Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgrenzung von Divergenz und unzutreffender Rechtsanwendung. grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
Leitsatz (amtlich)
Mißversteht das Berufungsgericht einen höchstrichterlichen Rechtssatz, dem es zu folgen gewillt ist, und subsumiert es dementsprechend den Sachverhalt fehlerhaft, kann daraus nicht geschlossen werden, es habe einen divergierenden Rechtssatz aufgestellt.
Orientierungssatz
Eine "grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache" liegt im besonderen Zusammenhang der Eröffnung des Zugangs zur Revisionsinstanz (vgl BSG vom 23.11.1955 - 7 RAr 30/55 = BSGE 2, 45, 47f; BVerwG vom 31.7.1984 - 9 C 46/84 = BVerwGE 70, 24, 25) nur dann vor, wenn sie dazu zwingt, im Interesse der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung eine Rechtsfrage zum revisiblen Recht zu klären. Die Rechtsfrage muß hierzu einerseits zu einer aufgrund ihrer Bedeutung für die Sicherung oder Erhaltung der Rechtseinheit bzw die Fortbildung des Rechts über den Einzelfall hinausgehenden Entscheidung führen (vgl BSG vom 25.10.1978 - 8/3 RK 28/77 = SozR 1500 § 160a Nr 31), darf aber andererseits nicht nur abstrakt von Interesse sein (vgl BFH vom 28.4.1972 - III B 40/71 = BFHE 105, 335), sondern muß gerade im konkreten Fall tragend entscheidungserheblich und klärungsfähig sein. Aufgrund dieser Vorbedingungen ist gleichzeitig für das Revisionsverfahren sichergestellt, daß die oberstgerichtliche Rechtsprechung ihrer Funktion entsprechend über die streitige Entscheidung des jeweils zur Entscheidung stehenden Einzelfalles hinaus stets auch ihrerseits verallgemeinerungsfähige Aussagen zum Inhalt der von ihr nach § 162 SGG anzuwendenden Rechtssätze trifft.
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 2; SGG § 160 Abs 2 Nr. 1
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Urteil vom 17.07.1998; Aktenzeichen L 1 A 11/97) |
SG für das Saarland (Urteil vom 18.02.1997; Aktenzeichen S 9 A 8/96) |
Tatbestand
Der Kläger, der den Beruf des Einzelhandelskaufmanns erlernt hat und vor Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit zuletzt bis zum Jahre 1988 als Geschäftsführer abhängig beschäftigt war, begehrt im Rahmen des Hauptsacheverfahrens die Gewährung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit. Das Landessozialgericht (LSG) hat das in vollem Umfang zusprechende erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen folgendes ausgeführt: Das Bundessozialgericht (BSG) habe zur Bestimmung der Wertigkeit des bisherigen Berufs für Angestellte die folgenden Gruppen gebildet:
- unausgebildete Angestellte (Ungelernte) - Angestellte mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren (Angelernte) - Angestellte mit längerer Ausbildung, regelmäßig von drei Jahren (Ausgebildete) und - Angestellte mit hoher beruflicher Qualität.
Ausgehend von diesen Kriterien sei der Kläger der Gruppe der Angestellten mit längerer Ausbildung zuzuordnen und könne daher unter Berücksichtigung der festgestellten Leistungseinschränkungen zumutbar noch auf Tätigkeiten der Anlernebene (hier: Angestellter in der Registratur und im Archiv) verwiesen werden.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Nichtzulassungsbeschwerde und beruft sich zur Begründung seines Rechtsmittels insbesondere auf eine Abweichung des Berufungsurteils von der Rechtsprechung des BSG. Das LSG habe das von diesem im Bereich der Angestelltenversicherung zugrunde gelegte Sechs-Stufen-Schema undifferenziert zusammengefaßt und nur lückenhaft angewandt. Dadurch sei es zu einer für den Kläger ungünstigen Bewertung seines bisherigen Berufs und einer unzutreffenden bzw unzumutbaren Verweisung auf eine Tätigkeit im Anlernbereich gekommen.
