Leitsatz (amtlich)
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse (RVO § 608) kann auch bei gleichbleibendem medizinischem Befund in der Anpassung oder Gewöhnung des Verletzten an die Unfallfolgen erblickt werden. Die Beurteilung der Frage, ob Anpassung oder Gewöhnung eingetreten ist, hängt in der Regel nicht ausschließlich von medizinischer Sachkunde ab. Ein Gericht, das bei der Entscheidung dieser Frage eine von den ärztlichen Gutachten abweichende eigene Auffassung vertritt, überschreitet nicht schon damit die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung.
Normenkette
RVO § 608 Fassung: 1924-12-15; SGG § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 20. Dezember 1955 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Der als Maler in einer Holzwarenfabrik beschäftigte Kläger erlitt am 10. September 1948 bei der Arbeit an der Kreissäge eine schwere Verletzung der linken Hand. Wegen der Folgen dieses Unfalls - Verlust des fünften Fingers und Gebrauchsunfähigkeit der versteiften Finger eins bis vier, teilweise Versteifung des linken Handgelenks - gewährte die Beklagte dem Kläger eine vorläufige Rente für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 60 v.H.. Im September 1949 setzte sie diese Rente auf 50 v.H. herab mit der Begründung, es sei eine Anpassung an den Zustand eingetreten. In derselben Höhe wurde im August 1950 die Dauerrente festgesetzt. Nachdem fachärztliche Untersuchungen des Klägers durch Dr. L... am 14. August 1951 und 18. Juli 1953 keine Besserung des Befundes ergeben hatten, holte die Beklagte ein Gutachten von Landesobermedizinalrat Dr. P... ein. Dieser stellte bei der Untersuchung am 12. August 1953 im wesentlichen denselben Befund fest; er meinte jedoch, es sei weitgehende Gewöhnung an die Unfallfolgen anzunehmen, da der Kläger die linke Hand trotz der weitgehenden Fingerversteifungen noch als sogenannte Beihand zu wesentlichen Verrichtungen benutzen könne; der dem Verlust aller Finger an der linken Hand entsprechende Zustand sei mit einer dauernden MdE. von 40 v.H. zu bewerten. Auf Grund dieses Gutachtens setzte die Beklagte unter Hinweis auf die Anpassung des Klägers an die Unfallfolgen die Dauerrente auf 40 v.H. herab.
Das Oberversicherungsamt ließ den Kläger durch den gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr. W... und den Chirurgen Dr. K... begutachten. Beide Ärzte schätzten die MdE. des Klägers nach "allgemeinen Richtlinien" auf 40 v.H.; während Dr. W... dazu noch eine größere Beuge- und Streckfähigkeit des Handgelenks sowie eine bessere Durchblutung der Hand beobachtete, wurden diese Merkmale einer objektiven Besserung von Dr. K... nicht festgestellt. Nach dem Übergang des Verfahrens auf das Sozialgericht (SG.) hat dieses noch den gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr. P... gehört, der unter Vergleich der vorher erhobenen Befunde den Eintritt einer wesentlichen Änderung verneint, jedoch die Ansicht vertreten hat, bei der schweren Verletzung könne auch noch erhebliche Zeit nach dem Unfall weitgehende Gewöhnung angenommen werden; die MdE. betrage nach herkömmlichen Richtlinien 40 v.H.. Das SG. hat hierauf die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG.) eine Auskunft des Arbeitgebers über die Lohn- und Arbeitsverhältnisse des Klägers eingeholt. Der in der mündlichen Verhandlung gehörte ärztliche Sachverständige Dr. T... hat wie vorher Dr. W... eine größere Beweglichkeit des Handgelenks, sonst dagegen keine Änderung gegenüber dem 1950 erhobenen Befund festgestellt. Sieben Jahre nach dem Unfall sei jetzt eine gewisse Gewöhnung an den Zustand der verletzten Hand anzunehmen, die Hand könne als sogenannte Beihand mit einer dauernden MdE. von 40 v.H. bezeichnet werden. Das LSG. hat unter Aufhebung der früheren Entscheidungen die Beklagte zur Weitergewährung der Dauerrente von 50 v.H. über den 30. September 1953 hinaus verurteilt. Im Urteilstatbestand sind die Äußerungen der im Verfahren gehörten ärztlichen Sachverständigen sowie die Auskunft des Arbeitgebers dem wesentlichen Inhalt nach angeführt. Das LSG. hält die Voraussetzungen einer Neufeststellung der Dauerrente nach § 608 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht für gegeben: Der Zustand der Hand habe sich seit Mitte 1950 nicht verändert. Die von Dr. P... angenommene Besserung durch weitgehende Gewöhnung werde durch den Augenschein nicht bestätigt. Der Kläger sei nicht so gut gestellt, wie wenn er sämtliche Finger verloren hätte, die Hand aber im übrigen gesund wäre. Die bessere Beugefähigkeit des Handgelenks rechtfertige nicht die Herabsetzung der Rente auf eine MdE. von 40 v.H..
