Verfahrensgang
SG Speyer (Entscheidung vom 25.08.2021; Aktenzeichen S 21 AS 623/21) |
Tenor
Das Sozialgericht Frankfurt am Main wird zum zuständigen Gericht bestimmt.
Gründe
I
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 13.9.2020 Klage zum SG Frankfurt am Main erhoben und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Nach Anhörung der Beteiligten (Schreiben des SG vom 18.9.2020) hat sich das SG Frankfurt am Main für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Mannheim verwiesen, weil der Kläger bei Eingang seines Antrags keinen Wohnsitz in Frankfurt gehabt und sich überwiegend in Mannheim aufgehalten habe (Beschluss vom 12.10.2020). In Ermangelung eines Wohnsitzes sei auf den Ort der faktischen Anwesenheit abzustellen. Dieser sei der Kammervorsitzenden bekannt, weil der Kläger ihr Mitte September 2020 in einem Parallelverfahren mitgeteilt habe, im Fall einer Terminierung sei eine Anreise aus Mannheim erforderlich; dies gelte auch noch Ende Oktober 2020. Im weiteren Verfahren teilte die Bundesagentur für Arbeit dem SG Mannheim mit, der Kläger sei vom 3.8.2020 bis 3.11.2020 in Ludwigshafen beschäftigt gewesen. Nachdem es den Beteiligten seine Bedenken gegen seine örtliche Zuständigkeit und die Bindungswirkung der Verweisung mitgeteilt hat, hat das SG Mannheim sich schließlich ebenfalls für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Frankfurt am Main zurückverwiesen (Beschluss vom 4.2.2021). Es sei ausnahmsweise nicht an dessen Verweisungsbeschluss gebunden. Das SG Frankfurt am Main sei nicht lediglich einem Irrtum über die örtliche Zuständigkeit unterlegen, sondern habe elementare Verfahrensgrundsätze missachtet, indem es auf der Grundlage einer bloßen Vermutung über den ungefähren Aufenthaltsbereich entschieden habe. Daraufhin hat sich das SG Frankfurt am Main nach neuerlicher Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 24.6.2021 wiederum für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Speyer verwiesen. Dieses hat sich ebenfalls für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit dem BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt (Beschluss vom 25.8.2021).
II
Das BSG hat im Streitfall das zuständige Gericht zu bestimmen. Das SG Speyer konnte von einem weiteren Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (vgl BSG vom 27.5.2004 - B 7 SF 6/04 S - SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 8).
Die Voraussetzungen zur Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG ("negativer Kompetenzkonflikt") durch das BSG liegen vor, weil sich verschiedene Gerichte aus mehreren Bundesländern, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Zwar sind nach § 98 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG rechtskräftige Verweisungsbeschlüsse für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, grundsätzlich bindend. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts hat aber zu erfolgen, wenn dies zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Verweisungsbeschlusses kommt und keines der infrage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten.
Zuständig ist das SG Frankfurt am Main. Seine erste Verweisung an das SG Mannheim ist für dieses nicht bindend, weil der Verweisungsbeschluss willkürlich und offensichtlich unhaltbar ist (vgl BSG vom 8.5.2007 - B 12 SF 3/07 S - SozR 4-1500 § 57 Nr 2). Dagegen ist das SG Frankfurt am Main an dessen Zurückverweisung gebunden, ohne den Rechtsstreit erneut weiterverweisen zu können. Ergehen in einem Verfahren mehrere Verweisungsbeschlüsse, erlangen sie in chronologischer Reihenfolge Bindungswirkung und schließen weitere Verweisungen aus, wenn sie nicht ausnahmsweise unbeachtlich sind (ebenso in der Sache schon BSG vom 8.8.2001 - B 7 SF 8/01 S - SozR 3-1500 § 57 Nr 1; BSG vom 25.10.2004 - B 7 SF 20/04 S; BSG vom 7.11.2006 - B 12 SF 5/06 S; BSG vom 9.3.2010 - B 12 SF 1/10 S; BSG vom 5.1.2017 - B 4 SF 40/16 S). Dies entspricht dem Sinn und Zweck der in § 17a Abs 2 Satz 3 GVG angeordneten Bindungswirkung, die im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) und einer möglichst zügigen Entscheidung in der Sache Weiter- und Rückverweisungen grundsätzlich ausschließen soll. Der Verweisungsbeschluss hat also nicht nur abdrängende, sondern auch aufdrängende Wirkung (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 98 RdNr 8b).
Das Gesetz schreibt in § 98 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG vor, dass eine Verweisung wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend ist. Nur in seltenen Ausnahmefällen kommt eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht (BSG vom 5.1.2017 - B 4 SF 40/16 S - juris RdNr 4 mwN; BSG vom 25.11.2019 - B 11 SF 10/19 S - juris RdNr 5). Eine fehlerhafte Auslegung des Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jeden sachlichen Grundes entbehrt, sodass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt (stRspr; vgl nur BSG vom 21.2.2012 - B 12 SF 7/11 S - juris RdNr 9; BSG vom 13.12.2016 - B 4 SF 4/16 R - RdNr 7; BSG vom 23.4.2018 - B 11 SF 4/18 S - juris RdNr 6; BSG vom 25.11.2019 - B 11 SF 10/19 S - juris RdNr 5). Ist eine Entscheidung derart unverständlich, dass sie sachlich schlechthin unhaltbar ist, ist sie objektiv willkürlich (BVerfG vom 7.4.1981 - 2 BvR 911/80 - BVerfGE 57, 39 [42]; BVerfG [K] vom 9.3.2020 - 2 BvR 103/20 - juris RdNr 64). Maßgeblich ist, ob die Entscheidung im Ergebnis objektiv vertretbar ist (vgl BVerfG [K] vom 3.3.2015 - 1 BvR 3271/14 - juris RdNr 13 f). Auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an (BVerfG vom 7.4.1981 - 2 BvR 911/80 - BVerfGE 57, 39 [42]; BVerfG [K] vom 9.3.2020 - 2 BvR 103/20 - juris RdNr 64 mwN).
Gemäß § 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG richtet sich die örtliche Zuständigkeit des SG zunächst nach dem Wohnsitz des Klägers zur Zeit der Klageerhebung bzw der Antragstellung und nur in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem Aufenthaltsort. Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er iS des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I(vgl BSG vom 17.5.1989 - 10 RKg 19/88 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 17 f) eine Wohnung unter Umständen inne hat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Ein Wohnsitz wird aufgegeben, wenn die Wohnung aufgelöst oder nicht nur vorübergehend nicht mehr benutzt wird (vgl BSG vom 29.5.1991 - 4 RA 38/90 - SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8). Hat jemand keinen Wohnsitz, wird auf den Aufenthaltsort abgestellt. Das ist der Ort faktischer Anwesenheit, die nicht "gewöhnlich" iS des § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I zu sein braucht, jedoch eine gewisse Dauer haben muss (BSG vom 10.3.2010 - B 12 SF 2/10 S - juris RdNr 10). Ist auch ein solcher Aufenthaltsort nicht gegeben oder ist er vom Gericht nicht zu ermitteln, kommt es gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 16 ZPO maßgebend auf den letzten Wohnsitz an (BSG vom 2.4.2009 - B 12 SF 8/08 S - SozR 4-1500 § 58 Nr 8). Die entsprechende Anwendbarkeit dieser Regelung im sozialgerichtlichen Verfahren erhellt, dass sich das Gericht nicht auf bloße Mutmaßungen über den Aufenthaltsort bei Klageerhebung beschränken darf.
Nach diesen Maßstäben ist der Verweisungsbeschluss des SG Frankfurt am Main vom 12.10.2020 willkürlich. Es hat den Wohnsitz oder Aufenthaltsort des Klägers zur Zeit der Klageerhebung bzw der Antragstellung nicht ermittelt, sondern sich auf ein von vornherein ungeeignetes Indiz gestützt. Der vom Kläger in einem Parallelverfahren benannte Ausgangspunkt der Anreise zu einem gerichtlichen Termin besagt nichts darüber, ob er sich dort für eine gewisse Dauer aufhält. Es liegt nicht fern, dass die Anreise zu einer Gerichtsverhandlung aus beruflichen, privaten oder sonstigen Gründen von einem dritten Ort aus angetreten werden muss (im Hinblick auf die Fahrtkosten eigens gesetzlich geregelt in § 191 SGG iVm § 5 Abs 5 Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz). Auch mag - wie gerade die aktenkundigen Umstände des vorliegenden Falls nahelegen - als Reise zum Gericht nur die (Kosten verursachende) Zugfahrt bezeichnet werden, selbst wenn auf dem Weg zum günstigsten Ausgangsbahnhof schon die Grenzen eines Gerichtsbezirks überschritten werden. Vor diesem Hintergrund war es evident unzureichend, der Entscheidung über die örtliche Zuständigkeit lediglich die Angabe des Klägers über seinen beabsichtigten Reiseweg zu einem Gerichtstermin zugrunde zu legen. Ihr fehlt es an jeder Aussagekraft für die vom Gericht zu ermittelnden entscheidungserheblichen Tatsachen.
Dagegen ist die Zurückverweisung an das SG Frankfurt am Main durch das SG Mannheim (Beschluss vom 4.2.2021) nicht zu beanstanden. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass willkürliche oder unter Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze zustandegekommene Verweisungsbeschlüsse übergangen werden dürfen und eine Rückverweisung nicht hindern (so wörtlich BSG vom 8.8.2001 - B 7 SF 8/01 S - SozR 3-1500 § 57 Nr 1). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nach dem oben Gesagten gegeben.
Einer solchen Rückverweisung kommt dieselbe Bindungswirkung zu wie einem ersten Verweisungsbeschluss. Das ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung selbst für rechtswidrige Zurückverweisungen anerkannt (BSG vom 21.12.2015 - B 4 SF 1/15 R und B 4 SF 2/15 R - im Anschluss an BGH vom 9.12.2010 - Xa ARZ 283/10). Dasselbe gilt erst recht für den hier vorliegenden Fall einer berechtigten Rückverweisung. Die Grenze bilden wiederum die oben angesprochenen Konstellationen extremer Rechtsverstöße. Ein solcher ist hier dem SG Mannheim bei seiner Entscheidung vom 4.2.2021 nicht unterlaufen. Seine Entscheidung war daher für das SG Frankfurt am Main endgültig bindend, sodass dieses nicht berechtigt war, den Rechtsstreit erneut zu verweisen.
Fundstellen
Dokument-Index HI15052525 |