Verfahrensgang

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 02.05.2017; Aktenzeichen S 18 P 4717/16)

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 07.12.2018; Aktenzeichen L 4 P 2381/17)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. Dezember 2018 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Das LSG Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 7.12.2018 einen Anspruch des im Jahr 2009 geborenen, an Diabetes mellitus Typ I leidenden Klägers auf Gewährung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I für die Zeit vom 26.2.2016 bis 15.9.2016 und nach der Pflegestufe II für die Zeit vom 16.9.2016 bis 31.12.2016 auf der Grundlage des bis zum 31.12.2016 gültigen SGB XI (aF) verneint: Nach den Ergebnissen des Gutachtens der Pflegekräfte S. und G. bestehe der tägliche Grundpflegebedarf des Klägers unter Berücksichtigung des Hilfebedarfs eines gesunden gleichaltrigen Kindes nur in Höhe von täglich 18 Minuten. Dieser Bedarf unterschreite den notwendigen Mindestbedarf an täglicher Grundpflege von mehr als 45 Minuten gemäß §§ 14, 15 SGB XI aF. Maßnahmen der Behandlungspflege oder krankenspezifische Pflegemaßnahmen, die nicht im untrennbaren Zusammenhang zu Verrichtungen der Grundpflege nach dem SGB XI aF stünden, könnten hier keine Berücksichtigung finden. An einem solchen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Grundpflegebereich "Ernährung" und den mit dem Diabetes zusammenhängenden Maßnahmen (die Messung des Blutzuckers, Verabreichung von Insulin, Vorrichtungen zur Ermöglichung der stoffwechselgerechten Nahrungsaufnahme und -verarbeitung) fehle es nach der Rechtsprechung des BSG (Hinweis ua auf BSG Urteil vom 28.9.2017 - B 3 P 3/16 R - juris). Nichts anderes gelte auch für den Hilfebedarf bei der Überwachung und medikamentösen Regulierung der Stoffwechselerkrankung und bei der Überwachung der Aufnahme der erforderlichen Nahrungsmenge und der Anleitung und Aufforderung während der täglichen Mahlzeiten (Hinweis auf BSG aaO). Auch die Begleitung des Klägers zur Schule unterfalle nicht den Maßnahmen nach dem SGB XI aF.

Gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Er beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und auf Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 3 SGG).

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht ordnungsgemäß dargetan sind (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

a) Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65).

Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig folgende Fragen:

"1. Besteht ein unmittelbarer und zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen Grundpflege und der Versorgung des Patienten?

2. Welchem Leistungsträger fällt die Versorgung des Patienten anheim?

3. Hat der Patient die Wahl, ob er sich durch Dritte oder Angehörige versorgen lässt und wer leistet?

4. Ist die bisherige unentgeltliche 24-h-Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes Mellitus Typ 1 den Angehörigen verfassungsrechtlich zumutbar?

5. Ist ein kategorisches Festhalten an der ständigen Rechtsprechung des BSG verfassungsrechtlich statthaft, wenn die Rechtsfortbildung dadurch ausgeschlossen wird, dass die Rechtsauffassung des BSG Eingang in die Begutachtungsrichtlinien dergestalt stattgefunden hat, dass hierdurch bereits im Erkenntnisverfahren entsprechender, einseitiger Einfluss auf die Tatbestandsfeststellungen genommen wird, sodass das Ausgangsgericht bereits im Hinblick auf die gutachterliche Tatsachenfeststellung einseitig vorbeeinflusst und gebunden wird?

6. Ist ein kategorisches Festhalten an der ständigen Rechtsprechung des BSG verfassungsrechtlich statthaft, wenn ein Abweichen im Einzelfall jedoch tatsächlich unmöglich ist?"

Diese Rechtsfragen stellten sich vor dem Hintergrund, dass er (der Kläger) durch seine alleinerziehende Mutter versorgt werden müsse und diese hierdurch an einer Erwerbstätigkeit gehindert werde, so dass sie auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sei, weil Entlastungsangebote nicht bestünden. Überdies beruft er sich auf statistische und medizinische Informationen über Diabetes mellitus Typ I. Die ständige Rechtsprechung des BSG bilde die tatsächliche Versorgungssituation der erkrankten Kinder nicht hinreichend ab; dies habe eine verfassungsrechtliche Dimension.

Die Darlegungen in der Beschwerdebegründung genügen nicht den aufgezeigten Anforderungen an die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragen. Es ist bereits zweifelhaft, ob es sich jeweils um Rechtsfragen handelt. Die Fragen enthalten teilweise Tatsachenelemente, die durch Feststellungen des LSG zu beantworten wären. Sie stellen insofern keine Rechtsfragen dar. Aber auch im Übrigen bleibt offen, auf welche Auslegung bzw welchen Anwendungsbereich einer revisiblen Norm des Bundesrechts (§ 162 SGG) sich die gestellten Fragen beziehen. Da der Kläger seine Ansprüche auf den Zeitpunkt bis 31.12.2016 beschränkt hat, ist jedenfalls davon auszugehen, dass er die grundsätzliche Klärung von Normen des ausgelaufenen Rechts begehrt (SGB XI idF bis 31.12.2016). Die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit von ausgelaufenem Recht ist indes in der Regel zu verneinen, es sei denn, dass noch eine erhebliche Anzahl von Fällen zu entscheiden ist und darin die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage liegt. Für die Statthaftigkeit einer solchen Nichtzulassungsbeschwerde muss der Beschwerdeführer im Einzelnen die Voraussetzung der Klärungsbedürftigkeit einer solchen Rechtsfrage darlegen (stRspr vgl nur BSG SozR 1500 § 160a Nr 19). Solcher Vortrag ergibt sich aus der Beschwerdebegründung aber nicht.

