Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung. Gutachten. Anwesenheit eines Dritten während der Begutachtung. Beweisverwertungsverbot. Sachaufklärungsrüge. Beweisantrag

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Für die Konstellation einer Durchführung der Untersuchung beim Sachverständigen trotz des Ausschlusses der Begleitperson hat das BSG ein Beweisverwertungsverbot nicht ernsthaft in Erwägung gezogen.

2. Ein Beweisantrag kann auch damit begründet werden, dass ein bereits vom Gericht eingeholtes Gutachten unverwertbar oder ungenügend sei.

3. Wenn nicht vorgetragen wird, dass in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG durch den Prozessbevollmächtigten ein Beweisantrag angebracht worden ist, würde die Rüge einer grundsätzlichen Bedeutung der Frage, welche verfahrensrechtlichen Konsequenzen (Befangenheit des Sachverständigen, Minderung des Beweiswertes des Gutachtens, Beweisgewinnungsverbot, Beweisverwertungsverbot, etc.) sich ergeben, wenn ein medizinischer Sachverständiger verkennt, dass die Entscheidung über die Anwesenheit eines Dritten während der Begutachtung im Streitfall nicht in seine Kompetenz fällt, sondern allein in der Kompetenz des Gerichts liegt, letztlich zu einer Umgehung der gesetzlich angeordneten Beschränkung einer Nachprüfbarkeit von bestimmten Verfahrensfehlern führen.

 

Normenkette

SGG § 73a Abs. 1 S. 1, §§ 103, 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 Sätze 1-2, §§ 162, 169; ZPO §§ 114, 121, 404a, 412 Abs. 1; SGB III § 159

 

Verfahrensgang

SG Cottbus (Entscheidung vom 05.08.2021; Aktenzeichen S 3 R 36/17)

LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 13.07.2023; Aktenzeichen L 6 R 520/21)

 

Tenor

Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juli 2023 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt L aus C beizuordnen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Juli 2023 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Die 1973 geborene Klägerin begehrt eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung ab November 2015 oder später. Der beklagte Rentenversicherungsträger lehnte ihren Antrag nach Einholung eines neurologisch-psychiatrischen und eines orthopädischen Gutachtens ab (Bescheid vom 14.6.2016, Widerspruchsbescheid vom 27.12.2016). Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen, ein weiteres orthopädisches Gutachten anfertigen lassen und sodann die Klage abgewiesen, weil die Klägerin körperlich leichte und gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten bei Beachtung gewisser qualitativer Einschränkungen noch täglich acht Stunden ausüben könne (Urteil vom 5.8.2021).

Im Berufungsverfahren hat das LSG von H, einer von der Deutschen Gesellschaft für neurowissenschaftliche Begutachtung zertifizierten Fachärztin für Neurologie, ein weiteres Gutachten anfertigen lassen. Die ambulante Untersuchung der Klägerin durch die Gutachterin fand am 23.6.2022 statt. Nach Vorlage des schriftlichen Gutachtens vom 18.7.2022 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Schriftsatz vom 25.8.2022 "rein vorsorglich" beanstandet, dass die Sachverständige die Anwesenheit einer Begleitperson bei der Untersuchung ohne weitere Begründung kategorisch abgelehnt habe und dadurch der Anspruch auf ein faires Verfahren sowie auf rechtliches Gehör verletzt sei. Auf Anforderung des LSG hat die Sachverständige hierzu ausgeführt, dass in Anwesenheit Dritter kein aussagefähiger psychischer Querschnittsbefund erhoben werden könne. Sie gestatte ebenso wie praktisch alle anderen Gutachter die Anwesenheit einer Begleitperson bei Begutachtungen daher grundsätzlich nicht. Das LSG hat nach mündlicher Verhandlung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und sich dabei auf die von der Beklagten und vom SG eingeholten Gutachten, insbesondere aber auch auf das Gutachten der H gestützt. Dessen Verwertung sei nicht ausgeschlossen. Zwar sei für die Entscheidung, ob eine Begleitperson bei der gutachterlichen Untersuchung anwesend sein dürfe, nicht der Sachverständige, sondern das Gericht zuständig. Die Klägerin habe sich aber nach der Ablehnung durch die Sachverständige mit der Durchführung der Untersuchung ohne Begleitperson zumindest konkludent einverstanden erklärt.

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Klägerin beim BSG Beschwerde eingelegt. Sie macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Zudem hat sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten beantragt.

II

1. Der Antrag auf Bewilligung von PKH ist abzulehnen.

Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO kann einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf seinen Antrag hin PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hier fehlt es an einer hinreichenden Erfolgsaussicht, weil die unbedingt erhobene Nichtzulassungsbeschwerde bereits unzulässig ist (s dazu sogleich unter 2.). Eine Beiordnung des Prozessbevollmächtigten im Rahmen der PKH kommt somit nicht in Betracht (vgl § 121 Abs 1 ZPO).

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Begründung entspricht nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die Klägerin hat eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht ausreichend dargelegt. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.

