aufhebungsregelung des § 45 SGB X in besonderem Maße begrenzt ist, verfehlt sie die Darlegungsanforderungen. Insoweit ist es nicht ausreichend darzubringen, bei den Rechtsbegriffen des § 45 SGB X handele es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die den Auslegungsregeln unterlägen.
Hier hätte es einer näheren Begründung bedurft, warum der nachfolgenden Rechtsprechung keine Antwort auf die aufgeworfene Frage entnommen werden kann. Das BSG hat in der bereits zitierten Entscheidung (BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/15 R - SozR 4-1300 § 48 Nr 31 RdNr 23) ausgeführt, die §§ 45 ff SGB X enthielten in ihrem Anwendungsbereich eine spezielle und abschließend gedachte Regelung des Vertrauensschutzes bei der Aufhebung von Verwaltungsakten. Der Gesetzgeber habe damit ein abgestuftes Vertrauensschutzkonzept geschaffen, mit dem er ua zwischen rückwirkender und allein zukunftsgerichteter Aufhebung unterscheide sowie enge Handlungsfristen für die Aufhebung vorsehe, vgl § 45 Abs 4 SGB X. Diese passgenaue gesetzliche Interessenabwägung könnten die Sozialgerichte nicht pauschal durch allgemeine, aus der Generalklausel von Treu und Glauben abgeleitete Vertrauensschutzerwägungen ersetzen. Zumeist müsse die Annahme einer Verwirkung daher auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben, in denen eine wortgetreue Anwendung der gesetzlichen Vorschriften dazu führen würde, insbesondere grundrechtlich geschützte Positionen zu verletzen. Da die Verwirkungsvoraussetzungen deshalb eng auszulegen seien, könne der Leistungsträger sein Aufhebungsrecht trotz seiner langen Untätigkeit nicht verwirkt haben. Voraussetzung sei eine ausreichende Verwirkungshandlung des Sozialleistungsträgers und erforderlich sei eine Vertrauensgrundlage sowie unabhängig davon ein schützenswertes Vertrauensverhalten des Leitungsberechtigten.
Schließlich legt die Klägerin auch nicht anforderungsgerecht dar, dass die durch die vorstehend zitierte BSG-Rechtsprechung geklärte Rechtsfrage erneut klärungsbedürftig geworden wäre. Zwar kann auch eine bereits höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage erneut klärungsbedürftig werden, hierfür ist jedoch darzulegen, dass und mit welchen Gründen der höchstrichterlichen Rechtsauffassung in der Rechtsprechung oder in der Literatur widersprochen worden ist, oder dass sich völlig neue, nicht erwogene Gesichtspunkte ergeben haben, die eine andere Beurteilung nahelegen könnten (vgl BSG Beschluss vom 25.9.1975 - 12 BJ 94/75 - SozR 1500 § 160a Nr 13, juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 2.8.2018 - B 10 ÜG 7/18 B - juris RdNr 8 mwN). Der bloße Hinweis auf ein einzelnes SG-Urteil genügt hierfür jedenfalls dann nicht, wenn - wie vorliegend - die Beschwerdebegründung nicht wenigstens eine knappe Wiedergabe des auf die vermeintlich klärungsbedürftige Frage bezogenen Inhalts der Entscheidungsgründe enthält.
Mit ihren weiteren Ausführungen, insbesondere, dass es für die Klägerin nicht nachvollziehbar sei, woran die Gerichte (SG und LSG) festmachten, dass die Klägerin bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Umwertungsbescheides vom 28.11.1991 hätte erkennen müssen bzw erkannt habe, dass dieser rechtswidrig sei, dass ihr erhebliche Sorgfaltspflichtverletzungen zur Last zu legen seien und dass sie Einkünfte nicht gemeldet habe, wendet sich die Klägerin ausdrücklich gegen die inhaltliche Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses im Einzelfall. Hierauf kann die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision jedoch nicht zulässig gestützt werden (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4; BVerfG Beschluss vom 6.5.2010 - 1 BvR 96/10 - SozR 4-1500 § 178a Nr 11 RdNr 28 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13855543 |