Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung des rechtlichen Gehörs. kein Vertrauen in die Bewertung erster Instanz. richterliche Hinweispflicht. Überraschungsentscheidung. persönliche Auskunft des Beteiligten in der mündlichen Verhandlung. negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift
Orientierungssatz
1. Ein in erster Instanz Obsiegender kann nicht davon ausgehen, dass das Berufungsgericht in gleicher Weise wie das SG das Vorliegen von Anspruchsvoraussetzungen beurteilt, wenn das Berufungsgericht mitteilt, es sei gegen seiner bisherigen Absicht nicht mehr bereit, durch Beschluss zu entscheiden, weil ein Beteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte und Tatsachenwürdigungen von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag hierauf einstellen muss.
2. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht das Vorliegen einer entscheidungserheblichen Tatsache in den Entscheidungsgründen damit verneint, dass der Beteiligte persönlich auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung zu weitergehenden detaillierten Auskünften nicht bereit gewesen sei, der Beteiligte aber, unstreitig und aus der Sitzungsniederschrift ersichtlich, an dem Termin zur mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat.
Normenkette
SGG § 62 Hs. 2, §§ 122, 128 Abs. 2, § 153 Abs. 4, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5; GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 165 S. 1
Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 27.09.2017; Aktenzeichen L 18 AL 109/16) |
SG Potsdam (Entscheidung vom 15.04.2016; Aktenzeichen S 32 AL 354/12) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. September 2017 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die als Rechtsanwältin zugelassene Klägerin war seit 2008 bei dem beigeladenen Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Brandenburg als Geschäftsführerin beschäftigt. Während dieser Tätigkeit war sie weiterhin als Rechtsanwältin tätig. Der Beigeladene kündigte "das Dienstverhältnis" mit Wirkung zum 30.6.2012.
Den Antrag auf Alg mit Wirkung zum 1.7.2012 lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin in den letzten zwei Jahren weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Das SG hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Alg ab dem 1.7.2012 zu gewähren, weil sie bei dem Beigeladenen in der Zeit vom 15.8.2008 bis 30.6.2012 sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei (Urteil vom 15.4.2016). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27.9.2017). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Senat habe keine für eine entsprechende Überzeugungsbildung hinreichenden Tatsachen festzustellen vermocht, aus denen sich herleiten lasse, dass die Klägerin ab 1.7.2012 arbeitslos gewesen sei, also die im streitgegenständlichen Zeitraum (weiterhin) ausgeübte Tätigkeit als niedergelassene Rechtsanwältin regelmäßig auf weniger als 15 Stunden beschränkt gewesen sei. Ihr Vorbringen hierzu sei bereits im erstinstanzlichen Verfahren unkonkret gewesen. Aus den zu den Gerichtakten gereichten Steuerbescheiden, nach deren Inhalt die Klägerin in den Jahren 2012 und 2013 aus ihrer anwaltlichen Tätigkeit augenscheinlich Verluste erzielt habe, sowie den eingereichten Kopien der Prozessregister ließen sich keine Rückschlüsse zur zeitlichen Inanspruchnahme durch die tatsächlich weiter ausgeübte Anwaltstätigkeit ziehen. Zu weitergehenden detaillierten Auskünften sei sie auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung unter Berufung auf ihre anwaltliche Schweigepflicht nicht bereit gewesen. Hinzu komme, dass die Klägerin gegenüber der Rechtsanwaltskammer erklärt habe, eine gutgehende Anwaltskanzlei in P. zu führen. Die objektive Nichtfeststellbarkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen gehe zulasten der Klägerin, die hieraus Rechte ableiten wolle.
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG rügt die Klägerin eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs. Es handele sich um eine Überraschungsentscheidung, mit der sie nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht hätte rechnen müssen. Nachdem das LSG gegenüber den Beteiligten angekündigt habe, die Berufung der Beklagten durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückzuweisen (Schreiben vom 20.10.2016), habe sie nicht damit rechnen müssen, dass der Senat das Urteil des SG - mit entgegengesetzter Begründung - aufheben werde. Die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil, "zu weitergehenden detaillierten Auskünften war die Klägerin auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung … nicht bereit", seien objektiv unrichtig gewesen, weil sie in dem Termin nicht anwesend gewesen sei. Auf entsprechenden Hinweis des LSG hätte sie vorgetragen und Beweis dazu angeboten, dass in der Zeit ab 1.7.2012 keinesfalls eine Arbeit von mehr als 15 Wochenstunden angefallen sei.
II. Die zulässige Beschwerde der Klägerin führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG. Der Entscheidung liegt der Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) zugrunde, auf dem die angefochtene Entscheidung auch beruhen kann.
Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Der in Art 103 Abs 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in funktionalem Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (BVerfG vom 29.11.1989 - 1 BvR 1011/88 - BVerfGE 81, 123, 129; BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art 103 Abs 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Von einer solchen ist insbesondere auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter - unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262; BVerfG vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190; BVerfG vom 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133, 144 f; BVerfG Beschluss vom 1.8.2017 - 2 BvR 3068/14 - juris RdNr 47, 51; BVerfG Beschluss vom 7.2.2018 - 2 BvR 549/17 - juris RdNr 4 ff).
