Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweisantrag. Rechtliches Gehör. Verletzung. Allgemeine Aufklärungspflicht
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Darlegung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags muss nicht nur die Stellung des Antrags, sondern auch aufgezeigt werden, über welche im Einzelnen bezeichneten Punkte Beweis erhoben werden sollte.
2. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt, z.B. wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten – ohne entsprechende Beweisaufnahme – annimmt oder den Vortrag eines Beteiligten als nicht existent behandelt oder wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, sofern der Tatsachenvortrag nach der Rechtsauffassung des Gerichts nicht unerheblich ist.
3. Mit der Rüge einer Verletzung des Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs kann ein Beteiligter überdies nur dann durchdringen, wenn er vor dem LSG alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich Gehör zu verschaffen.
4. Es besteht insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage oder im Vorfeld einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen.
5. Art 103 Abs. 1 GG gebietet lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte.
Normenkette
SGG §§ 62, 92 Abs. 1 S. 4, §§ 103, 109, 112 Abs. 2, § 124 Abs. 2, § 128 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 160 Abs. 2, § 160a Abs. 4 S. 1, § 169 Sätze 2-3; GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 139 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Entscheidung vom 20.04.2017; Aktenzeichen L 5 SB 118/15) |
SG Braunschweig (Entscheidung vom 20.08.2015; Aktenzeichen S 61 SB 107/13) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 20. April 2017 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 20.4.2017 hat das LSG einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 100 anstelle eines festgestellten GdB von 60 sowie einen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" ab Februar 2012 verneint. Der Kläger habe ab dem 1.2.2012 keinen Anspruch auf Festsetzung eines höheren GdB als 60, insoweit habe der Beklagte der wesentlichen Änderung im Behinderungszustand des Klägers iS von § 48 Abs 1 S 1 SGB X gegenüber dem Zustand, der der letzten Feststellung des GdB mit Bescheid vom 6.7.2011 zugrunde gelegen habe, bereits zutreffend Rechnung getragen. Ein höherer GdB als 60 könne auf Grund der Verschlimmerung der Behinderungen nicht erkannt werden. Der Kläger habe darüber hinaus keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B".
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt und diese mit dem Vorliegen von Verfahrensfehlern (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden (§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Den sich daraus ergebenden Anforderungen ist die Beschwerdebegründung nicht gerecht geworden.
a) Der Kläger hat bereits selbst nicht behauptet, dass er einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt habe. Zur Darlegung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags muss nicht nur die Stellung des Antrags, sondern auch aufgezeigt werden, über welche im Einzelnen bezeichneten Punkte Beweis erhoben werden sollte. Denn Merkmal eines Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
b) Des Weiteren rügt der Kläger ausdrücklich eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG). Die Vorschrift des § 62 SGG soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (s § 128 Abs 2 SGG; vgl BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Das Gericht muss jedoch nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen ist nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (BVerfGE aaO), zB wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten - ohne entsprechende Beweisaufnahme - annimmt oder den Vortrag eines Beteiligten als nicht existent behandelt (vgl BVerfGE 22, 267, 274), oder wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, sofern der Tatsachenvortrag nach der Rechtsauffassung des Gerichts nicht unerheblich ist (BVerfGE 86, 133, 146). Art 103 Abs 1 GG schützt indes nicht davor, dass ein Gericht die Rechtsansicht eines Beteiligten nicht teilt (BVerfGE 64, 1, 12; 76, 93, 98). Mit der Rüge einer Verletzung des Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs kann ein Beteiligter überdies nur dann durchdringen, wenn er vor dem LSG alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich Gehör zu verschaffen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 11a mwN).
Dass der anwaltlich vertretene Kläger im Berufungsverfahren diesen Anforderungen genügt hat, ist seinem Beschwerdevorbringen nicht hinreichend zu entnehmen. Mit der Angabe, sowohl das SG als auch das LSG hätten im Hinblick auf das Asperger-Syndrom zu Unrecht keine weitere Sachaufklärung betrieben und dem Kläger nicht die Möglichkeit eingeräumt, weitere Funktionseinschränkungen zu schildern, ist eine Verletzung des § 62 SGG nicht ausreichend dargelegt. Der Kläger hat nicht ausgeführt, inwiefern er sich selbst vor dem LSG hinreichend um eine Gewährung rechtlichen Gehörs bemüht habe (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35) und welcher konkrete Vortrag von ihm noch gemacht worden wäre. Tatsächlich ist der Kläger auch vor dem LSG durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten gewesen, der entsprechende Angaben und Äußerungen zu eventuell weiter zu berücksichtigenden funktionellen Einschränkungen hätte abgeben können, etwa durch Vorlage eines aktuellen Arztberichts.
Soweit der Kläger ausdrücklich als Verfahrensmangel rügt, das LSG habe die sich aus § 112 Abs 2 SGG ergebenden Pflichten zur Hinwirkung auf sachdienliche Anträge und zur Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses verletzt, handelt es sich sachlich gleichfalls um eine Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG; vgl BSG Beschluss vom 30.10.2013 - B 9 V 6/13 B - Juris). Auch insoweit reichen allerdings die Darlegungen des Klägers in seiner Beschwerdebegründung nicht aus. Ein Beteiligter kann mit seiner Beschwerde diesbezüglich nur durchdringen, wenn er vor dem LSG alle prozessuale Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl Keller, aaO, § 62 RdNr 11a, d mwN). Weshalb der Kläger hieran gehindert gewesen sein sollte, legt er nicht hinreichend dar. Insbesondere hat der anwaltlich vertretene Kläger keine hinreichenden Tatsachen für die Annahme einer sogenannten Überraschungsentscheidung (etwa iS von § 139 Abs 2 ZPO) vorgetragen. Hierzu hätte der Kläger vorbringen müssen, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Sachentscheidung habe rechnen können. Es besteht nämlich insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage oder im Vorfeld einer Entscheidung nach § 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen. Denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl zB BSG Beschlüsse vom 31.8.1993 - 2 BU 61/93 - HVBG-Info 1994, 209; vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 und vom 17.2.1999 - B 2 U 141/98 B - HVBG-Info 1999, 3700; BVerfGE 66, 116, 147; 74, 1, 5; 86, 133, 145). Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE 84, 188, 190). Der Kläger legt nicht substantiiert dar, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Entscheidung habe rechnen können. Dies wäre hier umso mehr erforderlich gewesen, als in einem tatsachengerichtlichen Verfahren, in dem ua aus den Beurteilungen von mehreren Sachverständigen unterschiedliche Bewertungen für die Gesamteinschätzung der Behinderung abgeleitet werden können und zwischen den Beteiligten streitig erörtert werden, jeder Beteiligte, also auch der Kläger, damit rechnen muss, dass das Gericht auch zu seinen Ungunsten entscheiden kann. Nicht zuletzt war der Kläger bereits erstinstanzlich erfolglos geblieben.
Es fehlt darüber hinaus an Ausführungen dazu, weshalb bei einer Berücksichtigung weiterer funktioneller Einschränkungen die Einzel-GdB-Werte nach der Rechtsauffassung des LSG höher ausfallen müssten mit der Folge, dass der Gesamt-GdB nach der Rechtsauffassung des LSG mindestens mit 100 einzuschätzen gewesen wäre. Insoweit hätte sich die Beschwerdebegründung mit dem in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen enthaltenen Bewertungen beschäftigen müssen und hiervon ausgehend die entscheidungsrelevant unberücksichtigt gebliebenen Vorbringen aufzeigen müssen und ggf die Feststellungen des LSG mit durchgreifenden Verfahrensrügen in Frage stellen müssen. Daran fehlt es. Insbesondere hat der Kläger keine vermeintlich vom LSG angenommene "Beweisführungspflicht" (vgl hierzu BSG Urteil vom 4.2.1988 - 5/5 b RJ 96/86 - SozR 1500 § 103 Nr 27 S 22) ausreichend dargelegt. Denn wie das BSG in der benannten Entscheidung bereits ausgeführt hat, sind zumindest die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel anzugeben (§ 92 Abs 1 S 4 SGG). Wie oben allerdings bereits ausgeführt, hat der Kläger mit seiner Beschwerdebegründung bereits nicht dargelegt, einen entsprechenden Beweisantrag unter Bezeichnung konkreter Punkte gestellt zu haben. Tatsächlich kritisiert der Kläger lediglich die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ebenso wenig eine Revisionszulassung erreichen kann wie mit dem Vorbringen, das LSG habe das Recht unzutreffend angewendet (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).
2. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI11261210 |