Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. absoluter Revisionsgrund gem § 547 Nr 6 ZPO. Berufungsurteil ohne Entscheidungsgründe. Überschreiten der Fünf-Monats-Frist. Verkündung und Absetzung des Urteils. Beruhen der abgefassten Entscheidungsgründe auf gerichtlicher Überzeugungsbildung. Zeitpunkt der Entscheidung und Verkündung. Rechtsstaatsprinzip
Orientierungssatz
1. Nach dem Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) vom 27.4.1993 (Az: GmS-OGB 1/92 = SozR 3-1750 § 551 Nr 4) gilt ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil dann als nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.
2. Die vom GmSOGB gezogene Fünfmonatsgrenze trägt dem Erfordernis Rechnung, dass die abgefassten Entscheidungsgründe auf der Überzeugung des Gerichts im Zeitpunkt der Entscheidung und Verkündung beruhen müssen und konkretisiert die rechtsstaatlichen Anforderungen an das gerichtliche Verfahren in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise. Denn mit zunehmendem Abstand zwischen Beratung der Entscheidung und ihrer Begründung wird die Gefahr eines Auseinanderfallens von Beratungsergebnis und Entscheidungsgründen zwangsläufig ständig größer (vgl BVerfG vom 26.3.2001 - 1 BvR 383/00 = NJW 2001, 2161 , 2162.
Normenkette
SGG § 136 Abs. 1 Nr. 6, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5, § 202 S. 2; ZPO § 547 Nr. 6; GG Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
SG Aachen (Urteil vom 11.10.2019; Aktenzeichen S 10 U 69/18) |
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.06.2023; Aktenzeichen L 17 U 672/19) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 2023 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der vom Kläger am 26.11.2016 auf dem Nachhauseweg von einer betrieblichen Weihnachtsfeier erlittene Sturz mit Fraktur der Halswirbelsäule als Arbeitsunfall anzuerkennen und ihm deswegen eine Verletztenrente zu gewähren ist.
Die Klage gegen die ablehnenden Entscheidungen der Beklagten(Bescheid vom 27.6.2017, Widerspruchsbescheid vom 22.3.2018) ist ohne Erfolg geblieben(Urteil des SG vom 11.10.2019) . Die hiergegen gerichtete Berufung hat das LSG zurückgewiesen(Urteil vom 14.6.2023).
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger ua Verfahrensmängel geltend und rügt, zwischen Verkündung(14.6.2023) und Übergabe des Urteils an die Geschäftsstelle(8.12.2023) lägen fast sechs Monate.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist als auf einem Verfahrensmangel beruhend anzusehen( § 547 Nr 6 ZPO) . Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen( § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 5 SGG) .
Nach § 547 Nr 6 ZPO, der über § 202 Satz 2 SGG auch in sozialgerichtlichen Verfahren gilt, iVm § 136 Abs 1 Nr 6 SGG ist das Urteil des LSG als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen (absoluter Revisionsgrund), weil es nicht mit Gründen versehen ist.
Nach dem Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) vom 27.4.1993(GmS-OGB 1/92 - SozR 3-1750 § 551 Nr 4; vgl auch BSG Beschluss vom 17.2.2009 - B 2 U 189/08 B- SozR 4-1750 § 547 Nr 2 RdNr 5; Beschluss vom 7.10.2015 -B 8 SO 58/15 B- RdNr 6; Urteil vom 29.8.2012 -B 10 EG 20/11 R- SozR 4-7837 § 2 Nr 18 RdNr 18; Beschluss vom 18.11.2009 -B 1 KR 74/08 B- SozR 4-1500 § 10 Nr 3 RdNr 16; Urteil vom 20.11.2003 -B 13 RJ 41/03 R-BSGE 91, 283= SozR 4-1500 § 120 Nr 1 RdNr 4; Urteil vom 14.9.1994 -3/1 RK 36/93-BSGE 75, 74, 75= SozR 3-2500 § 33 Nr 12 S 43; Urteil vom 3.3.1994 -1 RK 6/93- SozR 3-1750 § 551 Nr 7 S 20 f; Urteil vom 22.9.1993 -12 RK 39/93- SozR 3-1750 § 551 Nr 5 S 14 f) gilt ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil dann als nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Die vom GmSOGB gezogene Fünfmonatsgrenze trägt dem Erfordernis Rechnung, dass die abgefassten Entscheidungsgründe auf der Überzeugung des Gerichts im Zeitpunkt der Entscheidung und Verkündung beruhen müssen und konkretisiert die rechtsstaatlichen Anforderungen an das gerichtliche Verfahren in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise. Denn mit zunehmendem Abstand zwischen Beratung der Entscheidung und ihrer Begründung wird die Gefahr eines Auseinanderfallens von Beratungsergebnis und Entscheidungsgründen zwangsläufig ständig größer( BVerfG Beschluss vom 26.3.2001 - 1 BvR 383/00-NJW 2001, 2161, 2162= juris RdNr 21 f) .
Das LSG hat die Fünfmonatsfrist nicht eingehalten. Das angefochtene Urteil ist am 14.6.2023 verkündet, aber erst am 8.12.2023, und somit nach Ablauf der Frist von fünf Monaten, vollständig abgefasst und unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben. |
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Roos |
Karmanski |
Wahl |
Fundstellen