Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. unverschuldetes Fristversäumnis bei verspäteter Zustellung eines mittels Einschreiben bei der Deutschen Post AG aufgegebenen Briefes
Orientierungssatz
1. Ein Fristversäumnis ist unverschuldet, wenn der Beteiligte die ihm nach seinen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt beachtet, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls nach allgemeiner Verkehrsanschauung zur gewissenhaften Prozessführung vernünftigerweise erforderlich ist (vgl BSG vom 27.3.2017 - B 9 V 68/16 B = juris RdNr 10).
2. Bedient sich ein Beteiligter der Deutschen Post AG, so darf er regelmäßig darauf vertrauen, dass diese die von ihr für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten einhält. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass bei der Deutschen Post AG im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen entsprechend der amtlichen Verlautbarungen grundsätzlich am folgenden Werktag ausgeliefert werden (vgl BSG vom 27.3.2017 - B 9 V 68/16 B aaO sowie vom 27.11.2018 - B 2 U 17/18 B = juris RdNr 9, BVerwG vom 18.9.2014 - 5 C 18/13 = BVerwGE 150, 200, BGH vom 21.10.2010 - IX ZB 73/10 = juris RdNr 15 und BFH vom 4.9.2008 - I R 41/08 = juris RdNr 11).
3. Dies gilt auch bei Aufgabe zur Post am Freitag (vgl BVerwG vom 18.9.2014 - 5 C 18/13 aaO) und auch für einen mittels Einschreiben bei der Deutschen Post AG aufgegebenen Brief.
Normenkette
SGG § 63 Abs. 2, § 64 Abs. 2, § 67 Abs. 1, § 153 Abs. 4, § 160 Abs. 2 Nrn. 1-3, § 160a Abs. 1 S. 2; ZPO § 180
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Januar 2022 - L 14 R 455/19 - vor dem Bundessozialgericht Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Januar 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens den Wechsel von der ihr mit einem Abschlag gewährten Altersrente für Frauen in eine abschlagsfreie Altersrente.
Nach Aufforderung des Jobcenters des Kreises U beantragte die 1950 geborene Klägerin im Dezember 2012 eine Altersrente für Frauen. Mit Bescheid vom 10.1.2013 bewilligte die Beklagte ihr ab dem 1.3.2013 die begehrte Rente. Wegen der vorzeitigen Inanspruchnahme wurde die Rente mit einem Abschlag iH von 7,2 % versehen. Seit März 2013 bezieht die Klägerin die Rente fortlaufend. Widerspruch und Klage hinsichtlich der Rentenhöhe blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 31.7.2013, Rücknahme der Klage vor dem SG Dortmund - S 46 R 1345/13 - im Erörterungstermin am 14.1.2014).
Mit Schreiben vom 18.2.2015 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Rentenbescheids nach § 44 SGB X. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Die von der Klägerin eingereichten Unterlagen seien nicht geeignet, weitere Zeiten zu belegen. Für einen Beratungsmangel bei der Aufnahme des Rentenantrags seien keine Anhaltspunkte ersichtlich (Bescheid vom 17.11.2015). Den Widerspruch wies die Beklagte zurück. Weder sei eine Änderung der Rentenart noch eine höhere Rentenleistung aufgrund Anerkennung weiterer rentenrechtlicher Zeiten möglich (Widerspruchsbescheid vom 13.5.2016). Mit Urteil von 5.4.2019 hat das SG die lediglich noch auf Gewährung einer abschlagsfreien Altersrente gerichtete Klage abgewiesen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Beschluss vom 4.1.2022). Der Klägerin sei ein Wechsel von der zum 1.3.2013 bestandskräftig bewilligten und seitdem auch durchgehend bezogenen Altersrente für Frauen mit Abschlag in eine andere Altersrentenart - ohne Abschlag - verwehrt.
Mit Schreiben vom 4.2.2022 (aufgegeben als Einschreiben bei der Deutschen Post am 4.2.2022, eingegangen beim BSG am 16.2.2022) hat die Klägerin Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG vom 4.1.2022 erhoben sowie zugleich Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt.
II. 1. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von PKH ist abzulehnen.
Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO kann einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, für ein Verfahren vor dem BSG PKH nur bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin stehen einer Bewilligung von PKH für das von ihr beabsichtigte Beschwerdeverfahren nicht entgegen.
Es fehlt jedoch an hinreichenden Erfolgsaussichten für die von der Klägerin beabsichtigte Nichtzulassungsbeschwerde. Der Klägerin wäre zwar Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG zu gewähren, weil sie ohne Verschulden an der Einhaltung dieser Frist gehindert war (§ 67 Abs 1 SGG). Nach Prüfung des Streitstoffs anhand der beigezogenen Gerichtsakten ist allerdings nicht zu erkennen, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu begründen.
Voraussetzung der PKH ist nach der Rechtsprechung des BSG und der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes, dass sowohl der (grundsätzlich formlose) Antrag auf PKH als auch die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Erklärung) in der für diese gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 73a Abs 1 SGG iVm § 117 Abs 2 und 4 ZPO) bis zum Ablauf der Beschwerdefrist eingereicht werden (vgl BSG Beschluss vom 11.1.2018 - B 9 SB 87/17 B - juris RdNr 3; BSG Beschluss vom 13.1.2021 - B 5 R 16/20 BH - juris RdNr 3). Das ist hier nicht geschehen. Bis zum Ablauf der einmonatigen Beschwerdefrist, die am 11.2.2022 endete (§ 160a Abs 1 Satz 2, § 64 Abs 2, § 63 Abs 2 SGG, § 180 ZPO), hat die Klägerin weder den Antrag gestellt noch die Erklärung eingereicht. Ihr Schreiben vom 4.2.2022 samt der erforderlichen Unterlagen ist erst am 16.2.2022 beim BSG eingegangen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Klägerin ohne Verschulden verhindert war, den Antrag rechtzeitig zu stellen und den Vordruck einzureichen. Die Klägerin hat alles ihr Zumutbare unternommen, um innerhalb der Beschwerdefrist PKH zu erlangen.
Ein Fristversäumnis ist unverschuldet, wenn der Beteiligte die ihm nach seinen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt beachtet, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls nach allgemeiner Verkehrsanschauung zur gewissenhaften Prozessführung vernünftigerweise erforderlich ist (BSG Beschluss vom 27.3.2017 - B 9 V 68/16 B - juris RdNr 10 mwN). Bedient sich ein Beteiligter der Deutschen Post AG, so darf er regelmäßig darauf vertrauen, dass diese die von ihr für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten einhält. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass bei der Deutschen Post AG im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen entsprechend ihrer amtlichen Verlautbarungen grundsätzlich am folgenden Werktag ausgeliefert werden (BSG aaO; BSG Beschluss vom 27.11.2018 - B 2 U 17/18 B - juris RdNr 9; BVerwG Urteil vom 18.9.2014 - 5 C 18.13 - Buchholz 428.43 DDR-EErfG Nr 4 RdNr 15; BGH Beschluss 21.10.2010 - IX ZB 73/10 - NJW 2011, 458 - juris RdNr 15; BFH Beschluss vom 4.9.2008 - I R 41/08 - juris RdNr 11). Dies gilt auch bei Aufgabe zur Post am Freitag (BVerwG aaO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 67 RdNr 6a) und auch für einen mittels Einschreiben bei der Deutschen Post AG aufgegebenen Brief (siehe auch www.deutschepost.de/de/e/einschreiben/haeufige-fragen.html: "Einschreiben werden in der Regel am Tag nach der Einlieferung zugestellt."; Abruf 4.5.2022). Ausweislich des Briefumschlags hat die Klägerin das Einschreiben bereits am 4.2.2022 (Freitag) zur Post gegeben. Mithin konnte sie davon ausgehen, dass das Schreiben ohne Weiteres innerhalb der am 11.2.2022 endenden Monatsfrist beim BSG eingehen werde.
Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass ein Prozessbevollmächtigter der Klägerin einen der in § 160 Abs 2 SGG genannten Revisionsgrund erfolgreich geltend machen könnte.
Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist (vgl BSG Beschluss vom 17.6.2019 - B 5 R 61/19 B - juris RdNr 9). Dass ein Wechsel von einer Altersrente in eine andere (Alters-)Rente nach bindender Bewilligung einer Rente wegen Alters oder für Zeiten des Bezugs einer solchen Rente ausgeschlossen ist, ergibt sich unmittelbar aus § 34 Abs 4 SGB VI. Das BSG hat sich bereits mehrfach mit der Vorschrift des § 34 Abs 4 SGB VI beschäftigt und auch verfassungsrechtliche Bedenken verneint (BSG Urteil vom 26.7.2007 - B 13 R 44/06 R - SozR 4-2600 § 236a Nr 1 RdNr 11, 27 f; BSG Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/19 R - SozR 4-2600 § 77 Nr 12 RdNr 22; BSG Urteil vom 17.6.2020 - B 5 R 2/19 R - juris RdNr 24). Dass sich im Fall der Klägerin eine in diesem Zusammenhang noch nicht geklärte Grundsatzfrage stellen könnte, ist nicht erkennbar.
Auch ist nicht ersichtlich, dass das LSG einen abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem solchen des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt hat (Zulassungsgrund der Divergenz, § 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
Ebenso fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass ein Verfahrensmangel vorliegen könnte, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Zulassung der Revision führen kann. Nach Halbsatz 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Es lässt sich den Akten insbesondere nicht entnehmen, dass eine Verletzung des § 153 Abs 4 SGG vorliegt. Vielmehr hat der Senat die Beteiligten vor Zurückweisung der Berufung mehrfach angehört (vgl § 153 Abs 4 Satz 2 SGG; zur Anhörungspflicht BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 R 62/21 B - juris). Zudem hat er ausgeführt, warum er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht für erforderlich hielt (zur Ermessensausübung im Rahmen des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG siehe BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 R 51/21 B - juris).
Sollte die Klägerin mit einer Nichtzulassungsbeschwerde geltend machen wollen, der Beschluss des LSG sei falsch, weil das LSG einen Wechsel in eine abschlagsfreie Rente wegen Alters zu Unrecht verneint habe, kann darauf - die vermeintliche Fehlerhaftigkeit im Einzelfall - eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gestützt werden (stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 25.3.2021 - B 5 R 288/20 B - juris RdNr 14 mwN).
2. Die von der Klägerin selbst erhobene Beschwerde ist unzulässig. Sie entspricht nicht der gesetzlichen Form. Die Klägerin konnte die Nichtzulassungsbeschwerde wirksam nur durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten (§ 73 Abs 4 SGG) einlegen lassen. Hierauf hat bereits die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Beschlusses ausdrücklich hingewiesen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Düring Gasser Hahn
Fundstellen
Dokument-Index HI15225299 |