Eine Verletzung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung des Senats fest. Zwar konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass die Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit vom Berufungsgericht in gleicher Weise wie vom SG beurteilt werde, weil ein Beteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte und Tatsachenwürdigungen von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag hierauf einstellen muss (Voelzke in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGG, § 160 RdNr 169, Stand 15.12.2017). Auch wenn die Klägerin - wie von ihr vorgetragen - aufgrund des Hinweises des LSG vom 20.10.2016 auf eine vom gesamten Senat getragene Absicht zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten zunächst davon ausgehen konnte, dass das Berufungsgericht die von ihr erstinstanzlich vorgelegten Unterlagen zur ihrer anwaltlichen Tätigkeit in gleicher Weise werten werde wie das SG, hat sich eine Änderung der Sachlage nach dem weiteren Schreiben des Berufungsgerichts an die Beteiligten vom 14.6.2017 ergeben. Nachdem das LSG mitgeteilt hatte, es sei nicht mehr beabsichtigt, durch Beschluss zu entscheiden, konnte die Klägerin nicht mehr annehmen, dass die im streitigen Zeitraum während der Arbeitslosigkeit weiterhin ausgeübte anwaltliche Tätigkeit nicht mehr Gegenstand der mündlichen Verhandlung beim LSG sein werde (vgl nur BVerfG vom 14.7.1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218, 263 zu im Laufe der gerichtlichen Auseinandersetzung bereits vorgebrachten Argumenten).
Eine Überraschungsentscheidung liegt aber darin begründet, dass das LSG die objektive Nichtfeststellbarkeit einer Arbeitslosigkeit ab 1.7.2012 ausdrücklich damit begründet hat, dass die Klägerin selbst - also nicht ihr in der mündlichen Verhandlung allein anwesender Prozessbevollmächtigter - auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung unter Berufung auf ihre anwaltliche Schweigepflicht zu weiteren detaillierten Auskünften nicht bereit gewesen sei. Mit diesem vom Senat zugrunde zu legenden Inhalt der Entscheidungsgründe des LSG musste ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter schon deshalb nicht rechnen, weil die Klägerin unstreitig an dem Termin zur mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hatte. Dies ergibt sich aus der negativen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem LSG (§ 122 SGG iVm § 165 Satz 1 ZPO), die entsprechend auch eine Anhörung der Klägerin als vorgeschriebene Förmlichkeit eines wesentlichen Vorgangs der Verhandlung (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 2 ZPO) nicht enthält (BSG vom 8.2.2012 - B 5 RS 76/11 B - juris, RdNr 5; BSG vom 23.7.2015 - B 5 R 196/15 B - juris, RdNr 14; BSG vom 31.8.2017 - B 2 U 74/17 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 19 RdNr 9).
Der Annahme eines Verfahrensfehlers wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs steht auch nicht § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG entgegen, wonach die Revisionszulassung nicht auf eine Verletzung der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann. Die freie Beweiswürdigung muss auf der Basis eines fairen Verfahrens unter Einhaltung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs erfolgen (BSG vom 28.9.2017 - B 3 KR 7/17 B - SozR 4-1720 § 186 Nr 1). Dies ist hier nicht der Fall.
Auch der Grundsatz, dass ein Beteiligter für eine erfolgreiche Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs alles getan haben muss, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG vom 28.9.2017 - B 3 KR 7/17 B - SozR 4-1720 § 186 Nr 1), wirkt sich nicht zulasten der Klägerin aus. In der mündlichen Verhandlung vom 27.9.2017, zu der ihr persönliches Erscheinen nicht angeordnet war, war sie durch ihren Prozessbevollmächtigten vertreten. Sie hat nicht damit rechnen können, dass das LSG eine tatsächlich nicht abgegebene persönliche Erklärung ihrerseits zur Grundlage einer ablehnenden Entscheidung macht. Insofern sind die Vorgaben des SGG zur Prozessführung zu beachten. Nach § 128 Abs 2 SGG darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Hierzu hat die Klägerin vorgetragen, dass die Beteiligten bis zum Schluss in dem Glauben gelassen worden seien, dass das LSG die Berufung aus den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung zurückweisen werde. Entsprechend sind Hinweise auf diesbezügliche Mitwirkungspflichten der Klägerin und die negativen Folgen einer fehlenden Mitwirkung weder im Vorfeld der mündlichen Verhandlung erfolgt noch dem Sitzungsprotokoll (s zur negativen Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bereits oben) zu entnehmen.
Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem Gehörsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das LSG ohne den Verstoß anders entschieden hätte (vgl BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262, 2263). Die Klägerin hat dargelegt, welcher weitere Vortrag zu den in der Zeit ab 1.7.2012 bearbeiteten Mandatsfällen (elf neue Fälle in einem Jahr, davon vier die eigene Person betreffend) bei einem richterlichen Hinweis erfolgt wäre. Sie habe nur wenige, dazu nicht umfangreiche Vertretungen übernommen. Hierauf kann die angefochtene Entscheidung beruhen, weil das Berufungsgericht bei Annahme einer Arbeitslosigkeit der Klägerin zu einem Anspruch auf Alg gelangen könnte.
Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Wegen der Erforderlichkeit weiterer Sachaufklärung macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen