Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Anspruch auf rechtliches Gehör. Abweichung von einer in einem Erörterungstermin durch den Berichterstatter geäußerten Rechtsauffassung bei Entscheidung nach mündlicher Verhandlung ohne vorherigen Hinweis
Orientierungssatz
1. Nur wenn das Gericht nach Durchführung einer förmlichen Beratung seine Rechtsauffassung zu einer entscheidungserheblichen Frage zu Protokoll gibt und hieran Vorschläge für eine sachgerechte Lösung und prozessuale Behandlung des Falles knüpft, beinhaltet dies eine zumindest vorläufige rechtliche Festlegung, die den Beteiligten als Grundlage für ihre weiteren Dispositionen dient.
2. Wird im Zuge der Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses nach § 112 Abs 2 S 2 SGG mit den Beteiligten ein Rechtsgespräch geführt, sind dies keine Festlegungen, auf die sich die Beteiligten bei ihrer weiteren Prozessführung einstellen können (vgl BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B = SozR 4-1500 § 124 Nr 1). Dies gilt insbesondere, wenn ein Erörterungstermin alleine vom Berichterstatter durchgeführt wird und später der mit drei Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzte Senat entscheidet, in dessen Beratung der Berichterstatter schlicht überstimmt werden kann.
Normenkette
SGG § 112 Abs. 2 S. 2, § 62; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 25.03.2011; Aktenzeichen L 32 AS 2057/09) |
SG Berlin (Urteil vom 02.11.2009; Aktenzeichen S 168 AS 6816/07) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 25. März 2011 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Der Kläger hat zur Begründung seiner Beschwerde keinen der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe (grundsätzliche Bedeutung, Abweichung oder Verfahrensmangel) gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG schlüssig dargelegt oder bezeichnet.
Der Kläger stützt seine Beschwerde zuerst auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG. Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erfordert die Formulierung einer bestimmten abstrakten Rechtsfrage, der in dem Rechtsstreit eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung beigemessen wird (BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11, BSG SozR, aaO, Nr 60). Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren Voraussetzungen für die begehrte Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prüfen zu können (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, IX, RdNr 181).
Die vom Kläger formulierte "Rechtsfrage, auf welche Zweckbestimmung abzustellen ist", ist keine abstrakte Rechtsfrage, sondern eine Frage zur Rechtsanwendung im vorliegenden Einzelfall. Denn auf diese Frage kann, selbst wenn die sie umgebenden Ausführungen des Klägers miteinbezogen werden, keine allgemeine, abstrakte Antwort gegeben werden, sondern nur eine Antwort aufgrund der näheren Umstände des vorliegenden Einzelfalls. Eine darüber hinausgehende allgemeine und damit abstrakte Rechtsfrage hat der Kläger nicht formuliert.
Außerdem rügt der Kläger, die Entscheidung des LSG weiche von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17.6.2010 - B 14 AS 46/09 R - ab. Eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann hinreichend dargetan, wenn aufgezeigt wird, mit welcher genau bestimmten entscheidungserheblichen rechtlichen Aussage die angegriffene Entscheidung des LSG von welcher ebenfalls genau bezeichneten rechtlichen Aussage des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) abweicht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 21, 29 und 54).
Zwar hat der Kläger ein Zitat aus der Entscheidung des BSG wiedergegeben, diesem aber keine entscheidungserhebliche rechtliche Aussage des LSG aus dessen angefochtener Entscheidung gegenübergestellt.
Des Weiteren rügt der Kläger als Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 62 SGG: Von der von der Berichterstatterin im Erörterungstermin vom 17.6.2010 vertretenen Rechtsauffassung sei der Senat bei seiner Entscheidung vom 25.3.2011 zu Lasten des Klägers abgewichen. Hierauf hätte der Senat den Kläger vor seiner Entscheidung hinweisen müssen, sodass ihm weiterer Vortrag möglich gewesen wäre.
Mit diesem Vortrag hat der Kläger den gerügten Verfahrensmangel jedoch nicht dargelegt. Nur wenn das Gericht nach Durchführung einer förmlichen Beratung seine Rechtsauffassung zu einer entscheidungserheblichen Frage zu Protokoll gibt und hieran Vorschläge für eine sachgerechte Lösung und prozessuale Behandlung des Falles knüpft, beinhaltet dies eine zumindest vorläufige rechtliche Festlegung, die den Beteiligten als Grundlage für ihre weiteren Dispositionen dienen soll. Freilich ist nicht jeder im Laufe des Verfahrens vom Vorsitzenden oder einem Mitglied des Spruchkörpers gegebene rechtliche Hinweis dazu angetan, ein solches Vertrauen zu begründen. Wird im Zuge der Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses (§ 112 Abs 2 Satz 2 und Abs 4 SGG) mit den Beteiligten ein Rechtsgespräch geführt, sind dies keine Festlegungen, auf die sich die Beteiligten bei ihrer weiteren Prozessführung einstellen können (BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 8). Dies gilt insbesondere, wenn wie vorliegend ein Erörterungstermin alleine vor der Berichterstatterin durchgeführt wird und später der mit drei Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzte Senat entscheidet, in dessen Beratung die Berichterstatterin schlicht überstimmt werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen