Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. vertragsärztliche Wirtschaftlichkeitsprüfung. Gegenstand der Klage. Bescheid des Beschwerdeausschusses. Vertragsarzt. vollständige und substantiierte Einwände gegen Honorarkürzungs- oder Regressbescheid. stattgebendes Urteil auf Anfechtungsklage
Orientierungssatz
1. Allein der Bescheid des Beschwerdeausschusses ist Gegenstand der Klage in Verfahren der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung (stRspr seit BSG vom 9.3.1994 - 6 RKa 5/92 = BSGE 74, 59, 62 = SozR 3-2500 § 106 Nr 22 S 120.)
2. Ein Vertragsarzt muss seine Einwände gegen einen Honorarkürzungs- oder Regressbescheid im Klageverfahren vollständig und substantiiert vorbringen.
3. Bei einem stattgebenden Urteil auf eine Anfechtungsklage müssen zur Bestimmung der Tragweite der in Rechtskraft erwachsenen Urteilsformel ebenfalls die Entscheidungsgründe des Urteils herangezogen werden (vgl BSG vom 22.9.1999 - B 13 RJ 71/99 B = juris RdNr 12).
4. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 1. Kammer vom 5.3.2018 - 1 BvR 1417/17).
Normenkette
SGB 5 § 106 Abs. 2; SGG § 54 Abs. 1, §§ 95, 141
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.06.2016; Aktenzeichen L 5 KA 18/15) |
SG Mainz (Entscheidung vom 18.02.2015; Aktenzeichen S 16 KA 32/13) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landes-sozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Juni 2016 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 70 951,26 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger, dessen Zulassung als MKG-Chirurg am 30.9.2003 endete, wendet sich gegen Honorarkürzungen wegen Unwirtschaftlichkeit in den Quartalen I/2002, III/2002 und I/2003 in Höhe von insgesamt 70 951,26 Euro. Ein erster Bescheid des beklagten Beschwerdeausschusses vom 15.12.2009 wurde vom SG aufgehoben (Urteil vom 17.8.2011). Eine Verpflichtung zur Neubescheidung sprach das SG nicht aus. Ein weiterer Bescheid des Beklagten erging am 18.12.2012. Diesen Bescheid hat das SG mit Urteil vom 18.2.2015 aufgehoben und den Beklagten zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet. Das LSG hat mit Urteil vom 16.6.2016 die Berufungen des Klägers und des Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden hat. Dabei ist das LSG davon ausgegangen, dass der Kläger mit allen Einwendungen, die er bereits im ersten Verfahren vor dem SG (Urteil vom 17.8.2011) vorgebracht hatte, nunmehr ausgeschlossen war, weil insoweit eine Bindungswirkung eingetreten sei und zwar auch, soweit das Urteil des SG zu seinem Vortrag keine Stellungnahme enthielt. Der Beklagte sei aber nicht berechtigt gewesen, im nunmehr angefochtenen Bescheid zu Lasten des Klägers weniger als 5 % des Fallwertes als kompensatorische Einsparungen zu berücksichtigen. Außerdem hätten die unterdurchschnittlichen Abrechnungen des Klägers im vertragsärztlichen Bereich ggf durch Zubilligung eines großzügigeren Toleranzwertes berücksichtigt werden müssen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in der Entscheidung des LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde, zu deren Begründung er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend macht.
II. Die Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.
1. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG liegen nicht vor. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache setzt eine Rechtsfrage voraus, die in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 3 RdNr 13 mwN; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 5 RdNr 3). Die Klärungsbedürftigkeit fehlt dann, wenn die Frage bereits geklärt ist und/oder wenn sie sich ohne Weiteres aus den Rechtsvorschriften und/oder aus der bereits vorliegenden Rechtsprechung klar beantworten lässt. Das ist hier der Fall.
