Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Beschluss über Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Materielle Rechtskraft. Gegenvorstellung allenfalls bei verfassungsrelevantem Verfahrensrechtsverstoß. Anwaltszwang. Keine Verletzung der EMRK
Leitsatz (redaktionell)
1. Abweichend von der grundsätzlichen Bindung des BSG an die selbst getroffenen Entscheidungen (Rechtsgedanke des § 318 ZPO, der über § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt) kommt eine Selbstkorrektur im Rahmen einer Gegenvorstellung überhaupt nur dann in Betracht, wenn dies aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten ist und ansonsten nur die Verfassungsbeschwerde in Betracht käme. Dies ist vor allem bei einer Verletzung der verfassungsrechtlichen Verfahrensgrundsätze in Art. 101 Abs. 1 GG (Gebot des gesetzlichen Richters) und Art. 103 Abs. 1 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör) der Fall.
2. Berücksichtigt das BSG im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nur die anwaltlichen Ausführungen, nicht aber die ergänzende persönliche Stellungnahme des Klägers, kann der Kläger nicht mit dem Einwand durchdringen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergebe sich, dass die Partei ein eigenes Vortragsrecht haben müsse und deshalb der auch im sozialgerichtlichen Verfahren vor dem BSG bestehende Anwaltszwang gegen die Verfassung und europäisches Recht verstoße. Aus den Vorschriften der EMRK, in denen Mindestanforderungen für das Recht auf ein faires Verfahren und auf wirksame Beschwerde festgelegt sind (Art. 6 und 13), sowie aus dem GG lässt sich ein Verbot des Anwaltszwangs vor Revisionsgerichten nicht ableiten.
Normenkette
SGG § 166; ZPO § 318; GG Art. 103 Abs. 1; EMRK Art. 6, 13
Tenor
Die Gegenvorstellungen des Klägers vom 15. August 2003 geben keinen Anlass, den Beschluss vom 5. August 2003 zu ändern.
Der Antrag auf Akteneinsicht wird abgelehnt.
Gründe
Es ist bereits zweifelhaft, ob der erkennende Senat berechtigt ist, seinen Beschluss auf die Gegenvorstellung des Klägers zu ändern. Eine Änderung ist bei Entscheidungen, die der materiellen Rechtskraft fähig sind, grundsätzlich nicht zulässig (vgl Kummer in Festschrift für Krasney, 1997, S 280 mwN). Dies kann hier jedoch dahinstehen, denn es fehlt auch an einem Grund für eine Korrektur. Abweichend von der grundsätzlichen Bindung des Gerichts an die selbst getroffenen Entscheidungen (Rechtsgedanke des § 318 Zivilprozessordnung, der über § 202 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt) kommt eine Selbstkorrektur nur dann in Betracht, wenn dies aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten ist und ansonsten nur die Verfassungsbeschwerde in Betracht käme. Dies ist vor allem bei einer Verletzung der verfassungsrechtlichen Verfahrensgrundsätze in Art 101 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫ (Gebot des gesetzlichen Richters) und Art 103 Abs 1 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör) der Fall.
Der Kläger macht mit seiner Gegenvorstellung zwar eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend; sie liegt jedoch nicht vor.
1) Der Senat hat im Rahmen des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) sowohl die anwaltliche Beschwerdebegründung vom 30. Mai 2003 als auch die persönlichen Ausführungen des Klägers vom 4. Juni 2003 berücksichtigt. Für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ergab sich danach keine Aussicht auf Erfolg. Weder den Schriftsätzen noch dem Akteninhalt ließen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Voraussetzungen für einen der Revisionszulassungsgründe des § 160 Abs 2 SGG erfüllt sein könnten.
Die persönlichen Ausführungen des Klägers vom 4. Juni 2003 hätten im Übrigen nur dann zur Bewilligung von PKH führen können, wenn es möglich gewesen wäre, dem Kläger anschließend wegen der am 5. Juni 2003 abgelaufenen Frist zur Beschwerdebegründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, damit danach die Beschwerde – in Ergänzung zur bereits vorliegenden anwaltlichen Begründung vom 30. Mai 2003 – durch den Prozessbevollmächtigten (§ 166 SGG) weiter begründet wird. Eine Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Frist zur Beschwerdebegründung ist aber nur dann möglich, wenn ein Prozessbevollmächtigter entweder bei Einlegung der Beschwerde deutlich zu erkennen gibt, dass er seine Tätigkeit bis zur Entscheidung über die PKH auf die bloße Einlegung der Beschwerde beschränkt (vgl BSG SozR 1500 § 164 Nr 9; Beschluss vom 22. Juli 2003 – B 3 KR 7/03 B), oder er nach Einlegung der Beschwerde einen PKH-Antrag mit dem Entwurf einer Beschwerdebegründung verbindet, also deutlich macht, dass die eigentliche Beschwerdebegründung bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den PKH-Antrag zurückgestellt wird. Hier ist der Antrag auf Bewilligung von PKH jedoch nicht zusammen mit der Einlegung der Beschwerde oder mit dem Entwurf einer Beschwerdebegründung, sondern erst mit der ergänzenden Stellungnahme des Klägers vom 4. Juni 2003 gestellt worden.
2) Da eine Wiedereinsetzung ausschied, war es zulässig, die Entscheidungen über den PKH-Antrag und die Nichtzulassungsbeschwerde miteinander zu verbinden.
3) Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde hat der Senat dann nur die anwaltlichen Ausführungen berücksichtigt (§ 166 SGG), nicht aber die ergänzende persönliche Stellungnahme des Klägers. In diesem Zusammenhang kann der Kläger nicht mit dem Einwand durchdringen, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergebe sich, dass die Partei ein eigenes Vortragsrecht haben müsse und der auch im sozialgerichtlichen Verfahren vor dem Bundessozialgericht bestehende Anwaltszwang gegen die Verfassung und europäisches Recht verstoße. Aus den Vorschriften der EMRK, in denen Mindestanforderungen für das Recht auf ein faires Verfahren und auf wirksame Beschwerde festgelegt sind (Art 6 und 13), sowie aus dem GG lässt sich ein Verbot des Anwaltszwangs vor Revisionsgerichten nicht ableiten.
4) Nachdem das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist und der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Gerichts- und Verwaltungsakten bereits im April und Mai 2003 eingesehen hat, bestand kein Anlass, dem erneuten Antrag des Klägers auf – nunmehr persönliche – Akteneinsicht stattzugeben.
5) Auf die Frage, ob der Kläger in Anbetracht des Vertretungszwangs (§ 166 SGG) persönlich Gegenvorstellungen erheben durfte, soweit es die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde betrifft, kam es nach allem nicht mehr an.
Fundstellen