Verfahrensgang
SG Mannheim (Entscheidung vom 24.07.2019; Aktenzeichen S 7 R 120/18) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 22.11.2022; Aktenzeichen L 13 R 2824/19) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. November 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1963 geborene Kläger beantragte am 10.1.2017 bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 12.6.2017). Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22.12.2017). Das SG hat die den Kläger behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen gehört und im Anschluss sowohl ein internistisches als auch ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt. Mit Gerichtsbescheid vom 24.7.2019 hat es die Klage abgewiesen. Das LSG hat auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ein arbeits- und sozialmedizinisches Fachgutachten nach Aktenlage bei W in Auftrag gegeben. Mit Urteil vom 22.11.2022 hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Ein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung bestehe nicht. Die vom SG und der Beklagten eingeholten Gutachten seien im Gegensatz zum auf Antrag des Klägers eingeholten Gutachten nachvollziehbar und überzeugten den Senat. Anhaltspunkte für eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung seien nicht ersichtlich. Die Wegefähigkeit des Klägers sei nicht eingeschränkt.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie eine Divergenz geltend.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist. Die Beschwerdebegründung legt die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dar. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen.
1. Eine grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist in der Beschwerdebegründung nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG dargetan.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine abstrakt-generelle Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus allgemeine Bedeutung hat und aus Gründen der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung einer Klärung durch das Revisionsgericht bedarf (Klärungsbedürftigkeit) und fähig (Klärungsfähigkeit) ist. In der Beschwerdebegründung ist daher zunächst aufzuzeigen, welche rechtliche Frage sich zu einer bestimmten revisiblen Norm iS des § 162 SGG stellt. Sodann ist anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung darzutun, weshalb deren Klärung erforderlich und im angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten ist. Schließlich ist aufzuzeigen, dass der angestrebten Entscheidung eine über den Einzelfall hinausgehende Breitenwirkung zukommt (s etwa Senatsbeschluss vom 13.4.2022 - B 5 R 291/21 B - juris RdNr 7 mwN).
Der Kläger stellt als Frage von grundsätzlicher Bedeutung,
"ob die medizinisch festgestellte Multimorbidität geeignet ist, den Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente, ob teilweise oder voll, auszulösen".
Es kann dahinstehen, ob der Kläger damit eine aus sich heraus verständliche abstraktgenerelle Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht formuliert.
Soweit das Vorbringen dahin zu verstehen ist, dass der Kläger Fragen zur Auslegung von § 43 SGB VI aufwerfen will, legt er jedenfalls die (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit derartiger Rechtsfragen nicht hinreichend dar. Eine Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. Als geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht diese zwar noch nicht ausdrücklich beantwortet hat, jedoch bereits Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage ergeben (stRspr; vgl bereits BSG Beschluss vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17; aus jüngerer Zeit BSG Beschluss vom 28.10.2020 - B 12 KR 65/20 B - juris RdNr 9 mwN). Der Kläger führt aus, sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur finde Multimorbidität keine angemessene Berücksichtigung. Er habe keine einzige Entscheidung gefunden, in der die Gerichte die Multimorbidität als ausschlaggebend für eine Erwerbsminderung berücksichtigt hätten. Die Gerichte würden sich auf Einzelbegutachtungen stützen, die in der Regel Einschränkungen diagnostizierten, die jedoch für sich genommen nicht geeignet seien, die Erwerbsfähigkeit erheblich herabzusetzen. Das LSG habe in der mündlichen Verhandlung kenntlich gemacht, dass es die "Begutachtung von Gutachten" und deren Auswertung für nicht zielführend halte. Auch gehe aus dem Urteil hervor, dass das LSG die Vorgehensweise des Sachverständigen W nicht nachvollziehen könne und es die Tragweite der Multimorbidität nicht erfasst habe. Das BSG habe im Urteil vom 29.3.2006 - B 13 RJ 31/05 R - jedoch ganz explizit darauf Bezug genommen, dass in Fällen einer ausgeprägten Multimorbidität anders entschieden werde könne. Der de facto erwerbsgeminderte Kläger werde bei gleichartiger Einschränkung der Erwerbsfähigkeit anders behandelt als nicht multimorbid erkrankte Kläger. Dies verstoße gegen Art 3 GG. Die Rechtsprechung müsse die medizinischen Erkenntnisse über die Multimorbidität berücksichtigen und ggf einen Gutachter benennen, der die verschiedenen Erkrankungen ins Verhältnis setze, um über die Erwerbsfähigkeit des Klägers (und anderer Kläger) entscheiden zu können.
Damit legt der Kläger jedoch nicht dar, dass sich die aufgeworfene Frage weder aus § 43 SGB VI noch anhand der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung beantworten lasse. Er zeigt insbesondere nicht auf, inwiefern es in Zweifel stehen könnte, eine Multimorbidität und mithin das gleichzeitige Bestehen mehrerer Krankheiten als Ursache einer Erwerbsminderung in Betracht zu ziehen, wenn nach § 43 Abs 1 Satz 2 bzw Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte erwerbsgemindert sind, deren Leistungsfähigkeit "wegen Krankheit oder Behinderung" im relevanten Umfang herabgesunken ist. Der Kläger hat im Gegenteil selbst darauf hingewiesen, dass der 13. Senat des BSG in dem von ihm zitierten Urteil (vom 29.3.2006 - B 13 RJ 31/05 R - BSGE 96, 147 = SozR 4-2600 § 102 Nr 2, RdNr 26) in einem Klammerzusatz ausgeführt hat, dass in Fällen einer ausgeprägten Multimorbidität möglicherweise eine andere Leistungsbeurteilung in Betracht kommen könnte und mithin Multimorbidität im Rahmen des § 43 SGB VI Relevanz haben kann. Ebenso wenig setzt der Kläger sich mit der ständigen Rechtsprechung des BSG auseinander, wonach es im Rahmen des § 43 SGB VI nicht auf eine Diagnosestellung oder Bezeichnung von Befunden ankommt, sondern auf den negativen Einfluss von dauerhaften Gesundheitsstörungen auf das verbliebene Leistungsvermögen (vgl BSG Beschluss vom 18.1.2022 - B 5 R 270/21 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 9.9.2021 - B 5 R 149/21 B - juris RdNr 10 mwN). Schließlich findet auch die Rechtsprechung zur Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen (grundlegend zuletzt BSG Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R - BSGE 129, 274 = SozR 4-2600 § 43 Nr 22) keine Erwähnung.
Soweit der Kläger einen Verstoß gegen Art 3 GG rügt, wird eine mögliche Verletzung von Verfassungsrecht nicht ansatzweise begründet. Abgesehen davon, dass der Vortrag, in Deutschland sei "eine Erwerbsminderung nur durch erhebliche Einzelerkrankungen zu erreichen", rechtlich nicht nachvollziehbar ist, genügt die bloße Behauptung der Verfassungswidrigkeit und die Nennung der als verletzt angesehenen Normen des Grundgesetzes den Begründungsanforderungen nicht (vgl BSG Beschluss vom 27.1.2023 - B 5 R 208/22 B - juris RdNr 8 mwN).
Mit seinem Vorbringen, abgesehen vom Sachverständigen W habe keiner der Sachverständigen sich mit der Multimorbidität auseinandergesetzt und das LSG habe die Tragweite der Multimorbidität nicht erfasst, wendet sich der Kläger letztlich gegen die Beweiswürdigung des LSG. Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG kann eine Nichtzulassungsbeschwerde aber von vornherein nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
2. Der Kläger hat auch eine Divergenz nicht ausreichend bezeichnet.
Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies, dass die Beschwerdebegründung erkennen lassen muss, welcher abstrakte Rechtssatz in der höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht (vgl BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 5 R 296/20 B - juris RdNr 9 mwN; BSG Beschluss vom 12.5.2022 - B 5 R 3/22 B - juris RdNr 6). Nicht ausreichend ist, wenn die fehlerhafte Anwendung eines als solchen nicht in Frage gestellten höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Berufungsgericht geltend gemacht wird (bloße Subsumtionsrüge), denn nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur eine Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen ermöglicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz (stRspr, zB BSG Beschluss vom 8.8.2019 - B 5 R 282/18 B - juris RdNr 16 mwN und aus jüngster Zeit BSG Beschluss vom 5.8.2022 - B 5 R 58/22 B - juris RdNr 5).
Diesen Darlegungserfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Der Kläger hat weder einen tragenden Rechtssatz des LSG herausgearbeitet noch diesem einen konkreten Rechtssatz des BSG gegenübergestellt, von dem das Berufungsgericht abgewichen sein soll. Er trägt vor, das LSG habe die Rechtsprechung des BSG hinsichtlich der konkreten Betrachtungsweise des Arbeitsmarkts sowie hinsichtlich der konkreten Verweisungstätigkeit völlig außer Acht gelassen. Der Kläger nennt bereits keine konkreten Entscheidungen des BSG zum Erfordernis der Benennung einer Verweisungstätigkeit (vgl auch insoweit BSG Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R - BSGE 129, 274 = SozR 4-2600 § 43 Nr 22, RdNr 40). Sofern er vorträgt, er sei als Facharbeiter einzustufen und es müsse eine zumutbare Verweisungstätigkeit benannt werden, bezieht er sich auf das vom BSG für die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI entwickelte sog Mehr-Stufen-Schema (vgl zB BSG Urteil vom 20.7.2005 - B 13 RJ 29/04 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 4). Inwiefern diese Rechtsprechung hier einschlägig sein soll, legt der im Jahr 1963 geborene Kläger nicht dar. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang erneut eine aus seiner Sicht fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht rügt, kann hierauf seine Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein nicht gestützt werden (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15673486 |