Tenor
Zur Fortbildung des Rechts und zugleich zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung werden dem Großen Senat des Bundessozialgerichts gemäß § 43 des Sozialgerichtsgesetzes unter Anschluß an die Vorlagen des 4. und 12. Senats von 18. März und 25. September 1945 – 4 RJ 319/74, 12 RJ 66/75 und 12 RJ 356/74 – auch noch folgende weitere Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:
A. Welche Entscheidungssätze treten gegebenenfalls bei einer Aufhebung der Beschlüsse des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 – GS 4/69 und GS 2/68 – an die Stelle der aufgehobenen Entscheidungssätze Nr. 1 bis 6?
Wird insbesondere bei einer Aufhebung der Entscheidungssätze 5 und 6 an deren Stelle bestimmt, daß alle Versicherten, die nicht mehr vollschichtig arbeiten können, nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden können für die Arbeitsplätze an ihrem Wohnort oder in dessen näherer täglich zu erreichender Umgebung vorhanden sind?
Kann es als allgemein zulässig angesehen werden, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an das örtlich zuständige Arbeitsamt zu beschränken?
B. Zusätzlich werden dem Großen Senat noch folgende Fragen vorgelegt:
Soll die Tatsache, daß ältere Arbeitnehmer allgemein nur noch schwer einen offenen Arbeitsplatz finden, bei der zur Feststellung der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit einer Teilzeitarbeitskraft erforderlichen Prüfung der Frage, ob dem Versicherten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, berücksichtigt werden?
Soll an der Differenzierung der einem Versicherten noch möglichen Arbeitszeit in vollschichtig, halbschichtig bis untervollschichtig, zweistündig bis unterhalbschichtig und unter zweistündig (vgl. BSGE 30, 167, 188 und 30, 192, 206, 208) festgehalten werden oder soll eine Differenzierung der noch möglichen Arbeitszeit vorgesehen werden, die nur noch unterscheidet, ob der Versicherte noch vollschichtig, halbschichtig oder unterhalbschichtig arbeiten kann?
Tatbestand
I.
Der 5. Senat hat darüber zu entscheiden, ob der am 13. Mai 1924 geborenen Klägerin ab 1. September 1971 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen ist.
Die Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war versicherungspflichtig als Heimarbeiterin, Packerin, Einlegerin und Fabrikarbeiterin beschäftigt. Einen im November 1971 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Dezember 1971 ab, weil die Klägerin weder berufs- noch erwerbsunfähig sei. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Koblenz mit Urteil vom 15. Februar 1973 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit gemäß dem Rentenantrag vom 4. November 1971 zu zahlen. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit der Klarstellung zurückgewiesen, daß die Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. September 1971 zu zahlen ist.
Nach den Feststellungen des LSG kann die Klägerin nur noch halbschichtig bis untervollschichtig leichte Tätigkeiten, im Wechsel zwischen Umhergehen, Stehen und Sitzen verrichten, bei denen sie keinen nervlichen Belastungen, wie sie z. B. bei Fließband- und Akkordarbeiten bestehen, ausgesetzt ist. Wegen der nicht nur in zeitlicher Hinsicht eingeschränkten Arbeitsfähigkeit, die als stark im Sinne des Beschlusses des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 – GS 4/69 – anzusehen sei, sei es ihr praktisch nicht möglich, das ihr verbliebene Leistungsvermögen in eine erwerbsbringende Tätigkeit umzusetzen, zumal sie nach ihren Fähigkeiten und Kräften nicht auf Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe und nach ihrem Gesundheitszustand nicht auf die körperlich zum Teil schweren Reinigungs- und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten verwiesen werden könne. Selbst die Arbeitsverwaltung, insbesondere die Bundesanstalt für Arbeit (BA), die vornehmlich ihrem gesetzlichen Auftrag entsprechend zur Arbeitsmarktbeobachtung und Arbeitsvermittlung berufen sei, könne nicht angeben, ob, wo und in welchem Umfang Arbeitsplätze, die für derartig leistungsmindernde Versicherte in Betracht kommen, zur Verfügung stehen. Die BA habe weder einen Überblick über die Zahl der freien und besetzten Teilzeitarbeitsplätze, die für das Leistungsvermögen der Klägerin in Betracht kämen, noch einen Überblick über die Zahl der Interessenten für solche Arbeitsplätze. Das ergebe sich auch aus einer in einem anderen Verfahren, an dem die Beklagte beteiligt sei, von der BA eingeholten Auskunft vom 14. September 1973, die wegen der Gleichartigkeit der Fragestellung im hier zu entscheidenden Rechtsstreit verwertet werden könne. Nach dieser Auskunft lasse sich die Zahl der besetzten Teilzeitarbeitsplätze zur Zeit nur aus den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes nach dem Mikronzensus entnehmen, der eine Erfassung nach Berufen oder Berufsgruppen sowie nach der Schwere der ausgeübten Tätigkeiten nicht vorsehe. Die BA habe in dieser Auskunft auch erklärt, ihr seien keine Statistiken bekannt, die nach psychischen und physischen Anforderungen am Arbeitsplatz unterschieden. Auch das zahlenmäßig erfaßte Stellenangebot unterscheide nicht nach individuellen Leistungsanforderungen in fachlicher und physischer Hinsicht. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der von ihr eingelegten Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe mit der Feststellung, daß der Klägerin der Arbeitsmarkt verschlossen sei, gegen § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verstoßen. Nach ihrer Ansicht kann die Klägerin nach ihrem noch vorhandenen Leistungsvermögen praktisch auf den gesamten allgemeinen halbschichtigen bis untervollschichtigen Teilzeitarbeitsmarkt verwiesen werden. Außer der zeitlichen Einschränkung lägen bei ihr keine weiteren starken zusätzlichen Einschränkungen im Sinne des Beschlusses des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 – GS 4/69 – vor. Für die Klägerin kämen daher zahlreiche Teilzeitarbeiten in Industrie, Gewerbe und Dienstleistungsbereich, zB leichte Pack- und Sortierarbeiten, das Auszeichnen von Waren mit Preisschildern, Tätigkeiten in der gewerblichen und industriellen Fertigung, Tätigkeiten hausfraulicher Art in Großküchen, Kantinen und im Gaststättengewerbe, zB als Gemüseputzerin, Kartoffelschälerin, Küchenhilfe usw., die Beaufsichtigung von Kindern in Privathaushalten, Tätigkeiten in Beherbergungsbetrieben, wie zB das Bedienen von Bügelautomaten, Ausbessern von Wäschestücken usw. in Betracht. Das LSG hätte auch seine Annahme, der Klägerin sei der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, nicht nur auf Auskünfte der BA stützen dürfen, sondern weitere Ermittlungen durchführen müssen.
Entscheidungsgründe
II.
Der Senat ist der Auffassung, daß die dem Großen Senat (GS) mit den Vorlagen des 4. Senats vom 18. März 1975 (4 RJ 319/74) und des 12. Senats vom 25. September 1975 (12 RJ 66/75 und 12 RJ 356/74) zur Entscheidung vorgelegten Rechtsfragen zu eng gefaßt sind, um dem GS Gelegenheit zu geben, die Frage der Beurteilung von Berufsunfähigkeit (BU) und Erwerbsunfähigkeit (EU) bei Teilzeitarbeitskräften in ihrer ganzen Breite neu prüfen und entscheiden zu können.
