Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Nichtverlegung des Termins der mündlichen Verhandlung. Corona-Pandemie. Verletzung rechtlichen Gehörs
Orientierungssatz
1. Ein Verfahrensmangel durch Nichtverlegung des Termins für die mündliche Verhandlung durch das LSG und eine dadurch verursachte Verletzung rechtlichen Gehörs ist nicht hinreichend bezeichnet, wenn der Beschwerdeführer zwar darauf hingewiesen hat, dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sowohl im Landkreis des Prozessbevollmächtigten als auch im Landkreis des LSG ein auf die COVID-19-Infektionen bezogener Inzidenzwert von über 200 vorliege, aber weder angegeben hat, auf welchen Zeitraum sich der Inzidenzwert bezieht, noch vorgetragen hat, dass sich den einschlägigen gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen des Bundes oder Landes bestimmte Inzidenzwerte entnehmen lassen, bei deren Vorliegen mündliche Verhandlungen generell nicht mehr durchgeführt werden können.
2. Die Gerichte haben einen erheblichen Einschätzungsspielraum bei der Beurteilung, ob gerichtliche Verhandlungen trotz Infektionslage durchgeführt werden können (vgl BVerfG vom 19.5.2020 - 2 BvR 483/20 = NJW 2020, 2327).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3; ZPO § 227 Abs. 1 S. 1; SGG § 62
Verfahrensgang
SG Neubrandenburg (Entscheidung vom 11.04.2019; Aktenzeichen S 12 AS 1342/14) |
LSG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 28.01.2021; Aktenzeichen L 14 AS 302/19) |
Tenor
Die Verfahren B 4 AS 86/21 B bis B 4 AS 91/21 B werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Führend ist das Verfahren mit dem Aktenzeichen B 4 AS 86/21 B.
Die Beschwerden der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in den Urteilen des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 28. Januar 2021 werden als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision machen einen Verfahrensmangel durch Ablehnung von mit der Corona-Pandemie begründeten Verlegungsanträgen geltend.
Das LSG hat in den den Beschwerden vorangegangenen Berufungsverfahren mit Schreiben vom 3.12.2020 - den Beteiligten zugestellt am 7. bzw 9.12.2020 - jeweils den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 28.1.2021 bestimmt.
Am 27.1.2021 beantragte die Bevollmächtigte der Klägerin die Aufhebung der Verhandlungstermine. Es sei befremdlich, dass das Gericht die Termine aufgrund der Corona-Pandemie und der damit verbundenen allgemeinen Kontaktbeschränkungen, aber auch der Tatsache, dass der Inzidenzwert in der Stadt U, in der sich ihre Kanzlei befinde, bei ca 900 und im Übrigen in den Landkreisen Mecklenburgische Seenplatte (Sitz des LSG) und V (Sitz der klägerischen Kanzlei) bei über 200 liege, nicht von selbst aufhebe. Den Gerichten komme eine Vorbildfunktion zu. Eine Dringlichkeit, die vielleicht die Durchführung der Termine rechtfertigen könnte, liege nicht vor.
Der Vorsitzende Richter des Berufungssenats teilte der Prozessbevollmächtigten daraufhin mit Fax vom 27.1.2021 mit, dass die Termine zur mündlichen Verhandlung aufrechterhalten blieben. Der Inzidenzwert für die Stadt U werde fast ausschließlich durch das Infektionsgeschehen in einem Pflegeheim bestimmt. Eine erhöhte Gefahr einer Übertragung des Virus durch die Prozessbevollmächtigte könne daher nicht erkannt werden. Der Inzidenzwert im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte sei derzeit deutlich rückläufig und habe am Vortag bei unter 150 gelegen. Im Übrigen sei bei der Durchführung von Verhandlungsterminen im LSG die Einhaltung der einschlägigen Sicherheitsbestimmungen und Abstandsgebote gewährleistet. Auf die Möglichkeit einer Entscheidung des Senats auch bei Ausbleiben von Beteiligten oder deren Vertretern werde erneut hingewiesen. Zudem bestehe die Möglichkeit, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und von dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung werde zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen.
Mit ihren Beschwerden macht die Klägerin zum einen eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Das LSG hätte die mündlichen Verhandlungen antragsgemäß verlegen müssen. Schon die allgemeinen Kontaktbeschränkungen hätten eine Terminsaufhebung von Amts wegen geboten. Überdies seien die Terminsaufhebungen aufgrund der Inzidenzwerte in den Landkreisen V und M von über 200 geboten gewesen. Außerdem liege ein Verstoß gegen § 110 Abs 1 Satz 1, § 110a Abs 1, § 63 Abs 1 Satz 2 SGG vor. Das LSG habe von der Regelung des § 110a Abs 1 SGG Gebrauch gemacht, aber der Klägerseite keine Zugangsdaten übermittelt. Darin liege zugleich ein Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz des § 124 Abs 1 SGG.
II. Die gemäß § 113 Abs 1 SGG zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Nichtzulassungsbeschwerden sind unzulässig, weil der jeweils allein geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerden sind daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG, § 169 SGG).
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; vgl bereits BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; vgl bereits BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36).
Nach diesen Maßstäben ist ein Verfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet. Dies gilt zum einen für die Rüge, das LSG hätte die terminierten mündlichen Verhandlungen verlegen müssen. Gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Die Beurteilung, ob ein erheblicher Grund vorliegt, liegt grundsätzlich im Ermessen des jeweiligen Gerichts (vgl BSG vom 8.12.2020 - B 1 KR 58/19 B - juris RdNr 12). Dieses Ermessen kann sich allerdings auf Null reduzieren mit der Folge, dass der Termin aufgehoben werden muss und anderenfalls der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt wäre (vgl BSG vom 20.5.2020 - B 13 R 254/17 B - juris RdNr 6 mwN).
