Verfahrensgang
SG Speyer (Entscheidung vom 15.12.2020; Aktenzeichen S 11 R 175/18) |
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.07.2022; Aktenzeichen L 2 R 10/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. Juli 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die am 16.3.1961 geborene Klägerin begehrt eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Die Beklagte lehnte ihren Rentenantrag aus Februar 2017 nach Einholung eines neurologischpsychiatrischen Gutachtens ab (Bescheid vom 23.8.2017; Widerspruchsbescheid vom 21.2.2018). Das SG hat auf Antrag der Klägerin ein Gutachten und eine ergänzende Stellungnahme beim Internisten und Schmerztherapeuten H sowie von Amts wegen ein Gutachten und eine ergänzende Stellungnahme bei der Neurologin und Psychiaterin P eingeholt. Es hat der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall am Tag der Untersuchung durch den Sachverständigen H eine befristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren (Gerichtsbescheid vom 15.12.2020). Das LSG hat im dagegen von der Beklagten angestrengten Berufungsverfahren ein Gutachten und eine ergänzende Stellungnahme beim Neurologen und Psychiater N sowie auf Antrag der Klägerin ein Gutachten bei der Arbeitsmedizinerin B eingeholt. Mit Urteil vom 19.7.2022 hat es die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die medizinischen Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente lägen nicht vor, wie sich aus den überzeugenden Gutachten des Sachverständigen N und der Sachverständigen P ergebe. Der abweichenden Einschätzung der Sachverständigen H und B könne nicht gefolgt werden.
Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung Beschwerde zum BSG eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom 10.11.2022 begründet hat.
II
1. Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Die geltend gemachten Verfahrensmängel werden nicht anforderungsgerecht bezeichnet.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die Beschwerdebegründung wird den daraus abgeleiteten Anforderungen nicht gerecht.
a) Die Klägerin beruft sich auf eine Verletzung der Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 Halbsatz 1 SGG), indem das LSG angesichts der unterschiedlichen Gutachtenergebnisse kein weiteres Gutachten eingeholt und die Sachverständige B nicht zur Ergänzung ihres Gutachtens aufgefordert habe. Eine Sachaufklärungsrüge ist damit nicht anforderungsgerecht erhoben (vgl zu den Anforderungen zB BSG Beschluss vom 16.11.2022 - B 5 R 112/22 B - juris RdNr 17 mwN). Die Klägerin hat schon nicht vorgetragen, einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag vor dem LSG gestellt und bis zuletzt daran festgehalten zu haben. Im Übrigen besteht kein allgemeiner Anspruch auf Überprüfung eines oder mehrerer Sachverständigengutachten durch ein sog Obergutachten (stRspr; vgl nur BSG Beschluss vom 23.5.2006 - B 13 RJ 272/05 B - juris RdNr 5, 11; BSG Beschluss vom 24.5.2017 - B 3 P 6/17 B - juris RdNr 13; BSG Beschluss vom 18.8.2022 - B 5 R 124/22 B - juris RdNr 7). Vielmehr ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit den vorliegenden Gutachten auseinanderzusetzen. Hält das Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem grundsätzlich anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen (vgl BSG Beschluss vom 20.2.2018 - B 10 LW 3/17 B - juris RdNr 8).
b) Die Klägerin rügt sinngemäß eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG) sowie der richterlichen Hinweispflichten (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG), indem das LSG sie nicht auf die beabsichtigte Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und Abweisung ihrer Klage hingewiesen habe. Eine allgemeine Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, gibt es jedoch nicht. Sie wird weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten begründet, denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (vgl zB BSG Beschluss vom 13.4.2022 - B 5 R 291/21 B - juris RdNr 20 mwN). Allein der Umstand, dass die Klägerin nach ihrem Vorbringen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung angeregt und damit ihres Erachtens signalisiert habe, nicht an einer Verhandlung teilnehmen zu wollen, vermag keine Hinweispflicht zu begründen. Von einer prozessrechtswidrigen Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 13.4.2022 - B 5 R 291/21 B - juris RdNr 21 mwN). Zur schlüssigen Bezeichnung eines solchen Verfahrensmangels ist deshalb im Einzelnen vorzutragen, aus welchen Gründen aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit gerechnet werden musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt. Daran fehlt es hier.
Die Klägerin macht geltend, sie sei von einer Zurückweisung der Berufung ausgegangen, nachdem das zuletzt eingeholte Gutachten der Sachverständigen B ihren Vortrag bestätigt habe und bereits der Sachverständige H im erstinstanzlichen Verfahren zumindest von einer teilweisen Erwerbsminderung ausgegangen sei. Damit ist nicht schlüssig dargetan, die Berufungsentscheidung sei "überraschend" erfolgt. Die Klägerin zeigt nicht auf, inwiefern angesichts der divergierenden Gutachten objektiv Anlass zu der Annahme bestanden haben könnte, das LSG werde den für sie günstigen gutachterlichen Einschätzungen folgen.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15523941 |