Die Beklagte hat ihre form- und fristgerecht eingelegte Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit §§ 103, 106, 112 und 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gestützt. Sie erblickt - unter Hinweis auf das Urteil des 4. Senats vom 25. August 1955 (SozR. SGG § 128 Bl. Da 1 Nr. 2) - eine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung darin, daß das LSG. entgegen den übereinstimmenden Äußerungen von fünf Ärzten ohne zureichende Begründung eine Gewöhnung des Klägers an die Unfallfolgen und die darauf beruhende Steigerung der Erwerbsfähigkeit um 10 v.H. verneint hat. Den vom Gericht hervorgehobenen augenscheinlich schlechten Zustand der Hand hätten auch die ärztlichen Sachverständigen bei ihren Schätzungen berücksichtigt. Zumindest hätte sich das LSG. mit allen Gutachten auseinandersetzen müssen und sich nicht damit begnügen dürfen, allein das Gutachten des Dr. P... anzuführen. Insbesondere zu dem Gutachten des Dr. E... hätte das LSG. unbedingt Stellung nehmen müssen, da dort überzeugend ausgeführt werde, mit Rücksicht auf die Schwere der Verletzung sei selbst noch im erheblichen zeitlichen Abstand nach dem Unfall eine weitgehende Gewöhnung wahrscheinlich. Auch ohne die Stellungnahme der Gutachter hätte das LSG. schon auf Grund des medizinischen Erfahrungssatzes, daß durch Zeitablauf eine Gewöhnung an Unfallfolgen eintrete, zu dem Ergebnis gelangen müssen, daß eine wesentliche Besserung im Körperzustand des Klägers eingetreten sei. - Das LSG. habe auch seine Amtsermittlungspflicht verletzt, indem es die von den Sachverständigen hervorgehobene Tatsache außer acht gelassen habe, daß der Umfang des linken Unterarms 1953 gegenüber dem Befund von 1950 um 1 bis 1,5 cm zugenommen habe.
Die vom LSG. nicht zugelassene, ausschließlich auf die Rüge wesentlicher Verfahrensmängel gestützte Revision, wäre nur statthaft, wenn die gerügten Verfahrensmängel vorlägen (vgl. BSG. 1, 150). Das ist nicht der Fall.
In einer fehlerhaften Beweiswürdigung wäre nur dann ein Mangel des Verfahrens zu erblicken, wenn das Berufungsgericht die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten, insbesondere hierbei gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze verstoßen hätte (vgl. BSG. 2, 236). Derartige Verstöße sind bei dem angefochtenen Urteil - obwohl dessen Begründung sehr knapp gehalten ist - nicht festzustellen. Zwar bedeutet es auch nach Auffassung des beschließenden Senats eine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn ein Gericht bei der Beurteilung medizinischer Fragen ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Äußerungen aller gehörten ärztlichen Sachverständigen hinweggeht und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt (vgl. EuM. 15 S 233; SozR. SGG § 128 Bl. Da 1 Nr. 2; 10. Senat, Urteil vom 26.11.1957 - 10 RV 610/55 -, mitgeteilt in SGb. 1958 S. 16 Nr. 1; 2. Senat, Urteil vom 11.12.1957 - 2 RU 336/55 -, mitgeteilt in SGb. 1958 S. 18 Nr. 16; 11. Senat, Beschluß vom 4.7.1958 - 11 RV 200/58 KOV. 1958 Rechtspr. Nr. 864 Leits. c). Dieser Grundsatz gilt aber im vollen Umfang nur bei rein medizinischen Fragen, für deren Beurteilung dem Gericht regelmäßig die eigene Sachkunde fehlt, wie insbesondere bei den Fragen des ursächlichen Zusammenhangs zwischen schädigenden Einwirkungen und Gesundheitsstörungen sowie des zugrunde zu legenden medizinischen Befundes (vgl. SozR. SGG § 128 Bl. Da 9 Nr. 25). Dagegen ist das Gericht den ärztlichen Sachverständigen gegenüber freier gestellt bei der Beurteilung der Frage, in welchem Maße die Unfallfolgen die Erwerbsfähigkeit des Verletzten beeinträchtigen. Bei dieser "Gradfrage" bedeuten ärztliche Gutachten zwar einen wichtigen und oft unentbehrlichen Anhaltspunkt für die richterliche Schätzung der MdE., sind aber nicht schlechthin maßgebend; das Gericht, das bei dieser Schätzung auch die nicht auf medizinischem Gebiet liegenden Umstände des Einzelfalles auf Grund der Lebenserfahrung berücksichtigen muß, hat deshalb insoweit gegenüber etwaigen Vorschlägen ärztlicher Sachverständiger zur Höhe der MdE. einen Ermessensspielraum (vgl. BSG. 4 S. 147 [149]; SozR. SGG § 128 Bl. Da 9 Nr. 25).