Dass diese Voraussetzungen hier vorliegen, zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Der bloße Hinweis darauf, dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlungen sowohl im Landkreis, in dem die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ihren Kanzleisitz hat, als auch im Landkreis, in dem das LSG seinen Sitz hat, auf die Infektionen mit dem Covid-19 bezogene Inzidenzwerte von über 200 bestanden hätten, reicht unabhängig davon, dass nicht deutlich wird, auf welchen Zeitraum sich diese Werte beziehen, nicht aus. Die Beschwerdebegründung hat nicht vorgetragen, dass sich den einschlägigen gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen des Bundes oder des Landes Mecklenburg-Vorpommern bestimmte Inzidenzwerte entnehmen lassen, bei deren Vorliegen mündliche Verhandlungen generell nicht mehr durchgeführt werden können. Auch unabhängig von rechtlichen Vorgaben ist nicht dargetan, dass eine Teilnahme an den mündlichen Verhandlungen unzumutbar gewesen wäre. Eine solche Unzumutbarkeit folgt nicht allein aus den Inzidenzwerten oder der allgemeinen Infektionslage (vgl auch LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.5.2020 - L 6 AS 833/17 - juris RdNr 35; FG Rheinland-Pfalz vom 26.1.2021 - 3 K 2195/18 - juris RdNr 38; OLG Dresden vom 17.2.2021 - 1 W 943/20 - juris RdNr 22 f; aA wohl Prütting, AnwBl 2020, 287). Vielmehr haben die Gerichte einen erheblichen Einschätzungsspielraum bei der Beurteilung, ob gerichtliche Verhandlungen trotz der Infektionslage durchgeführt werden können (vgl BVerfG vom 19.5.2020 - 2 BvR 483/20 - juris RdNr 8; BVerfG vom 16.11.2020 - 2 BvQ 87/20 - juris RdNr 58). Ein gewisses Infektionsrisiko mit dem Corona-Virus gehört derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko, von dem auch die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens nicht vollständig ausgenommen werden können (so BVerfG vom 19.5.2020 - 2 BvR 483/20 - juris RdNr 9 zum Strafverfahren). Es besteht keine Pflicht, jegliches Infektionsrisiko auszuschließen (BVerfG vom 16.11.2020 - 2 BvQ 87/20 - juris RdNr 62 f). Der Hinweis in der Beschwerdebegründung auf die "allgemeinen Kontaktbeschränkungen" wäre nur dann im Sinne der Klägerin zielführend, wenn sich diese auch auf gerichtliche Verfahren erstrecken und eine mündliche Verhandlung nur unter Verletzung dieser Kontaktbeschränkungen durchgeführt werden könnte. Dass dies der Fall gewesen wäre, behauptet die Beschwerdebegründung aber nicht. Das LSG hat in dem von der Beschwerdebegründung zitierten Schreiben des Vorsitzenden Richters des Berufungssenats vom 27.1.2021 über die Ablehnung des Verlegungsantrages vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Durchführung von Verhandlungsterminen vor dem LSG die Einhaltung der einschlägigen Sicherheitsbestimmungen und Abstandsgebote gewährleistet ist. Ob eine andere Beurteilung gerechtfertigt ist, wenn aufgrund individueller Umstände, etwa wegen einer besonderen Vulnerabilität eines Beteiligten (vgl OLG Zweibrücken vom 2.7.2020 - 3 W 41/20 - juris RdNr 14), eine spezifische Infektionsgefahr mit dem Covid-19 glaubhaft gemacht wird (vgl § 227 Abs 2 ZPO), bedarf hier keiner Entscheidung, da die Beschwerde nicht geltend macht, solche Umstände dem LSG vorgetragen zu haben.
Auch eine Verletzung der § 124 Abs 1, § 110 Abs 1 Satz 1, § 110a Abs 1, § 63 Abs 1 Satz 2 SGG ist nicht hinreichend bezeichnet. Die Beschwerdebegründung verweist lediglich auf das Schreiben des Vorsitzenden Richters des Berufungssenats vom 27.1.2021, wonach die Möglichkeit bestehe, sich während der Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und von dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Auch wenn sich dem Wortlaut des Schreibens nicht eindeutig entnehmen lässt, ob hierin eine Gestattung iS des § 110a Abs 1 Satz 1 SGG oder bloß ein Hinweis auf die Möglichkeit, eine solche Gestattung zu beantragen, liegen soll, liegt jedenfalls deswegen keine Gestattung vor, weil eine solche durch Beschluss ergehen muss (Leopold in Roos/Wahrendorf/Müller, BeckOGK SGG, § 110a RdNr 27 mwN, Stand 1.5.2021; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 110a RdNr 8; Stäbler in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 110a RdNr 22; Beispiel: BSG vom 3.3.2021 - B 5 RE 9/19 R - juris). Damit lagen die Voraussetzungen für eine Durchführung der mündlichen Verhandlungen nach Maßgabe des § 110a SGG schon deswegen nicht vor. Die Rüge der Beschwerde, dass das LSG keine Zugangsdaten mitgeteilt habe, geht daher ins Leere.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 14685244 |
IBR 2022, 160 |