Soweit der Kläger mit den Fragen zu 4. bis 6. die Problematik aufwirft, dass bei ihm eine Mangelversorgung und eine damit verbundene Verletzung von Grundrechten (Art 2 Abs 2, Art 3 Abs 3, letzte Alt iVm Art 6 Abs 2 Satz 2, Abs 5 GG) vorliege und er der Ansicht ist, dass das BSG sich bislang nicht mit den verfassungsrechtlichen Dimensionen seiner bisherigen Rechtsprechungspraxis beschäftigt habe, noch es bislang unternommen habe, sich mit dem Diabetes mellitus Typ I bei Kindern im Hinblick auf deren konkrete Versorgungssituation, noch im Hinblick auf ihren tatsächlichen Anteil an allen Pflegebedürftigen zahlenmäßig überhaupt auseinanderzusetzen, fehlt es ebenso an hinreichender Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Denn es ist nicht ausreichend, sich auf die bloße Behauptung der Verfassungswidrigkeit von Normen zu beschränken, wenn mit der Rechtsfrage ein Verfassungsverstoß geltend gemacht wird. Vielmehr ist dann unter Berücksichtigung und Auswertung der Rechtsprechung des BSG und des BVerfG zu der oder den als verletzt erachteten Verfassungsnormen in substantieller Argumentation darzulegen, welche gesetzlichen Regelungen welche Auswirkungen haben und woraus sich im konkreten Fall die Verfassungswidrigkeit ergibt (vgl nur BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11 mwN). Das ist vorliegend nicht dargetan, zumal eine - vom LSG aufgezeigte - gefestigte Rechtsprechung des BSG zur Versorgung von Kindern mit Diabetes mellitus Typ I in der Pflegeversicherung nach alter Rechtslage existiert und der Kläger dem nur seine eigene Rechtsansicht entgegensetzt, ohne kritische Stimmen in der Literatur oder anderslautende Rechtsprechung zu benennen.

Allein der Wunsch nach einer Reform der Pflegegesetze und ggf Anpassung an tatsächliche Verhältnisse begründet keine Verfassungswidrigkeit des bisherigen Normkonzepts. Das BSG (Urteil vom 18.2.2016 - B 3 P 2/14 R - SozR 4-3300 § 42 Nr 1 RdNr 31 - 32) hat betont, dass die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit besonders groß ist, wenn ein Sozialleistungssystem wie die soziale Pflegeversicherung ohnehin nur die Teilabsicherung eines Risikos bewirken soll (vgl auch BVerfGE 103, 242, 244). Ebenso wenig kann im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung darauf abgestellt werden, was aus Sicht der Menschen, die einen nachvollziehbaren Unterstützungsbedarf haben, und aus der Sicht ihrer Angehörigen wünschenswert oder gar unerlässlich erscheint (so BVerfG Beschluss vom 22.5.2003 - 1 BvR 1077/00 - SozR 4-3300 § 14 Nr 1 RdNr 11 = juris RdNr 18).

b) Der Kläger hat auch keinen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Der Kläger führt aus, das Berufungsgericht habe seinen Vortrag nicht beachtet und somit liege eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs iS von Art 19 Abs 4 iVm Art 103 Abs 1 GG vor. Das angegriffene Berufungsurteil beruhe auf einer unreflektierten Übernahme der bisherigen Rechtsprechungspraxis des BSG im Hinblick auf die Behandlung von Diabetes mellitus Typ I bei Kindern. Eine Auseinandersetzung mit seinen Einwänden (des Klägers) zu dieser Rechtsprechungspraxis habe nachweislich nicht stattgefunden. Es fänden sich keinerlei sprachliche Hinweise darauf, was er konkret vorgetragen habe. Der Wortlaut des Berufungsurteils liefere keinerlei Hinweise darauf, dass sich das Gericht auch nur ansatzweise mit seinem (des Klägers) Vorbringen beschäftigt habe und keinen Hinweis darauf, aus welchen konkreten Gründen das Vorbringen nicht entscheidungserheblich gewesen sein sollte.

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst indessen nur, dass Gerichte das von ihnen entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in ihre Erwägungen einbeziehen (stRspr, vgl nur BVerfGE 47, 182; BSG SozR 1500 § 62 Nr 13 S 12; zuletzt Senatsbeschluss vom 17.9.2019, B 3 KR 67/18 B - juris). Davon, dass dies geschehen ist, darf auch vorliegend ausgegangen werden. Dass das LSG den Vortrag des Klägers in diesem Sinne hinlänglich berücksichtigt hat, ergibt sich aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung. Dort hat das LSG den Vortrag des Klägers wiedergegeben (S 10 und S 12 des Urteils) und hat anhand der maßgeblich relevanten Rechtsprechung des BSG ausführlich dargelegt, aus welchem Grund dem Kläger unter Würdigung seiner Argumentation kein weiterer Anspruch auf Pflegegeld zusteht. Der Umstand, dass das LSG den vom Kläger für entscheidungserheblich erachteten Gesichtspunkten im Berufungsverfahren nicht gefolgt ist, begründet hingegen keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet nur, dass der Kläger mit seinem Vortrag gehört wird. Die Gerichte werden durch Art 103 Abs 1 GG aber nicht dazu verpflichtet, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (stRspr vgl nur BSG Beschlüsse vom 10.10.2017 - B 13 R 234/17 B - juris RdNr 6 und vom 28.9.2018 - B 9 V 22/18 B - juris RdNr 11).

c) Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

d) Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI13613579

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