Was hiermit zur Schätzung der MdE. im allgemeinen ausgeführt wurde, gilt entsprechend auch in dem vorliegenden besonderen Fall einer Neubemessung der MdE. auf Grund einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse (§ 608 RVO). Als eine solche Änderung wird - abgesehen von der regelmäßig nur von ärztlichen Sachverständigen zu beurteilenden Besserung oder Verschlechterung des objektiven Befundes - von der Rechtsprechung auch die (aktive) Anpassung und die (passive) Gewöhnung des Verletzten an den durch den Unfall veränderten Körperzustand angesehen (vgl. RVO, Mitgl. Komm. Bd. III 2. Aufl., Anm. 4 zu § 608; Podzun, ZfS. 1957 S. 203, Schönberger, DVZ. 1957 S. 157). Hierbei wird die Lebenserfahrung berücksichtigt, daß sich die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auch nach an sich irreparablen Körperschäden dadurch wieder erhöhen kann, daß im Laufe mehr oder minder langer Zeit gesunde Gliedmaßen die Funktionen geschädigter oder verlorener Glieder übernehmen oder der Verletzte größere Geschicklichkeit im Gebrauch der geschädigten Körperteile erlangt. Nach Auffassung des Senats besteht kein Anlaß, diese auch in neuerer Zeit bestätigte Rechtsprechung (vgl. z.B. für die Rentenversicherung Bayer. LVAmt, Breithaupt 1951 S. 264; LSG. Nordrhein-Westfalen, Breithaupt 1955 S. 848) aufzugeben. Auch der Vorderrichter ist offenbar grundsätzlich hiervon ausgegangen. Ob allerdings der vom Reichsversicherungsamt (RVA.) vertretene Standpunkt, Gewöhnung an Unfallfolgen könne im Laufe der Neufeststellungen einer Rente mehrmals geltend gemacht werden, noch weiterhin zu billigen ist, könnte fraglich erscheinen. Verneint man diese Möglichkeit (so Podzun a.a.O. mit beachtenswerten Erwägungen), so wäre im vorliegenden Fall der angefochtene Bescheid schon deswegen als rechtswidrig anzusehen, weil die Beklagte bereits ihren Bescheid über die Herabsetzung der vorläufigen Rente vom 16. September 1949 mit einer "Anpassung" begründet hatte. Dies kann jedoch unentschieden bleiben. Denn der Revisionsangriff, die Abweichung des LSG. von den Auffassungen der ärztlichen Sachverständigen bedeute eine Überschreitung der Grenzen des Beweiswürdigungsrechts, erweist sich bereits nach den obigen Darlegungen als irrig. Die Frage, ob Anpassung oder Gewöhnung an Unfallfolgen eingetreten ist, kann nämlich nicht in jedem Falle ausschließlich auf Grund medizinischer Sachkunde beurteilt werden. Vielmehr gehört hierzu neben ausreichenden ärztlichen Feststellungen auch eine sorgfältige Prüfung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse des Verletzten, die das Gericht auf Grund seiner Lebenserfahrung, unter Umständen aber auch mit Hilfe nichtärztlicher, z.B. technischer Sachverständiger vornehmen muß. Das RVA. hat diesen außermedizinischen Umständen mit Recht erhebliche Bedeutung beigemessen und dabei auch den gerichtlichen Augenschein als gegebenenfalls wertvolles Erkenntnismittel bezeichnet (vgl. AN. 1912 S. 810 Nr. 2540; 1921 S. 334 Nr. 2647; EuM. 2 S. 212).
Bereits aus diesem Grunde war also das LSG. nicht genötigt, sich der Schätzung der MdE. durch Dr. P... und die späteren gerichtlich bestellten Sachverständigen anzuschließen. Es hätte sich übrigens - was die Revision übersieht - für seinen Standpunkt, daß 1953 eine Anpassung und Gewöhnung nicht vorlag, auf das im Juli 1953, also nur vier Wochen vor der Hinzuziehung des Dr. P... erstattete Gutachten des Dr. D... stützen können, mit dessen Auffassung sich die gerichtsärztlichen Sachverständigen nicht auseinandergesetzt haben. Aber davon abgesehen ist die Beweiswürdigung des LSG. auch deshalb bedenkenfrei, weil - wie der Kläger der Revision mit Recht entgegenhält - in den Gutachten des Dr. Paal und der ihm folgenden vier ärztlichen Sachverständigen die Annahme einer durch Gewöhnung eingetretenen wesentlichen Änderung der Verhältnisse nicht ausreichend begründet worden ist. Diese Gutachter haben sich nämlich durchweg damit begnügt, auf den Zeitablauf hinzuweisen und den Kläger mit einem Verletzten zu vergleichen, der sämtliche Finger der linken Hand verloren und nach "allgemeinen Richtlinien" Anspruch auf eine MdE. von 40 v.H. habe. Daß solche Darlegungen nicht genügen, den Eintritt von Anpassung und Gewöhnung vom medizinischen Standpunkt aus überzeugend zu rechtfertigen, braucht nicht näher ausgeführt zu werden. Statt greifbare Merkmale anzugeben, aus denen Anpassung oder Gewöhnung gefolgert werden kann, wird hier lediglich "schablonenhaft" der abstrakte Begriff der Gewöhnung gehandhabt - ein Verfahren, das schon vom RVA. zutreffend beanstandet worden ist (AN. 1912, 1921 a.a.O.). Der einzige Arzt, der beim Kläger nach der Dauerrentenfeststellung ein konkretes Anzeichen einer Gewöhnung an den Zustand der linken Hand beobachtet und darüber berichtet hat, war Dr. D... der in seinem Gutachten vom 14. August 1951 erwähnte, der Kläger könne durch Heranführung des linken Daumens an den zweiten Mittelhandknochen sich geringfügige Hilfe beim Ankleiden geben. Brauchbare Feststellungen dieser Art sind in den Äußerungen des Dr. P... und der später hinzugezogenen Sachverständigen nicht enthalten. Deshalb bestand für das LSG. kein Anlaß, diese Äußerungen mit besonders eingehenden Gegengründen zu widerlegen. Ebenso erübrigte sich eine gesonderte Auseinandersetzung mit den vier gerichtlich bestellten ärztlichen Sachverständigen, denn diese hatten sich lediglich dem von Dr. P... vertretenen Standpunkt angeschlossen, ohne dessen Ausführungen etwas wesentlich Neues hinzuzufügen; dies gilt auch mit Bezug auf die von der Revision hervorgehobene Stellungnahme des Dr. F... in dessen Darlegungen nur eine vielleicht geschickter formulierte, aber letztlich doch ebenfalls rein theoretische Begründung für die Annahme einer Gewöhnung des Klägers an die Unfallfolgen zu erblicken ist.
Ein Mangel des berufungsgerichtlichen Verfahrens liegt schließlich auch - entgegen dem Revisionsvorbringen - nicht darin, daß das LSG. sich mit der von mehreren Gutachtern festgestellten Zunahme der Unterarmmuskulatur nicht näher befaßt hat. Diese geringfügige Änderung des objektiven Befundes ist nämlich - ebenso wie die von Dr. W... und Dr. T... beobachtete etwas größere Beuge- und Streckfähigkeit des Handgelenks - von den ärztlichen Sachverständigen nicht als wesentlich erachtet worden; denn sonst hätten sie nicht in ihren zusammenfassenden Beurteilungen den Vorschlag, von Oktober 1953 an nur noch eine MdE. von 40 v.H. anzuerkennen, ausschlaggebend mit dem Gewöhnungsfaktor begründet.
Die Revision ist hiernach nicht statthaft. Sie war deshalb als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2323997 |
NJW 1958, 1846 |
JR 1959, 238 |