Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Ermittlung medizinischer Sachverhalte durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Recht zur Befragung des Sachverständigen. Beschränkung auf die jeweilige Instanz. Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Befragung in der nächsten Instanz. sozialgerichtliches Verfahren. Recht auf Befragung des Sachverständigen im Rechtszug
Orientierungssatz
1. Zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs hat jeder Verfahrensbeteiligte ein Recht auf Befragung eines Sachverständigen, der ein schriftliches Gutachten erstattet hat (§ 116 S 2, § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO; § 62 SGG). Das Fragerecht besteht unabhängig von dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, bei einem erläuterungsbedürftigen schriftlichen Gutachten nach § 411 Abs 3 ZPO das Erscheinen des Sachverständigen anzuordnen (vgl BSG vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B = SGb 2000, 269 und BVerfG vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 = NJW 1998, 2273). Dieses Fragerecht besteht grundsätzlich nur innerhalb desselben Rechtszugs, in dem das Gutachten eingeholt worden ist.
2. Die Anhörung des Sachverständigen kann auch dann in der nächsten Instanz verlangt werden, wenn die Voraussetzungen für eine notwendige Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens nach § 411 Abs 3 ZPO vorliegen und die Ablehnung des entsprechenden Antrags durch die nunmehr tätige Instanz ermessenswidrig ist (vgl BSG vom 3.3.1999 - B 9 VJ 1/98 B aaO).
Normenkette
SGG §§ 62, 116 S. 2, § 118 Abs. 1; ZPO §§ 397, 402, 411 Abs. 3-4
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 28.06.2006; Aktenzeichen L 2 R 5386/05) |
SG Mannheim (Urteil vom 17.11.2005; Aktenzeichen S 9 R 3147/03) |
Tatbestand
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat mit Urteil vom 28. Juni 2006 einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung im Wesentlichen mit folgender Begründung verneint: Entgegen der Auffassung des behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. G. habe die im sozialgerichtlichen Verfahren gehörte Ärztin für Psychiatrie Dr. H. im Gutachten vom 25. Juni 2004 bzw in der ergänzenden Stellungnahme vom 21. September 2004 bei der Klägerin nur eine leicht ausgeprägte depressive Persönlichkeitsstörung (Dysthymia) sowie eine ebenfalls leicht ausgeprägte anhaltende somatoforme Schmerzstörung festgestellt, die die Klägerin nicht daran hinderten, leichte Tätigkeiten sechs Stunden täglich an fünf Wochentagen durchzuführen. Hiervon weiche auch die Neurologin und Psychiaterin Dr. S. in dem nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eingeholten Gutachten vom 27. Juli 2005 nicht ab, wenn sie ausführe, die Klägerin sei noch in der Lage, ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens vier bis maximal sechs Stunden täglich zu verrichten. Mit diesem Leistungsvermögen bestehe keine rentenberechtigende Leistungsminderung. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung liege nicht vor.
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil rügt die Klägerin ua als Verfahrensfehler einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht. Hierzu führt sie aus: Sie habe im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28. Juni 2006 den Antrag gestellt, zum Beweis der Tatsache, dass sie, die Klägerin, aufgrund der bei ihr vorliegenden erwerbsmindernden gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht in der Lage sei, regelmäßig in der Fünf-Tage-Woche Tätigkeiten im Bereich des allgemeinen Arbeitsmarkts von mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, ein sachverständiges Zeugnis der Dr. O. S. einzuholen; ausdrücklich werde beantragt, Frau Dr. S. zum Termin zur mündlichen Verhandlung als sachverständige Zeugin zu diesem Beweisthema zu laden und sie außerdem dazu zu befragen, ob ihre Äußerung zum quantitativen Leistungsvermögen im schriftlichen Gutachten vom 27. Juli 2005 bereits sinngemäß in gleicher Weise zu verstehen sei. Diesem Beweisantrag sei das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt; es habe lediglich in den Gründen des Urteils vom 28. Juni 2006 ausgeführt, ihre, der Klägerin, Deutung könne angesichts des Wortlauts im schriftlichen Gutachten der Frau Dr. S. nicht nachvollzogen werden. Auf der Grundlage eines per Telefax übermittelten Schreibens des Dr. G. vom 26. Juni 2006 habe sie, die Klägerin, ferner im Termin zur mündlichen Verhandlung beantragt, zum Beweis der Tatsache, dass sie aufgrund der bei ihr vorliegenden erwerbsmindernden gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht in der Lage sei, regelmäßig in der Fünf-Tage-Woche Tätigkeiten im Bereich des allgemeinen Arbeitsmarkts von mindestens sechs Stunden täglich auszuüben, ein Gutachten eines Sachverständigen mit spezieller psychosomatischer Fachrichtung einzuholen. Als entsprechender Sachverständiger sei Prof. Dr. H., M., vorgeschlagen worden. Dieser Beweisantrag sei vom LSG zu Unrecht unter Hinweis auf die in den Akten befindlichen fachpsychiatrischen Gutachten abgelehnt worden; beide gehörten Sachverständigen verfügten jedoch nicht über hinreichende klinische Erfahrung mit speziellen psychosomatischen Erkrankungen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensverstoß liegt vor.
Die Klägerin hat die Verletzung des § 103 SGG hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Das LSG ist einem von der Klägerin in der mündlichen Berufungsverhandlung gestellten Beweisantrag zu Unrecht nicht gefolgt.