Der 4. Senat hat sich auf die Frage beschränkt, ob der GS an seinen Entscheidungssätzen 4 der Beschlüsse vom 11. Dezember 1969 festhält und hat lediglich zusätzlich gefragt, welche Folgen sich aus der Beantwortung dieser Frage für die übrigen Entscheidungssätze ergeben. Diese Frage gibt zwar dem GS, falls er an den Entscheidungssätzen 4 nicht festhält, auch die Möglichkeit zu entscheiden, ob und mit welchem anderen Inhalt diese Entscheidungssätze beschlossen werden sollen. Immerhin erscheint es jedoch schon zweifelhaft, ob der GS auch die Entscheidungssätze 5 und 6 überprüfen kann, da die Beantwortung der Frage, ob die Verweisbarkeit auf den Gesamtarbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland oder auf den örtlichen, täglich von dem Versicherten zu erreichenden Arbeitsmarkt und die Frage, ob eine Auskunft der BA oder des örtlichen Arbeitsamts maßgebend sein soll, noch als Folge einer anderen Fassung der Entscheidungssätze 4 angesehen werden kann.
Die Frage, ob das Alter des Versicherten bei der Entscheidung, ob der Arbeitsmarkt für einen Versicherten praktisch verschlossen ist und die weitere Frage, ob die Teilzeittätigkeiten eine andere zeitliche Einteilung als bisher erfordern, kann nach Ansicht des Senats jedoch, da sie in den Entscheidungssätzen 1 bis 6 keine Rolle spielen, keinesfalls als mit vorgelegt angesehen werden.
Die vom 12. Senat vorgelegten Rechtsfragen haben zum Inhalt, ob der GS an seinen Entscheidungssätzen 1 der Beschlüsse vom 11. Dezember 1969 festhält und, wenn dies der Fall ist, ob er an seinen Entscheidungssätzen 2 bis 6 dieser Beschlüsse festhält. Es fehlt die Frage, ob der GS, falls er an den Entscheidungssätzen 1 nicht festhält, diesen gegebenenfalls einen anderen Inhalt geben will. Selbst wenn man annimmt, daß die Vorlage diese Frage stillschweigend mitumfaßt, so sind doch die Entscheidungssätze 2 bis 6 dann nicht als vorgelegt anzusehen, weil sie nur für den Fall vorgelegt sind, daß der GS an den Entscheidungssätzen 1 festhält. Über die Entscheidungssätze 2 bis 6 könnte also in diesem Fall überhaupt nicht entschieden werden. Die Fragen, ob das Alter des Versicherten bei der Entscheidung, ob der Teilzeitarbeitsmarkt praktisch verschlossen ist und ob die bisherige zeitliche Einteilung der Teilzeitarbeiten beibehalten werden soll, sind keinesfalls vorgelegt.
III.
Zu den Fragen, denen der Senat besondere Bedeutung beimißt, wird wie folgt Stellung genommen:
Der GS hat in seinen Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 – GS 4/69 und GS 2/68 – (BSGE 30, 167 f und 192 f) entschieden (BSGE 30, 167, 188, 192, 205), daß sich zwar nicht ein Versicherter, der nur noch weniger als halbschichtig arbeiten kann, wohl aber ein Versicherter, der noch halbschichtig bis unterhalbschichtig arbeiten kann, grundsätzlich auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes verweisen lassen muß. Zu der Frage der Aufklärung der Verweisungsmöglichkeiten hat der GS ausgeführt, es sei nicht allgemein zulässig, könne aber im Einzelfall vertretbar sein, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken.
Bei der Frage einer Verweisung von Teilzeitarbeitskräften hat sich inzwischen ergeben, daß alle Personen, die infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte nicht mehr vollschichtig arbeiten können, also über die in den Entscheidungssätzen 5 der Beschlüsse des GS vom 11. Dezember 1969 begünstigten Personen hinaus auch die Personen, die noch halbschichtig bis untervollschichtig arbeiten können, in ihrer Beweglichkeit so stark eingeschränkt sind, daß ihnen ein Wechsel des Wohnsitzes und damit ein Wechsel der vertrauten Umgebung nicht mehr zugemutet werden kann. Es bestehen also Bedenken, diejenigen Personen, die noch halbschichtig bis untervollschichtig arbeiten können, auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes zu verweisen. Man sollte nach Ansicht des Senats vielmehr zu dem Ergebnis kommen, daß alle Personen, die nicht mehr vollschichtig arbeiten können, nur auf Tätigkeiten verwiesen werden können, für die es Arbeitsplätze an ihrem Wohnort oder in dessen näherer, täglich zu erreichender Umgebung gibt.
Wenn man zu dieser Einschränkung der Verweisungsmöglichkeiten kommen sollte, würde man sich auf Anfragen an das örtliche Arbeitsamt, das gegebenenfalls Auskünfte der in Betracht kommenden benachbarten Arbeitsämter mit heranziehen müßte, zu beschränken haben. Dieses ist am besten in der Lage, den Arbeitsmarkt zu überblicken, da es zu den ihm gesetzlich übertragenen Aufgaben gehört, diesen zu beobachten.
Es ist heute unbestritten, daß für ältere Arbeitnehmer ganz allgemein die Chance, einen offenen Arbeitsplatz zu finden, geringer ist als bei Arbeitsuchenden mittleren und jüngeren Alters. Wenn auch, wie der GS in seinen o.a. Beschlüssen zutreffend ausgeführt hat, das Alter eines Versicherten bei der Beurteilung von BU und EU unberücksichtigt bleiben muß, weil die Rentenversicherung für das Alter eigene Versicherungsfälle vorsieht, so ist es nach Ansicht des Senats doch möglich und geboten, bei der speziellen Frage, ob der Arbeitsmarkt für eine Teilzeitarbeitskraft praktisch verschlossen oder nicht verschlossen ist, die Tatsache mit zu berücksichtigen, daß der Versicherte wegen seines höheren Alters nur schwer einen offenen Arbeitsplatz findet. Dies um so mehr als diese Schwierigkeit bei älteren Teilzeitarbeitskräften noch erheblich größer ist als bei älteren Vollzeitarbeitskräften. Denn die Leistungsfähigkeit eines solchen Versicherten ist in aller Regel infolge von Krankheit, Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte in besonders starkem Maße gemindert. Es fragt sich, ob der Arbeitsmarkt für eine Teilzeitarbeitskraft, die etwa das 50. oder das 55. Lebensjahr vollendet hat, als grundsätzlich verschlossen anzusehen ist, wenn sie keinen Arbeitsplatz innehat und ihr ein solcher auch nicht angeboten wird (vgl. hierzu auch Wiegand: „Der offene Arbeitsmarkt für ältere Arbeitnehmer” in: „Die Sozialgerichtsbarkeit 1975, 389 f”). Der Senat neigt zu der Auffassung, daß das insoweit entscheidende Alter bei 55 Jahren angenommen werden sollte.
In seinen Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 ist der GS hinsichtlich der einem Versicherten noch möglichen Arbeitszeit von den Differenzierungen vollschichtig, halbschichtig bis untervollschichtig, zweistündig bis unterhalbschichtig und unter zweistündig ausgegangen (BSGE 30, 188, 206 und 208). Da die medizinischen Sachverständigen, wie sich gezeigt hat, kaum in der Lage sind, Feindifferenzierungen dieser Art vorzunehmen, sondern allenfalls Aussagen über grob gestaffelte Zeiträume zu geben und es jedenfalls in mittleren und größeren Betrieben, wenn überhaupt, nur vollschichtige oder halbschichtige Arbeitsplätze gibt, wäre es angebracht, bei der Prüfung des Vorliegens von BU und EU eine Differenzierung nur noch dahin vorzunehmen, ob der Versicherte vollschichtig, halbschichtig oder unterhalbschichtig arbeiten kann. Eine solche gröbere Unterscheidung konnte zudem den begrüßenswerten Nebeneffekt haben, daß die medizinischen Sachverständigen sich nicht mehr allzu leicht verleiten lassen, den Versicherten auf fünf, sechs oder sieben Stunden Arbeit anstatt auf leichte Vollzeittätigkeiten zu verweisen. Es könnte auf diese Weise vielleicht erreicht werden, die Zahl der Versicherten, die von den Ärzten nur noch zur Verrichtung von Teilzeitarbeit als fähig angesehen werden, zu verringern.
Unterschriften
Dr. Dapprich, Rauscher, Schröder
Fundstellen