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Der Kläger stellt die Frage, |
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"ob in Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren nach § 106 SGB V ergangene Urteile, die weder in ihrem Ausspruch - Tenor - noch in ihren Urteilsgründen auf eine Neubescheidung verpflichten und damit ausschließlich eine Kassation beinhalten, außerhalb der durch einen irreparablen Gesamtmangel formulierten Ausnahmen mit Blick auf ihre 'ureigene' materielle - innere - Rechtskraft stets dieselbe Bindungswirkung entfalten, wie sie Bescheidungsurteilen zukommt". |
Diese Frage kann auf der Grundlage des allgemeinen Prozessrechts und der Rechtsprechung des Senats eindeutig beantwortet werden. Nach der Rechtsprechung des Senats ist allein der Bescheid des Beschwerdeausschusses Gegenstand der Klage in Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung (stRspr seit BSG Urteil vom 9.3.1994 - 6 RKa 5/92 - BSGE 74, 59, 62 = SozR 3-2500 § 106 Nr 22 S 120). Der Klageantrag muss regelmäßig darauf gerichtet sein, dass der angefochtene Bescheid des Beschwerdeausschusses aufgehoben und der Beschwerdeausschuss verpflichtet wird, den Bescheid der Prüfungsstelle aufzuheben oder - je nach Verfahrenssituation - den Widerspruch der Krankenkasse gegen den für den Arzt positiven Bescheid der Prüfungsstelle zurückzuweisen (Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, 2008, S 325 f; kritisch zur verfahrensrechtlichen Handhabung durch das BSG: Clemens in juris-PK SGB V, 3. Aufl 2016, § 106 RdNr 441 ff). Beschränkt sich dennoch der Klageantrag und dementsprechend der Ausspruch im Tenor des Urteils auf die Aufhebung des angefochtenen Bescheides, ergibt sich die Verpflichtung des Beschwerdeausschusses zu einer erneuten Entscheidung, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, bereits daraus, dass er eine Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses zu treffen hat. Einer erneuten Entscheidung des Beschwerdeausschusses bedarf es nur dann nicht mehr, wenn sich aus den Gründen eines Urteils ergibt, dass eine weitere Entscheidung aus Rechtsgründen ausgeschlossen ist. In dem (Regel)Fall, dass bei nicht ordnungsgemäßer Ausübung des Beurteilungsspielraums durch die Prüfgremien in entsprechender Anwendung von § 131 Abs 3 SGG ein Bescheidungsurteil ergeht, bestimmt die in den Entscheidungsgründen des Urteils als maßgeblich zum Ausdruck gebrachte Rechtsauffassung des Gerichts die Reichweite von dessen Rechtskraft (BSGE 43, 1, 3 = SozR 1500 § 131 Nr 4 S 5). Die Bindungswirkung eines Bescheidungsurteils erfasst dabei nicht allein die Gründe, aus denen das Gericht den angefochtenen Verwaltungsakt als rechtswidrig aufhebt. Die materielle Rechtskraft erstreckt sich vielmehr auch auf alle Rechtsauffassungen, die das Bescheidungsurteil der Behörde bei Erlass des neuen Verwaltungsakts zur Beachtung vorschreibt (BSG SozR 4-1500 § 141 Nr 1 RdNr 22 mwN; s auch BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 29 RdNr 15).
Diese Wirkungen der Rechtskraft eines Bescheidungsurteils bringen es mit sich, dass ein Vertragsarzt seine Einwände gegen einen Honorarkürzungs- oder Regressbescheid im Klageverfahren vollständig und substantiiert vorbringen muss. Wenn das Gericht den Beklagten zur Neubescheidung verurteilt und dabei der Rechtsauffassung des Klägers nicht in vollem Umfang folgt, so kann der Kläger bei der erneuten Bescheidung mit denjenigen Einwendungen, die das Gericht in seiner für die Neubescheidung für maßgeblich erklärten Rechtsauffassung nicht berücksichtigt hat, aufgrund der Bindungswirkung des rechtskräftig gewordenen Urteils nicht mehr gehört werden. Dies gilt auch, wenn das Gericht zu einzelnen vom Kläger erhobenen Einwendungen in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich Stellung nimmt und sie damit nicht zum Inhalt seiner für die Neubescheidung maßgeblichen Rechtsauffassung macht. Auch in diesem Fall ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das Vorbringen zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung gewürdigt, ihm aber keine Maßgeblichkeit für die Neubescheidung beigemessen hat (BSG SozR 4-1500 § 141 Nr 1 RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 88, 193, 204 = SozR 3-2500 § 79a Nr 1 S 13; Senatsbeschluss vom 23.5.2007 - B 6 KA 27/06 B - Juris, dort RdNr 23, mit Hinweis auf BVerfG ≪Kammer≫, DVBl 2007, 253, 254).
Bei einem stattgebenden Urteil auf eine Anfechtungsklage müssen zur Bestimmung der Tragweite der in Rechtskraft erwachsenen Urteilsformel ebenfalls die Entscheidungsgründe des Urteils herangezogen werden (BSG Beschluss vom 22.9.1999 - B 13 RJ 71/99 B - Juris RdNr 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 141 RdNr 10a; vgl auch BSGE 8, 185, 189 mwN). Die Bindung eines stattgebenden Urteils auf eine Anfechtungsklage geht aber nur soweit, wie die Aufhebungsgründe die Entscheidung tragen. Wird einer Anfechtungsklage wegen Begründungsmängeln stattgegeben, steht fest, dass der Verwaltungsakt mit dieser Begründung rechtswidrig war (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 141 RdNr 10a). Eine weitergehende Bindung kann das Kassationsurteil nicht entfalten. Da dem Anfechtungsbegehren bereits dann stattzugeben ist, wenn der Verwaltungsakt aus einem von mehreren geltend gemachten Gründen rechtswidrig ist, wird das Gericht sich häufig nicht zu allen rechtlich relevanten Gesichtspunkten äußern. Anders als beim Bescheidungsurteil, das alle aus Sicht des Gerichts maßgeblichen Fragen behandeln muss, um im Sinne effektiven Rechtsschutzes eine ausreichende Bescheidungsvorgabe zu geben, kann sich das Urteil auf eine Anfechtungsklage auf einen einzelnen Aspekt beschränken, der bereits die Kassation trägt. Bindungswirkung können die Entscheidungsgründe daher nur hinsichtlich der konkret aufgezeigten Mängel oder der ausdrücklich gebilligten Gesichtspunkte haben. Rechtsfragen, zu denen sich eine solche Entscheidung nicht äußert, können indes nicht im positiven Sinne als unbeanstandet angesehen werden.
Kann die vom Kläger gestellte Rechtsfrage mithin anhand der bisherigen Rechtsprechung beantwortet werden, ist darüber hinaus auch eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung nicht erkennbar. Angesichts der gefestigten Rechtsprechung des BSG zum prozessualen Vorgehen in Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung stellt die isolierte Aufhebung des Bescheides des Beschwerdeausschusses eine seltene Ausnahme dar. Es entzieht sich auch einer generellen Festlegung, wie das LSG eine solche Konstellation behandelt, wenn es erneut über den Streitgegenstand zu befinden hat. Insoweit kommt es immer auch darauf an, ob der Kläger nach dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe davon ausgehen konnte, seinen Bedenken sei Rechnung getragen worden, sodass er von vornherein keinen Anlass hatte, Berufung einzulegen. Letzteres muss der Kläger tun, der die Maßgabe des aufhebenden SG-Urteils nicht gegen sich gelten lassen will oder geltend macht, etwa wegen Überschreitung der Ausschlussfrist überhaupt keinen Prüfmaßnahmen mehr ausgesetzt sein zu dürfen. Dieses Verfahren ist insgesamt deutlich von den Besonderheiten des Einzelfalls geprägt, was sich nicht zuletzt auch an der Dauer des Verfahrens zeigt. Auch soweit der Kläger einzelne Beurteilungen des LSG rügt, etwa einen zu Unrecht vom LSG gebilligten Wechsel der Prüfmethode, zeigt er aus seiner Sicht bestehende Unrichtigkeiten im konkreten Fall auf. Selbst wenn solche bestehen und das LSG möglicherweise höchstrichterliche Entscheidungen unzutreffend auf den Fall übertragen hat, vermag dies weder eine grundsätzliche Bedeutung noch - wie vom Kläger angedeutet - eine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG zu begründen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm §§ 154 ff VwGO. Als erfolgloser Rechtsmittelführer hat der Kläger die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen (§ 154 Abs 2 VwGO).
3. Die Festsetzung des Streitwerts entspricht der Honorarkürzung in den streitbefangenen Quartalen (§ 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 52 Abs 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG).
Fundstellen