Dahinstehen kann, ob das LSG auf der Grundlage des Arztberichts des Dr. G. vom 26. Juni 2006 verpflichtet war, von Amts wegen ein Gutachten mit spezieller psychosomatischer Fachrichtung einzuholen. Hieran bestehen Zweifel. Denn es ist nicht ersichtlich, dass in den beiden psychiatrischen Gutachten der Dres. H. und S. die psychosomatische Komponente ihrer Erkrankung keine Berücksichtigung gefunden hat. Der (nicht belegte) Vorwurf mangelnder klinischer Erfahrung mit speziellen psychosomatischen Erkrankungen steht jedenfalls einer Verwertbarkeit beider Gutachten nicht entgegen. Insbesondere ist der Vortrag der Klägerin nicht nachvollziehbar, weshalb die beiden gehörten Sachverständigen den erforderlichen Zugang zu ihrer Psyche nicht hätten herbeiführen können und deshalb die zur Beurteilung des Leistungsvermögens erforderliche Interpretation der psychodynamischen Entwicklungen unterblieben sei.
Das LSG durfte aber jedenfalls den Beweisantrag der Klägerin, die bereits als Gutachterin tätig gewesene Dr. S. zum Termin zur mündlichen Verhandlung zu laden, damit diese ihr schriftliches Gutachten vom 27. Juli 2005 mündlich erläutere und zur Frage der regelmäßigen Arbeitsfähigkeit in einer Fünf-Tage-Woche von mindestens sechs Stunden täglich befragt werden könne, nicht mit der Begründung übergehen, der Senat würdige das Leistungsbild der Klägerin dahingehend, dass sie (mindestens) sechs Stunden täglich leichte körperliche Arbeiten mit verschiedenen qualitativen Einschränkungen verrichten könne.
Zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs hat jeder Verfahrensbeteiligte ein Recht auf Befragung eines Sachverständigen, der ein schriftliches Gutachten erstattet hat (§ 116 Satz 2, § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 der Zivilprozessordnung ≪ZPO≫; § 62 SGG). Das Fragerecht besteht unabhängig von dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, bei einem erläuterungsbedürftigen schriftlichen Gutachten nach § 411 Abs 3 ZPO das Erscheinen des Sachverständigen anzuordnen (vgl BSG SGb 2000, 269 mwN; BVerfG NJW 1998, 2273). Zwar besteht dieses Fragerecht grundsätzlich nur innerhalb desselben Rechtszugs, in dem das Gutachten eingeholt worden ist. Der Kläger kann indes die Anhörung des Sachverständigen auch dann in der nächsten Instanz verlangen, wenn die Voraussetzungen für eine notwendige Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens nach § 411 Abs 3 ZPO vorliegen und die Ablehnung des entsprechenden Antrags durch die nunmehr tätige Instanz ermessenswidrig ist (BSG SGb 2000, 269).
So liegt der Fall hier: Die Klägerin hat zu Recht dargetan, sie habe bereits gegenüber dem Sozialgericht zu bedenken gegeben, dass die Sachverständige Dr. S. in ihrer gutachtlichen Stellungnahme vom 21. September 2004 am Ende - präzisierend - ausgeführt hatte, sie habe ein untervollschichtiges Leistungsvermögen mit einer Spitzenzeit von sechs Stunden an fünf Wochentagen festgestellt; solche "Spitzenzeiten" entsprächen aber nicht der vom Gesetz in § 43 Abs 1 Satz 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) geforderten Untergrenze von "mindestens" sechs Stunden. Allein über diese Formulierung in der gutachtlichen Stellungnahme vom 21. September 2004 ist aber während des gesamten Berufungsverfahrens gestritten worden, und die Klägerin hat deshalb gefordert, eine klärende Äußerung der Sachverständigen Dr. S. zu erreichen (Schriftsätze vom 29. März und 4. Mai 2006). Unter den genannten Umständen - insbesondere wegen der von den Voraussetzungen des § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI abweichenden quantitativen Leistungsbeurteilung der Frau Dr. S. war das Ermessen des LSG aber darauf reduziert, entweder das Erscheinen der Frau Dr. S. zum Termin zur mündlichen Verhandlung anzuordnen (vgl BGH MDR 2003, 168 mwN; BGH NJW 2001, 3270 zur "Beseitigung von Unklarheiten"; vgl auch Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 64. Aufl 2006, RdNr 10 zu § 411), oder aber die Sachverständige erneut schriftlich zu befragen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1). Beides hat es verfahrensfehlerhaft unterlassen.
Entgegen der Ansicht des LSG kann auch daraus, dass die Sachverständige Dr. S. bei Beantwortung der Beweisfrage 9 nicht wesentlich von der Leistungseinschätzung im Gutachten Dr. H. habe abweichen wollen, nicht ersehen werden, dass sie von einem (mindestens) sechsstündigen Leistungsvermögen der Klägerin ausgegangen ist. Denn auch die Einschätzung des quantitativen Leistungsvermögens im Gutachten Dr. H. ist nicht eindeutig: Dr. H. ging von einem reduzierten Durchhaltevermögen und einer eingeschränkten konzentrativen Belastbarkeit der Klägerin aus und beurteilte deren Leistungsvermögen daher als " unter vollschichtig, nämlich sechs Stunden" (täglich). Eine unklare Sachverständigenaussage ist aber nicht durch freie Beweiswürdigung oder durch Auslegung, sondern durch Nachfrage bei dem Sachverständigen zu klären (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 36).
Auf dem vorgenannten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Anhörung der Sachverständigen Dr. S. ergeben hätte, dass sie nicht von einem Leistungsvermögen ausgegangen ist, das "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich" umfasst. Das LSG hat das Gutachten Dr. S. nicht von vornherein für unverwertbar gehalten, sondern vielmehr gemeint, sich (auch) auf dieses Gutachten stützen zu können. Auszuschließen ist daher nicht, dass das Berufungsgericht - ggf nach weiteren Ermittlungen, wie von der Klägerin angeregt - zu einem ihr günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen