Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. Pflicht zur Bescheidung eines Terminverlegungsantrags bis zum Verhandlungsbeginn. erfolgloser Telefonanruf. Möglichkeit eines Fax oder der Verlegung der Terminsstunde. Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Kommt der Vorsitzende seiner Pflicht zur Bescheidung eines Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrags bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung nicht nach, leidet das Verfahren wegen der Versagung rechtlichen Gehörs an einem wesentlichen Mangel (stRspr, zB BSG vom 3.7.2013 - B 12 R 38/12 B, vom 13.11.2012 - B 2 U 269/12 B und vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B).
2. Scheitert ein Telefonanruf des Vorsitzenden (hier: zu einem nicht rechtskundig vertretenen Antragsteller am Tag der mündlichen Verhandlung etwa eine Stunde vor Verhandlungsbeginn), weil lediglich ein Faxgerät erreicht wird, muss er zumindest ein Fax an das empfangsbereite Gerät des Antragstellers senden - oder, falls die Zeit dafür zu kurz ist, notfalls die Terminsstunde nach hinten verschieben.
Normenkette
SGG § 160a Abs 1, § 160a Abs 5, § 160 Abs 2 Nr. 3, §§ 62, 124 Abs 1, § 202 S. 1; ZPO § 227 Abs 1, § 227 Abs 4 S. 1 Hs. 1, § 329 Abs 2 S. 1; GG Art. 103 Abs 1
Verfahrensgang
SG Reutlingen (Gerichtsbescheid vom 01.02.2018; Aktenzeichen S 6 VH 1575/15) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 25.10.2018; Aktenzeichen L 6 VU 907/18) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Oktober 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt in der Hauptsache höhere Versorgungsleistungen.
Bei der Klägerin sind als gesundheitliche Schädigungsfolgen ihrer rechtsstaatswidrigen Entlassung aus dem Richterdienst der DDR psychoreaktive Störungen mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 anerkannt. Der Beklagte hat ihr daher zuletzt eine Grundrente nach einem GdS von 60 unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit sowie eine Ausgleichsrente und einen Berufsschadensausgleich gewährt. Daneben ist bei der Klägerin aufgrund schädigungsabhängiger und schädigungsunabhängiger psychischer Erkrankungen ein Grad der Behinderung von 80 anerkannt.
Mit Bescheid vom 8.11.2007 hat der Beklagte der Klägerin höhere Versorgungsleistungen verwehrt. Zwar habe sie durch eine Freiheitsentziehung und zeitweises Leben unter haftähnlichen Bedingungen weitere Schädigungen erlitten. Die daraus resultierenden Gesundheitsstörungen seien indes bereits berücksichtigt worden. Beim Zusammentreffen mehrerer Versorgungsansprüche werde nur eine Versorgung gewährt. Der Bescheid war Gegenstand eines inzwischen rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens durch alle sozialgerichtlichen Instanzen.
Am 1.7.2015 hat die Klägerin erneut Klage zum SG erhoben ua mit dem Ziel, den Beklagten zur Feststellung eines GdS von 80 seit November 1977 und zur rückwirkenden Zahlung entsprechend höherer Versorgungsleistungen zu verurteilen.
Das SG hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Es fehle an den erforderlichen erneuten Behördenentscheidungen; zudem sei über die Ansprüche der Klägerin in der Vergangenheit bereits rechtskräftig entschieden worden sei (Gerichtsbescheid vom 1.2.2018).
Im Berufungsverfahren hat die nicht rechtskundig vertretene Klägerin auf die Ladung des LSG zur mündlichen Berufungsverhandlung auf den 25.10.2018 am 21.9.2018 telefonisch eine Terminsverlegung beantragt. Sie habe einen Unfall erlitten, ihr rechter Arm sei seither geschient. Mit Schreiben vom 24.9.2018 hat das LSG die Klägerin gebeten, ein ärztliches Attest über ihre voraussichtliche Reise- oder Verhandlungsunfähigkeit am Terminstag vorzulegen. Eine Bescheinigung über Arbeitsunfähigkeit reiche nicht.
Knapp einen Monat später, am 23.10.2018, hat die Klägerin dem LSG per Fax erneut mitgeteilt, sie könne den Termin nicht wahrnehmen, da sie schwer erkrankt sei. Das verlangte Attest über ihre Reise- und Verhandlungsunfähigkeit werde ihr Hausarzt Dr T mit separatem Schreiben übermitteln. Sie beantrage Akteneinsicht und die Zulassung der Frau L als Rechtsbeistand.
Am Morgen des 24.10.2018 gegen neun Uhr übersandte Dr T das angekündigte Attest per Fax an das LSG. Der Versuch des Vorsitzenden, den Arzt am Nachmittag telefonisch zu erreichen, scheiterte; seine Praxis hatte bereits geschlossen. Am Morgen des darauffolgenden Terminstags, dem 25.10.2018, führte der Vorsitzende bis 8:34 Uhr ein kurzes Telefongespräch mit Dr T über das von ihm ausgestellte Attest. Sein anschließender Versuch, vor der für 9:50 Uhr angesetzten Terminsstunde auch die Klägerin noch telefonisch zu erreichen, misslang. Unter der angerufenen Nummer meldete sich nur ein Faxgerät. Zur mündlichen Verhandlung ist die Klägerin ebenso wenig erschienen wie ein Vertreter des beklagten Landes.
Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Das eingereichte Attest reiche nicht zur Glaubhaftmachung eines Verhinderungsgrundes aus, dafür sei es zu unbestimmt. Eine Mitteilung an die Klägerin sei nicht mehr möglich gewesen, weil das Attest zu kurzfristig eingereicht worden sei.
In der Sache fehle es ua an einem angreifbaren Verwaltungsakt und an einem Vorverfahren. Die ursprünglichen Bescheide des Beklagten über Leistungsbewilligungen seien zudem Gegenstand eines rechtskräftig abgeschlossenen früheren Verfahrens gewesen, weshalb Bindungswirkung bestehe (Urteil vom 25.10.2018).
Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt, mit der sie als Verfahrensfehler ua geltend macht, das LSG habe ihr rechtliches Gehör verletzt.
II. 1. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig. Ihre Begründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Insbesondere bezeichnet sie die Tatsachen, aus denen sich der geltend gemachte Verfahrensmangel (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Weitergehender Ausführungen zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler bedarf es nicht, wenn - wie hier - ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (BSG Beschluss vom 3.7.2013 - B 12 R 38/12 B - juris RdNr 8 mwN).
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Das LSG-Urteil ist schon deshalb verfahrensfehlerhaft, weil das LSG den Antrag der Klägerin auf Terminsaufhebung vom 21.9.2018 nicht ordnungsgemäß beschieden hat.
Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) umfasst auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG). Solche erheblichen Gründe sind auf Verlangen des Vorsitzenden glaubhaft zu machen (§ 227 Abs 2 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG). Über einen Aufhebungs- oder Verlegungsantrag hat der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 227 Abs 4 Satz 1 Halbsatz 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG). Ein Antrag auf Terminsaufhebung oder -verlegung ist förmlich (kurz) zu bescheiden, sofern dies noch technisch durchführbar und zeitlich zumutbar ist. Über die Entscheidung sind die Beteiligten in Kenntnis zu setzen, was auch formlos geschehen kann (vgl § 329 Abs 2 Satz 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG). Kommt der Vorsitzende seiner Pflicht zur Bescheidung eines Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrags bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung nicht nach, leidet das Verfahren wegen der Versagung rechtlichen Gehörs an einem wesentlichen Mangel (stRspr, zB BSG Beschluss vom 3.7.2013 - B 12 R 38/12 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 13.11.2012 - B 2 U 269/12 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris RdNr 8, jeweils mwN).
Dies ist hier anzunehmen. Die nicht rechtskundig vertretene Klägerin hat am Vortag der mündlichen Verhandlung zum Beleg ihrer behaupteten Verhandlungsunfähigkeit ein ärztliches Attest übersenden lassen, nachdem sie bereits länger zuvor ausdrücklich eine Terminsaufhebung beantragt hatte. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob dem Antrag zu folgen gewesen wäre (vgl BSG Beschluss vom 3.7.2013 - B 12 R 38/12 B - juris RdNr 12 mwN). Immerhin hat sich der Vorsitzende zunächst noch gehalten gesehen, telefonisch Erkundigungen beim Attestaussteller einzuholen, was ihm erst am Morgen des Terminstags gelungen ist. Der nachfolgende Versuch eines Anrufs bei der Klägerin ist ausweislich seines Aktenvermerks daran gescheitert, dass sich unter der angerufenen Nummer lediglich ein Faxgerät gemeldet hat. Angesichts dessen erschließt sich aber nicht, was den Vorsitzenden in dieser - vom Gericht selbst herbeigeführten - Lage daran gehindert haben oder warum es ihm zeitlich nicht mehr zumutbar gewesen sein könnte, den noch offenen Vertagungsantrag (formlos) kurz zu bescheiden und die Klägerin davon mit einem Fax auf das empfangsbereite Gerät zu informieren. Das Telefongespräch mit dem Hausarzt endete am Terminstag um 8:34 Uhr, die mündliche Verhandlung sollte erst über eine Stunde später um 9:50 Uhr beginnen. In der verbleibenden Zeit hätte das LSG die Klägerin noch per Fax informieren können oder, falls die Zeit dafür zu kurz erschien, notfalls die Terminsstunde nach hinten verschieben können. Außerdem war das Attest bereits am Morgen des Vortags beim Gericht eingegangen. Die daraufhin vom Vorsitzenden für erforderlich gehaltenen Nachforschungen haben sich nicht aus Gründen verzögert, die in der Sphäre der Klägerin liegen. Ohnehin durfte das LSG die Ergebnisse seiner Ermittlungen zur Reise- und Verhandlungsfähigkeit der Klägerin in seinem Urteil nicht verwerten und hat davon auch abgesehen, weil es ihr dafür zuvor hätte Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen.
Dahinstehen kann, ob, wie die Klägerin vorträgt, ihre Telefonnummer auf der Klageschrift stand und das LSG nach einem gründlichen Blick in die Akten deshalb sogar seine ursprüngliche Absicht hätte umsetzen und sie anrufen können. Soweit das LSG die Nummer in der Eile übersehen haben sollte, dürfte ein solches Versehen jedenfalls nicht zu ihren Lasten gehen. Ohnehin setzt eine Verletzung rechtlichen Gehörs kein Verschulden des Gerichts voraus (vgl BVerfG Beschluss ≪Kammer≫ vom 21.11.1989 - 2 BvR 684/88 - juris RdNr 15 mwN).
Ebenso wenig bedarf es der näheren Darlegung und Prüfung, ob die angefochtene Entscheidung auf der geltend gemachten Gehörsverletzung beruhen kann. Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (vgl § 547 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG), ist doch wegen der Bedeutung der mündlichen Verhandlung im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Gehörsverletzung, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (vgl BSG Beschluss vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris RdNr 10 mwN).
Da somit schon die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs Erfolg hat, kann offenbleiben, ob die Klägerin weitere Verfahrensfehler ordnungsgemäß gerügt hat und diese tatsächlich vorliegen.
3. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen
Dokument-Index HI13535307 |