Entscheidungsgründe
Die auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) gestützte Beschwerde des Klägers ist zulässig, aber unbegründet (vgl zur Unterscheidung in Fällen der vorliegenden Art Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ vom 1. Oktober 1997, 1 BvR 454/95, LKV 1998, 141 f = ZBR 1998, 168 ff). Das Berufungsgericht hat zwar die vom Senat in Konkretisierung des einschlägigen Gesetzesrechts formulierten Obersätze im Einzelfall unzutreffend angewandt, seiner Entscheidung aber keinen eigenen - von der oberstgerichtlichen Rechtsprechung abweichenden - abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt und den Aussagen des BSG entgegengehalten.
Weder Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) noch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip - und ebensowenig das Sozialstaatsprinzip - gewährleisten einen Instanzenzug (BVerfG, Beschluß vom 19. Februar 1992, 1 BvR 1935/91 in SozR 3-1500 § 160 Nr 6 mH auf BVerfGE 4, 74, 94 f; 8, 174, 181 f; 11, 232, 233; ebenso BVerfGE 28, 21, 36). Insbesondere ist es demgemäß auch nicht geboten, stets das Rechtsmittel der Revision zu eröffnen (BVerfGE 19, 323). Kann aber das Gesetz den Zugang zur Revisionsinstanz vollständig versperren, kann es die Zulassung des Rechtsmittels im Rahmen der normativen Ausgestaltung durch die jeweilige Prozeßordnung, deren Art 19 Abs 4 GG ohnehin stets bedarf (BVerfGE 60, 253, 268, 269), grundsätzlich auch von formalen und inhaltlichen Voraussetzungen abhängig machen. Das Institut der Revision ist daher eine nach gesetzgeberischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen geformte prozessuale Einrichtung (BVerfGE 49, 148, 160), bei deren Gestaltung ein Verlust an Chancen zur Realisierung materieller Gerechtigkeit im Einzelfall grundsätzlich in Kauf genommen werden kann (BVerfGE 60, 253, 268). Eine äußerste Grenze der Auslegung einschlägiger gesetzlicher Vorschriften besteht von Verfassungs wegen lediglich insofern, als einfachgesetzlich eröffnete Möglichkeiten, ein Rechtsmittel einzulegen bzw seine Zulassung zu erstreiten, nicht in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise beschränkt werden dürfen (vgl BVerfGE 10, 264, 268, ständige Rechtsprechung; zuletzt etwa BVerfG in NVwZ 1994, Beilage 4, 27 = BayVBl 1994, 530; speziell zur Nichtzulassungsbeschwerde im SGG-Verfahren BVerfG in SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10).
Das BSG fungiert als eines der fünf obersten Bundesgerichte (Art 96 Abs 1 GG) grundsätzlich als höchstes Rechtsmittelgericht innerhalb seines Gerichtszweiges (vgl BVerfGE 8, 174, 177; BT-Drucks V/1449, S 3, 4 und Leibholz/Rinck/Hesselberger, Kommentar zum Grundgesetz, Art 95 GG RdNr 11; Bettermann, JZ 1958, 235 ff mwN). Seine Aufgabe besteht demgemäß neben der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen gerichtlichen Verfahrens im wesentlichen in der Einheit und Fortbildung des materiellen Bundes- bzw des in § 162 SGG ausdrücklich aufgeführten Landesrechts (vgl BVerfGE 10, 285, 295; BT-Drucks 7/861, S 10; BT-Drucks 7/2024, S 3). Nur innerhalb dieses öffentlichen Anliegens und der vornehmlich hieran orientierten Ausgestaltung der Revision kann das Individualinteresse an der Beseitigung und Ersetzung unrichtiger Instanzentscheidungen zum Zuge kommen: Es dient als unverzichtbar notwendiges Vehikel der Klärung des abstrakten Rechts und hat nur insofern und insoweit, als hieran ein unabweisbarer Bedarf besteht, Anspruch auf die hieraus für den konkreten Sachverhalt zu erteilende Antwort.
Dem entspricht äußerlich die doppelte Notwendigkeit von (ggf im Wege der Beschwerde erkämpfter) Zulassungsentscheidung und Einlegung der Revision, inhaltlich ihre Abhängigkeit vom tatsächlichen Vorliegen der im Gesetz enumerativ aufgeführten Zulassungsgründe. Die Beschwerde nach § 160a SGG gegen die vom Berufungsgericht verweigerte Zulassung der Revision dient in diesem Zusammenhang allein der Herbeiführung der Statthaftigkeit des Rechtsmittels in der Hauptsache durch Klärung und Feststellung eines im öffentlichen Interesse liegenden Entscheidungsbedarfs im Zusammenhang eines sachlich allenfalls nach Zulassung und zulässiger Einlegung der Revision zu beurteilenden Tatbestandes. Sie hat damit weder eine originäre Sachentscheidung noch eine auf die Sachentscheidung der Vorinstanz bezogene Rechtsmittelentscheidung zum Ziel, sondern betrifft ausschließlich die hiervon gänzlich unabhängig zu beantwortende Frage, ob das Berufungsgericht zutreffend die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision verneint hat (BVerwGE 34, 40, 41 f). Der Beschwerdeführer wird unter diesen Umständen auf dem "schmalen Weg zum Revisionsgericht" (vgl Baring, Die Nichtzulassungsbeschwerde im Verwaltungsgerichtsverfahren, NJW 1965, 2280) gezwungenermaßen in die Rolle eines Anwalts öffentlicher Belange gedrängt.
Die genannten Gegebenheiten eröffnen den Kontext, in dem die hier allein in Frage stehenden Nrn 1 und 2 des § 160 Abs 2 SGG sowie die hierzu bzw zu §-160a SGG ergangene Rechtsprechung zu sehen sind. Eine "grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache" liegt demgemäß im besonderen Zusammenhang der Eröffnung des Zugangs zur Revisionsinstanz (vgl BSGE 2, 45, 47 f; BVerwGE 70, 24, 25) nur dann vor, wenn sie dazu zwingt, im Interesse der Fortbildung des Rechts oder seiner einheitlichen Auslegung eine Rechtsfrage zum revisiblen Recht zu klären. Die Rechtsfrage muß hierzu einerseits zu einer aufgrund ihrer Bedeutung für die Sicherung oder Erhaltung der Rechtseinheit bzw die Fortbildung des Rechts über den Einzelfall hinausgehenden Entscheidung führen (BSG in SozR 1500 § 160a Nrn 7 und 31), darf aber andererseits nicht nur abstrakt von Interesse sein (vgl BFH vom 28. April 1972, III B 40/71, BFHE 105, 335), sondern muß gerade im konkreten Fall tragend entscheidungserheblich und klärungsfähig sein. Aufgrund dieser Vorbedingungen ist gleichzeitig für das Revisionsverfahren sichergestellt, daß die oberstgerichtliche Rechtsprechung ihrer Funktion entsprechend über die streitige Entscheidung des jeweils zur Entscheidung stehenden Einzelfalles hinaus stets auch ihrerseits verallgemeinerungsfähige Aussagen zum Inhalt der von ihr nach § 162 SGG anzuwendenden Rechtssätze trifft.
Ist ein Rechtsproblem auf diese Weise beantwortet, verbleibt dem Revisionsgericht abgesehen von den Ausnahmefällen des Auftretens erneuter Klärungsbedürftigkeit und sich hieraus ggf abermals ergebender grundsätzlicher Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG (vgl etwa BSG in SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 13 und BFHE 97, 281 ff, 284 mwN) im wesentlichen nur die Sicherung der Rechtseinheit. Weder der allein auf die Bewahrung einer Übereinstimmung auf abstrakt-genereller Ebene beschränkte Aufgabenbereich des BSG noch der funktionelle Anwendungsbereich der Nichtzulassungsbeschwerde, deren Gegenstand wie dargestellt gerade nicht die Kontrolle sachlicher Rechtsfehler ist, sind indessen bereits dann eröffnet, wenn Instanzgerichte im Einzelfall eine Entscheidung treffen, die mit den Vorgaben der oberstgerichtlichen Rechtsprechung nicht übereinstimmt (vgl BSG in SozR 1500 § 160a Nr 7; BVerwG in Buchholz 310 § 108 VwGO Nr 266; BFHE 129, 313). Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung (BSG in SozR 1500 § 160a Nr 67). Vielmehr weicht das LSG nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG als spezialgesetzlich geregeltem Unterfall der Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung (vgl BVerwG in Buchholz 310 § 132 Abs 2 Ziff 2 VwGO Nr 2) von einer Entscheidung ua des BSG ab, wenn es auch seinerseits zumindest sinngemäß und in scheinbar fallbezogene Ausführungen gekleidet (BSG in SozR 1500 § 160 Nr 28; BAG AP Nr 9 zu § 72a ArbGG 1979 Divergenz) einen abstrakten Rechtssatz aufstellt, der der zum selben Gegenstand gemachten und fortbestehend aktuellen - nicht also etwa von der zwischenzeitlichen Gesetzes- oder Rechtsprechungsentwicklung überholten (BSG in SozR 1500 § 160a Nrn 58, 61) - abstrakten Aussage des BSG entgegensteht und dem Berufungsurteil tragend zugrunde liegt (BSG in SozR 1500 § 160a Nr 67; BAG in AP § 72a ArbGG 1979 Nrn 1, 2, 10). Hieran fehlt es im vorliegenden Fall.
Der Kläger hat zwar den im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu stellenden Anforderungen (vgl BAG AP § 72a ArbGG 1979 Nr 9) genügend in ausreichendem Umfang dargelegt, daß den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils aus seiner Sicht zwingend ein divergierender abstrakter Rechtssatz zu entnehmen sei. Indessen ergibt eine sachliche Überprüfung dieser Behauptung, daß das LSG die "Rechtsprechung des Bundessozialgerichts", lediglich im dort entschiedenen Einzelfall unzutreffend angewandt hat.
Zur Gewährleistung einer zuverlässigen Abgrenzung von den Fällen einer fehlerhaften Rechtsanwendung erfordert die Anwendung von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG stets unverzichtbar, daß das LSG selbst zweifelsfrei in den Gründen seiner Entscheidung wenigstens mittelbar und (im Ergebnis) eindeutig einen Rechtssatz aufstellen wollte (BVerfG in NJW 1996, S 45 mwN; BAG AP § 72a ArbGG 1979 Divergenz Nr 15). Hieran fehlt es evident bereits immer dann, wenn das LSG eine Rechtsfrage übersehen (BVerwG in Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 147) oder Tatsachen anders beurteilt hat, als dies in der angezogenen Entscheidung geschehen ist (BVerwG in Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 128; BFHE 129, 313). Die genannte Voraussetzung kann aber auch nicht bereits dann angenommen werden, wenn sich ein abstrakter Obersatz erst nachträglich aus der Sicht eines kundigen Lesers logisch induktiv aus der Urteilsbegründung ableiten läßt (vgl BAG AP § 72a ArbGG 1979 Nrn 11, 13); andernfalls läge bei falscher Rechtsanwendung und Vorliegen einer einschlägigen Entscheidung des BSG oder des BVerfG stets eine Divergenz vor. Eine mit Hilfe der Revisionszulassung zu beseitigende Gefährdung der Rechtseinheit ist vielmehr nur und erst dann zu befürchten, wenn die Ausführungen des Berufungsurteils unzweifelhaft die Deduktion des gefundenen Ergebnisses aus einem sich aus der Entscheidung selbst wenigstens schlüssig ergebenden Rechtssatz, den das LSG als solchen auch tatsächlich vertreten wollte (BVerfG und BAG aaO), erkennen lassen. Dies ist insbesondere nicht der Fall, wenn sich das angefochtene Urteil - wie hier - auf den Boden "der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts" stellt und damit (nach dem Sachzusammenhang eindeutig) die Rechtssätze benennt, auf die es sich stützen will, dann aber unmittelbar anschließend dessen Aussagen zum - auf sechs Hauptstufen begrenzten - sog Mehrstufenschema (vgl Urteil des Senats in SozR 3-2600 § 43 Nr 13, 14) nur bruchstückhaft wiedergibt.
Mißversteht das Berufungsgericht in dieser Weise einen Rechtssatz, dem es erkennbar zu folgen gewillt war, und subsumiert es dementsprechend den von ihm festgestellten Sachverhalt fehlerhaft (oder geht es zwar von einem zutreffenden Verständnis des Obersatzes aus, ordnet aber dennoch den von ihm festgestellten Sachverhalt unrichtig zu), handelt es zwar im Einzelfall fehlerhaft, gefährdet aber - worauf es im vorliegenden Zusammenhang allein ankommt - nicht die Rechtseinheit.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
NZS 1999, 571 |
Breith. 1999, 991 |
SozSi 2000, 69 |