Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Revisionszulassung. Frage nach Therapiemöglichkeit für einzelnes Leiden ist keine der Grundsatzrevision zugängliche Rechtsfrage. regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit. schwerwiegende Erkrankung. Gleichstellung. Off-Label-Use. Leistungserweiterung. neue Behandlungsmethode. Systembehandlung der Maculadegeneration nach Dr Sradj. keine positive Empfehlung des G-BA
Orientierungssatz
1. Die Frage nach den Therapiemöglichkeiten für ein einzelnes Leiden und dem darauf bezogenen krankenversicherungsrechtlichen Behandlungsanspruch ist regelmäßig keine Rechtsfrage von "grundsätzlicher" Bedeutung (vgl BSG vom 7.10.2005 - B 1 KR 107/04 B = SozR 4-1500 § 160a Nr 9).
2. Mit dem Kriterium einer Krankheit, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, ist eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des sog Off-Label-Use (vgl BSG vom 19.3.2002 - B 1 KR 37/00 R = BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8) formuliert ist. Versicherte der GKV haben danach Anspruch auf eine verfassungskonforme Leistungserweiterung nur wegen solcher Krankheiten, die in absehbarer Zeit zum Verlust des Lebens oder eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion führen.
3. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 28.8.2007 - 1 BvR 1864/07).
Normenkette
SGB 5 § 2 Abs. 1, § 13 Abs. 3, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 5, § 135 Abs. 1; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der in Berlin wohnende Kläger begehrt die Erstattung ihm bis Mai 2003 entstandener, privatärztlich abgerechneter Kosten der Behandlung einer altersabhängigen Maculadegeneration (AMD) durch den in Regensburg praktizierenden, bis März 2005 als Vertragsarzt zugelassenen Augenarzt Dr. Sradj nach dessen "Systemtherapie der Maculadegeneration". Diese besteht aus parabulbären ("neben dem Auge") Injektionen von hochmolekularen organspezifischen Proteinen, Coenzymen, einem Vitamin-B-Produkt, Soli-Decortin, Lymphaden in Kombination mit Neuraltherapie und Akupunktur, wobei die organspezifischen Proteine und die Coenzyme nicht genauer bekannt sind.
Der Kläger leidet an einer feuchten AMD des linken und einer trockenen AMD des rechten Auges. Mit Schreiben vom 14.6.2002 beantragte er bei der beklagten Krankenkasse die Behandlung seiner AMD durch Dr. Sradj nach der Systemtherapie der Maculadegeneration nebst Fahrkosten. Ohne eine Antwort der Beklagten abzuwarten, ließ er die Behandlung vom 24.6. bis 5.7. von Dr. Sradj in Regensburg ambulant durchführen. Anschließend beantragte er die Erstattung von 1.249,76 € Behandlungskosten sowie 414 € Übernachtungs- und Fahrkosten. Die Beklagte lehnte eine Kostenerstattung nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ab, weil die Systembehandlung nach Dr. Sradj nicht zu den anerkannten, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu erbringenden Heilmethoden gehöre; ihr wissenschaftlicher Wert könne nicht untermauert werden. Im Übrigen habe der Kläger die Bescheidung seines Antrages nicht abgewartet, bevor er mit der Behandlung begonnen habe. Die Beklagte wies den hiergegen erhobenen Widerspruch zurück und lehnte auch weitere Kostenübernahmeanträge für Folgebehandlungen durch Dr. Sradj ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen den Bescheid vom 13.9.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2002 sowie den Bescheid vom 18.2.2003, welcher Folgebehandlungskosten betrifft, abgewiesen (Urteil vom 16.1.2004). Das Landessozialgericht (LSG) hat Befundberichte der Augenärztinnen Prof. Dr. S., F. und des Augenarztes Dr. G., eine Stellungnahme des MDK vom 30.1.2006 bzgl einer ergebnislosen Literaturrecherche zu Studien der Systemtherapie bei der AMD sowie eine Stellungnahme des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) vom 9.5.2006 eingeholt. Es hat Informationen des Bundesverbandes der Augenärzte Deutschlands und der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft zur AMD in den Prozess eingeführt und die Berufung gegen das SG-Urteil zurückgewiesen.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 15.12.2006.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie genügt nicht den Begründungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
1. Soll die Revision - wie vorliegend - nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden, muss in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung dargelegt werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu ist es erforderlich, eine Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt, und dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist, dh sie im Falle der Zulassung der Revision entscheidungserheblich wäre. Hieran fehlt es.
Die Beschwerde meint, die Entscheidung des LSG beruhe auf der "Rechtsfrage, ob es sich bei der Systembehandlung der Maculadegeneration nach Dr. Sradj um eine die Leistungspflicht der Krankenkassen auslösende Therapiemethode handelt bzw ob diese Therapie zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenkasse gehören muß". - Bei dieser, von der Beschwerde formulierten Frage handelt es sich nicht um eine der Grundsatzrevision zugängliche Rechtsfrage, denn die Frage nach den Therapiemöglichkeiten für ein einzelnes Leiden und dem darauf bezogenen krankenversicherungsrechtlichen Behandlungsanspruch ist regelmäßig keine Rechtsfrage von "grundsätzlicher" Bedeutung ( vgl BSG, Beschluss vom 7.10.2005 - SozR 4-1500 § 160a Nr 9 zur Behandlungsmethode nach Prof. Kozijavkin ).
Soweit die Beschwerde weiter meint, im Rahmen einer Grundsatzrevision sei es zu klären, ob die bislang zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.12.2005 ( BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 ) aufgestellten Kriterien fortentwickelt werden müssten bzw ob eine Gleichstellung mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung bei akuter Gefahr einer "nahezu"-Erblindung vorzunehmen sei, kann dahingestellt bleiben, ob die Beschwerde eine hinreichend konkrete Rechtsfrage stellt. Denn eine Rechtsfrage, die das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat, ist nicht mehr klärungsbedürftig. Sie kann somit keine grundsätzliche Bedeutung mehr haben, es sei denn, die Beantwortung der Frage ist aus besonderen Gründen klärungsbedürftig geblieben oder erneut geworden. Auch das muss substantiiert vorgetragen werden ( BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38 mwN ). Jedenfalls hieran fehlt es.
Insoweit hätte sich die Beschwerde mit der Rechtsprechung des Senats zur Frage auseinandersetzen müssen, in welchen Fällen schwerwiegender Erkrankungen eine Gleichstellung mit regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten in Betracht kommen kann und wann dies nicht der Fall ist. Der erkennende Senat hat ua mit Urteil vom 14.12.2006 (- B 1 KR 12/06 R -) bereits entschieden, dass mit dem Kriterium einer Krankheit, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, eine strengere Voraussetzung umschrieben ist, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des sog Off-Label-Use ( vgldazu BSGE 89, 184 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 - Sandoglobulin ) formuliert ist. Versicherte der GKV haben danach Anspruch auf eine verfassungskonforme Leistungserweiterung nur wegen solcher Krankheiten, die in absehbarer Zeit zum Verlust des Lebens oder eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion führen. Hiermit setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.
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Schließlich legt die Beschwerde auch die Entscheidungserheblichkeit der von ihr formulierten Fragen nicht in der gebotenen Weise dar. Werden von einem Gericht für die Begründung seiner Entscheidung mehrere selbstständige Begründungen gegeben, die den Urteilsausspruch schon jeweils für sich genommen tragen, muss in der Beschwerde für jede der Begründungen ein Revisionszulassungsgrund geltend gemacht werden ( vgl BSG, Beschluss vom 25.3.2006 - B 1 KR 97/05 B; BSG SozR 1500 § 160a Nr 5, 38; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, Kap IX RdNr 51, 69 mwN) . Ein solcher Fall liegt vor: Das LSG hat das angefochtene Urteil selbstständig auf folgende Begründungen gestützt, auf welche die Beschwerde nur zum Teil eingeht: |
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Der Kläger habe - ohne Vorliegen eines Notfalls - die begehrte Behandlung durchführen lassen, bevor die Beklagte über seinen Kostenübernahmeantrag entschieden hatte. In einem solchen Fall scheide ein Kostenerstattungsanspruch aus ( Hinweis auf BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 15 S 75 ). Hierzu trägt die Beschwerde lediglich die nicht durch entsprechende (im Berufungsverfahren gestellte) Beweisanträge unterstützte Behauptung vor, dass sich die Beklage auf das Schreiben (Antrag) vom 14.6.2002 nicht gemeldet habe und die Behandlung "unaufschiebbar" gewesen sei. |