Eine Rechtssache hat nur dann iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage zu revisiblem Recht (§ 162 SGG) aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Zur ordnungsgemäßen Bezeichnung dieses Revisionszulassungsgrundes (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) muss der Beschwerdeführer daher eine Rechtsfrage benennen und zudem deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 4 mwN; BSG Beschluss vom 22.12.2022 - B 5 R 119/22 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 42 RdNr 5; s auch Meßling in Krasney/Udsching/Groth/Meßling, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 8. Aufl 2022, Kap IX RdNr 283 ff). Daran fehlt es hier.

Die Klägerin bezeichnet folgende Frage als klärungsbedürftig:

"Welche verfahrensrechtlichen Konsequenzen (Befangenheit des Sachverständigen, Minderung des Beweiswertes des Gutachtens, Beweisgewinnungsverbot, Beweisverwertungsverbot, etc.) ergeben sich, wenn ein medizinischer Sachverständiger verkennt, dass die Entscheidung über die Anwesenheit eines Dritten während der Begutachtung im Streitfall nicht in seine Kompetenz fällt, sondern allein in der Kompetenz des Gerichts liegt?"

Es kann dahinstehen, ob es sich hierbei um eine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkret benannten (revisiblen) Rechtsvorschrift mit höherrangigem Recht handelt. Zwar kann auch Fragen des Verfahrensrechts eine grundsätzliche Bedeutung zukommen (s dazu Meßling in Krasney/Udsching/Groth/Meßling, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 8. Aufl 2022, Kap IX RdNr 72 mwN). Zweifel drängen sich hier insbesondere aber deshalb auf, weil die genannte Frage sehr allgemein gehalten ist, mehrere Alternativen benennt, von der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen Verfahrens abhängt und damit eine Antwort letztlich auf eine lehrbuchhafte Aufbereitung durch den Senat hinausliefe (vgl Meßling aaO RdNr 284; s auch BSG Beschluss vom 8.10.2020 - B 1 KR 72/19 B - juris RdNr 6 mwN).

Ungeachtet dessen hat die Klägerin die Entscheidungserheblichkeit der von ihr benannten Frage in dem von ihr erstrebten Revisionsverfahren (Klärungsfähigkeit) nicht aufgezeigt. Ihr Hinweis, die Frage betreffe "mit § 159 SGB III revisibles Recht", ist im Kontext des vorliegenden Rechtsstreits um eine Erwerbsminderungsrente nicht nachvollziehbar. Soweit die Klägerin ausführt, die Verletzung des § 404a ZPO (Kompetenzverteilung zwischen dem Sachverständigen und dem Gericht) lasse sich auch durch nachträglich von der Sachverständigen vorgetragene gute Gründe "nicht … heilen" und bei Bejahung eines Beweisverwertungsverbots komme nur die Anfertigung eines neuen Sachverständigengutachtens in Betracht, fehlen jegliche Darlegungen, weshalb im Lichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl zB BSG Urteil vom 5.2.2008 - B 2 U 8/07 R - BSGE 100, 25 = SozR 4-2700 § 200 Nr 1, RdNr 52; BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 3 KR 14/11 R - BSGE 111, 58 = SozR 4-2500 § 109 Nr 24, RdNr 30; BSG Urteil vom 27.10.2022 - B 9 SB 1/20 R - SozR 4-1500 § 118 Nr 5, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen) in der hier zu beurteilenden Konstellation (Durchführung der Untersuchung beim Sachverständigen trotz des Ausschlusses der Begleitperson) ein Beweisverwertungsverbot überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen werden könnte.

Letztlich erstrebt die Klägerin eine weitere Sachaufklärung durch das LSG (vgl § 103 SGG), weil sie das vom Berufungsgericht eingeholte Gutachten der H für fehlerhaft und zudem für unverwertbar hält. Eine darauf gestützte Sachaufklärungsrüge setzt voraus, dass gegenüber dem LSG in der mündlichen Verhandlung ein weiterhin bestehender Aufklärungsbedarf mit Hilfe eines Beweisantrags verdeutlicht worden ist (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Teilsatz 3 SGG). Ein solcher Beweisantrag kann auch damit begründet werden, dass ein bereits vom Gericht eingeholtes Gutachten unverwertbar oder ungenügend sei (vgl § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO; s dazu BSG Beschluss vom 27.8.2018 - B 9 SB 1/18 B - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 27.1.2021 - B 13 R 77/20 B - juris RdNr 9). Die Klägerin hat indes nicht vorgetragen, dass sie in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG durch ihren Prozessbevollmächtigten einen entsprechenden Beweisantrag angebracht hat. Ihre Rüge einer grundsätzlichen Bedeutung würde damit im konkreten Fall letztlich zu einer Umgehung der in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG angeordneten Beschränkung einer Nachprüfbarkeit von bestimmten Verfahrensfehlern führen (vgl BSG Beschluss vom 30.5.2006 - B 2 U 86/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 9 RdNr 3 f; s auch Meßling in Krasney/Udsching/Groth/Meßling, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 8. Aufl 2022, Kap IX RdNr 72).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

3. Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 183 Satz 1 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 und 4 SGG.

Düring

Körner

Hahn

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16148578

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