Verfahrensgang
SG Magdeburg (Entscheidung vom 19.06.2017; Aktenzeichen S 11 R 1755/13) |
LSG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 19.05.2020; Aktenzeichen L 3 R 236/17) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 19. Mai 2020 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Im Streit steht eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Einen entsprechenden Antrag des Klägers hatte der Rentenversicherungsträger abgelehnt, weil der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich leichte Arbeiten mit weiteren Funktionseinschränkungen verrichten könne. Er sei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt bzw Anlerntätigkeiten verweisbar. Die zuletzt von ihm ausgeübte Tätigkeit als "Lagerarbeiter, Lagerverwalter, Helferarbeiter" sei keine Facharbeitertätigkeit. Das SG hat die Klage hiergegen abgewiesen (Urteil vom 19.6.2017) und das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen (Urteil vom 19.5.2020).
Gegen Letzteres wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde an das BSG und macht als Zulassungsgründe eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend und rügt Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
II
Die Beschwerde ist unzulässig. Ihre Begründung vom 8.9.2020 genügt nicht den Anforderungen aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG.
1. Der Kläger hat die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht anforderungsgemäß dargelegt.
Eine Rechtssache hat dann grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - juris RdNr 6 mwN).
Die Beschwerdebegründung vom 8.9.2020 verfehlt diese Darlegungsvoraussetzungen für eine Grundsatzrüge (vgl hierzu exemplarisch BSG Beschluss vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34, juris RdNr 6 mwN) schon deshalb, weil darin keine abstrakt-generelle Rechtsfrage - zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht - formuliert wird (vgl allgemein BSG Beschluss vom 24.10.2018 - B 13 R 239/17 B - juris RdNr 8 mwN). Die Bezeichnung einer abstrakten, aus sich heraus verständlichen Rechtsfrage ist jedoch unverzichtbar, damit das Beschwerdegericht an ihr die weiteren Voraussetzungen der Grundsatzrüge prüfen kann (stRspr; zB BSG Beschluss vom 8.4.2020 - B 12 R 24/19 B - juris RdNr 8; Becker, SGb 2007, 261, 265; Krasney/Udsching/Groth, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, Kap IX, RdNr 181).
Eine solche klärungsbedürftige Frage grundsätzlicher Bedeutung erschließt sich auch nicht aus den Ausführungen des Klägers in der Beschwerdebegründung. Im Gegenteil, er führt aus, es entspreche der Rechtsprechung des BSG, dass im Falle einer sogenannten Mischtätigkeit darauf abzustellen sei, welche Verrichtungen der Tätigkeit ihr Gepräge gäben. Dass dieser Rechtsprechung widersprochen worden sei oder sich neue Erkenntnisse ergeben hätten (vgl zu diesen Aspekten BSG Beschluss vom 25.9.1975 - 12 BJ 94/75 - SozR 1500 § 160a Nr 13, juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 2.8.2018 - B 10 ÜG 7/18 B - juris RdNr 8 mwN) bringt er nicht vor. Er legt einzig am konkreten Fall dar, dass das LSG seiner Ansicht nach diese Rechtsprechung, die er dem Grunde nach nicht in Frage stellt, unzutreffend angewandt habe. Die Rechtsanwendung im Einzelfall begründet jedoch keine grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache (BSG Beschluss vom 13.1.2021 - B 13 R 54/20 B - juris RdNr 6).
2. Auch die vom Kläger als Verfahrensmängel gerügte Verletzung rechtlichen Gehörs und des Verstoßes gegen § 103 SGG werden von ihm in der Beschwerdebegründung nicht hinreichend bezeichnet.
Ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist der Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens im unmittelbar vorangehenden Rechtszug (vgl zB BSG Urteil vom 29.11.1955 - 1 RA 15/54 - BSGE 2, 81 - juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 30.10.2018 - B 13 R 59/18 B - juris RdNr 7). Neben der Geltendmachung des Vorliegens eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht ist mit der Beschwerdebegründung darzulegen, dass die angefochtene Entscheidung auf diesem Verstoß beruhen kann. Zugrunde zu legen ist die materiell-rechtliche Rechtsauffassung des LSG (BSG Urteil vom 28.5.1957 - 3 RJ 219/56 - SozR Nr 79 zu § 162 SGG; BSG Beschluss vom 31.1.1979 - 11 BA 166/78 - SozR 1500 § 160 Nr 33; BSG Beschluss vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33, juris RdNr 23). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Ein entscheidungserheblicher Mangel des Berufungsverfahrens wird nur dann substantiiert bezeichnet, wenn der Beschwerdeführer diesen hinsichtlich aller ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen darlegt, sodass das Beschwerdegericht allein anhand dieser Begründung darüber befinden kann, ob die angegriffene Entscheidung des LSG möglicherweise auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht (vgl zB BSG Beschluss vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33, juris RdNr 16 mwN; BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN).
a) Der Kläger rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) durch eine Überraschungsentscheidung, weil das LSG ihm vor der Entscheidung keine Gelegenheit zur Stellungnahme im Hinblick auf die zu erwartende rechtliche Würdigung des klägerischen Vorbringens sowie die Bewertung der arbeitgeberseitigen Auskunft vom 26.3.2019 zur Art der verrichteten Tätigkeit gegeben habe. Zudem habe das LSG ihm keine Gelegenheit gegeben, zu der zuvor benannten "Rechtsfrage" Stellung zu nehmen.
Damit hat der Kläger eine Gehörsverletzung aufgrund einer Überraschungsentscheidung entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht hinreichend schlüssig und nachvollziehbar dargelegt. Eine allgemeine Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern, gibt es nicht. Sie wird weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG bzw Art 103 Abs 1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten (§ 106 Abs 1 bzw § 112 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (vgl BSG Beschluss vom 24.1.2018 - B 13 R 377/15 B - juris RdNr 19; BSG Urteil vom 17.4.2013 - B 9 SB 3/12 R - juris RdNr 44; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 590 mwN).
Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr; vgl zB BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262 - juris RdNr 18 mwN). Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt. Daran fehlt es angesichts der eingangs dargelegten Ausführungen des Klägers hier. Insbesondere bringt der Kläger selbst vor, die arbeitgeberseitige Auskunft vom 26.3.2019 sei in den Prozess eingeführt worden.
b) Zur gerügten Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch das LSG bringt der Kläger vor, soweit das LSG der Rechtsauffassung gewesen sein sollte, im Falle einer sogenannten Mischtätigkeit sei darauf abzustellen, welche Verrichtungen der Tätigkeit ihr Gepräge gäben, habe es seinem Beweisantrag vom 6.6.2019 nachgehen müssen. Das Gericht habe ein Sachverständigengutachten zu der Frage der Qualität der die Tätigkeit des Klägers zu 70 % ausmachenden Tätigkeiten sowohl im Bereich der Lagerverwaltung als auch der Bauarbeiten auf dem Betriebsgelände einholen müssen, "die allesamt in der Regel von Facharbeitern oder aufgrund von Berufserfahrung gleichgestellten Arbeitnehmern ausgeführt werden". Auch mit diesem Vorbringen wird der Kläger den Formerfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht gerecht.
Die Geltendmachung eines Verfahrensmangels wegen Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsprinzip) kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nur darauf gestützt werden, dass das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Zudem kann ein - wie hier - in der Berufungsinstanz rechtsanwaltlich vertretener Beteiligter nur dann mit der Rüge des Übergehens eines Beweisantrags gehört werden, wenn er diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung durch entsprechenden Hinweis zu Protokoll aufrechterhalten hat oder das Gericht den Beweisantrag in seiner Entscheidung wiedergibt (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN; ferner Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160 RdNr 18c mwN). Hierzu mangelt es an jeglichen Ausführungen in der Beschwerdebegründung.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI14423935 |