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Dr Sradj habe ausweislich der vom Kläger eingereichten Rechnungen zum größten Teil ganz übliche Augen- und Sehleistungsuntersuchungen erbracht. Es sei nicht ersichtlich, dass Dr. Sradj diese nicht habe auf vertragsärztlicher Basis erbringen können. - Die Beschwerde trägt insoweit nicht vor, welche konkreten Einzelleistungen, für die der Kläger Kostenerstattung begehrt, vom Leistungsumfang der GKV nicht erfasst werden konnten. |
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Die beim Kläger durchgeführte Therapie gehöre nicht zum Leistungsumfang der GKV, weil es sich um eine neue Untersuchungsmethode gehandelt habe, bzgl derer eine positive Empfehlung des GBA nicht vorliege. Ein Systemversagen liege ua nicht vor, weil beim GBA ein entsprechender Überprüfungsantrag nicht gestellt worden sei. - Hierzu trägt die Beschwerde lediglich vor, dies sei dem Kläger nicht zuzurechnen und ein Systemmangel gerade darin zu sehen, dass trotz der therapeutischen Erfolge bislang nicht einmal ein Antrag beim GBA gestellt worden sei. |
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Eine verfassungskonforme Erweiterung des Leistungsumfangs im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG vom 6.12.2005 scheide aus, weil die Erkrankung des Klägers, die nie zur völligen Erblindung führe, den regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen nicht gleichgestellt werden könne, es jedenfalls ausweislich der eingeholten Stellungnahmen von Berufsverbänden alternative Möglichkeiten der Behandlung der AMD in der GKV gebe und wissenschaftliche Erkenntnisse über den therapeutischen Nutzen der Systemtherapie nicht ersichtlich seien. - Hierzu trägt die Beschwerde vor, der wissenschaftliche Wert und die Qualität der Methode ergebe sich aus der 313 Seiten umfassenden Informationsschrift Dr. Sradj. Abgesehen davon, dass es sich bei diesem Vorbringen der Sache nach um Angriffe allenfalls gegen die Beweiswürdigung des LSG handelt (zur Rüge eines Verfahrensfehlers vgl unter 2.), setzt sich die Beschwerde nicht mit der Frage auseinander, welche Tatsachen festgestellt sein müssen, damit über eine Einzelmeinung hinaus von wissenschaftlichen, objektivierbaren Erkenntnissen einer bestimmten Methode die Rede sein kann ( dazu BSG, Urteile vom 7.11.2006 - B 1 KR 24/06 R, RdNr 24 - LITT; vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 4 RdNr 42 - Tomudex, jeweils mwN ). |
2. Soweit die Beschwerde vorträgt, das LSG habe nicht über "den Sachverständigenbeweis des Klägers vom 12.5.2003 iVm dem Schriftsatz vom 2.9.2004 entschieden bzw diesen Beweisantritt" nicht verfolgt und sich nicht mit der in 4. Aufl erschienenen, mit Schriftsatz vom 21.3.2006 in den Prozess eingeführten, 313 Seiten umfassenden Festschrift des Dr. N. Sradj "Systemtherapie der Maculadegeneration" auseinandergesetzt, sind die Begründungserfordernisse des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bzgl des behaupteten Verfahrensfehlers nicht erfüllt.
Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nach Halbsatz 2 der Regelung auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Entscheidet das Berufungsgericht aufgrund mündlicher Verhandlung, genügt die Beschwerde der Darlegungspflicht des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nur dann, wenn sie einen in der Niederschrift des LSG oder einen Tatbestand der Entscheidung enthaltenen Beweisantrag bezeichnet ( vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 ). Hieran fehlt es.
Die Beschwerde legt nicht dar, dass sie im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 15.12.2006 einen hinreichenden konkreten Beweisantrag ( zu dessen Erfordernissen vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 ) gestellt hat. Dies gilt auch hinsichtlich der angeblich in den Prozess eingeführten "Festschrift" des Dr. Sradj. Die Beweiswürdigung selbst ist gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht mit Verfahrensrügen angreifbar; der geltend gemachte Verfahrensfehler kann nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden.
Von einer weiteren Begründung wird in entsprechender Anwendung von § 160a Abs 4 Satz 3 Halbsatz 2 SGG abgesehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen