Entscheidungsstichwort (Thema)
Fragerecht der Beteiligten an den Sachverständigen
Leitsatz (amtlich)
Die Beteiligten haben nach § 116 Satz 2 SGG auch dann das Recht, sachdienliche Fragen an den Sachverständigen richten zu lassen, wenn das Gericht dessen Gutachten nicht für erklärungsbedürftig hält (Anschluss an BVerfG vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 = NJW 1998, 2273).
Orientierungssatz
Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; SGG §§ 62, 116 S. 2, § 118 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3; ZPO §§ 397, 402, 411 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger beansprucht auf Grund seines Antrags vom 25.8.1999 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit bzw Erwerbsminderung. Sein Begehren ist im Verwaltungs-, Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren erfolglos geblieben.
Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das orthopädische Gutachten des Oberarztes Dr. G. vom 27.1.2006 eingeholt. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger trotz Vorliegens verschiedener Gesundheitsstörungen noch leichte Tätigkeiten unter Beachtung bestimmter qualitativer Leistungseinschränkungen vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne. Mit Schriftsatz vom 2.5.2006 hat der Kläger einen in 17 Unterpunkten gegliederten Katalog von Fragen bzw seiner Ansicht nach erläuterungsbedürftigen Punkten formuliert und beantragt, diesen dem Sachverständigen zur ergänzenden Stellungnahme vorzulegen. Daran hat er im Folgenden festgehalten bzw die Ladung des Sachverständigen Dr. G. zur Erläuterung seines Gutachtens gefordert. In der mündlichen Verhandlung vom 24.10.2006 hat der Kläger schließlich den Antrag gestellt, Dr. G. zu den bereits schriftlich gestellten Fragen anzuhören.
Das LSG hat in dem die Berufung des Klägers zurückweisenden Urteil vom 24.10.2006 im Wesentlichen ausgeführt: Das Sozialgericht Augsburg sei auf Grund der medizinischen Beweisaufnahme von einem vollschichtigen Leistungsvermögen des Klägers mit einigen qualitativen Leistungseinschränkungen ausgegangen. Dieser Einschätzung entspreche das Gutachten des Sachverständigen Dr. G., das der Senat für überzeugend halte. Eine weitere Anhörung des Sachverständigen sei nicht veranlasst gewesen. Einen Antrag gemäß § 118 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 411 Abs 3 Zivilprozessordnung (ZPO), das Erscheinen des Sachverständigen anzuordnen, damit er das schriftliche Gutachten erläutere, habe der Kläger nicht gestellt. Von Amts wegen habe keine Veranlassung bestanden, dem Sachverständigen die Fragen zur Beantwortung vorzulegen. In der weiteren Urteilsbegründung hat das LSG zu den Fragenkomplexen Nr 1 bis 14 aus dem Schriftsatz des Klägers vom 2.5.2006 Stellung genommen.
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG. Er beruft sich auf das Vorliegen eines Verfahrensmangels iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Das Berufungsgericht habe seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, da es dem mit Schriftsatz vom 2.5.2006 gestellten und in der mündlichen Verhandlung wiederholten Antrag auf Ladung des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens nicht gefolgt sei. Hiermit sei auch sein Fragerecht gemäß § 116 Satz 2, § 118 SGG iVm §§ 402, 397, 411 Abs 4 ZPO verletzt worden. Bei einer Anhörung des Sachverständigen wäre dieser zu einem für ihn, den Kläger, günstigeren Ergebnis gelangt, dem das LSG hätte folgen müssen. Ferner rügt der Kläger, dass das LSG über sein, den Sachverständigen Dr. G. betreffendes Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit vom 23.10.2006 nicht entschieden habe. Hierin liege zugleich eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht iS von § 103 SGG, die ebenfalls geltend gemacht werde. Denn in dem Antrag auf Ablehnung des Sachverständigen sei zugleich der Antrag zu sehen, ein Sachverständigengutachten durch einen anderen Sachverständigen zu seinem unter drei Stunden liegenden Leistungsvermögen einzuholen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat eine Verletzung seines Fragerechts nach § 116 Satz 2 SGG, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO und damit seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz) hinreichend bezeichnet; die Rüge trifft auch zu. Das LSG hat zu Unrecht den Sachverständigen Dr. G. nicht angehört. Insoweit liegt ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.
Unabhängig von der nach § 411 Abs 3 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts stehenden Möglichkeit, das Erscheinen des Sachverständigen zum Termin von Amts wegen anzuordnen, steht den Beteiligten gemäß § 116 Satz 2 SGG, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO das Recht zu, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten (BVerfG vom 3.2.1998 - 1 BvR 909/94 - NJW 1998, 2273 = Juris RdNr 11; vgl auch BSG vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B - Juris RdNr 7; BGH vom 7.10.1997 - VI ZR 252/96 - NJW 1998, 162, 163 = Juris RdNr 10 - alle mwN) . Dabei müssen die dem Sachverständigen zu stellenden Fragen nicht formuliert werden. Es reicht vielmehr aus, die erläuterungsbedürftigen Punkte hinreichend konkret zu bezeichnen (BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1; BVerwG NJW 1996, 2318) , zB auf Lücken oder Widersprüche hinzuweisen. Einwendungen in diesem Sinn sind dem Gericht rechtzeitig mitzuteilen (vgl § 411 Abs 4 ZPO) . Eine Form für die Befragung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, sodass sie sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen kann. Da die Rüge der Verletzung des Rechts auf Befragung eines Sachverständigen letztlich eine Gehörsrüge darstellt, müssen zudem deren Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss der Beschwerdeführer alles getan haben, um eine Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl allgemein zu dieser Voraussetzung: BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22; vgl auch BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6) . Dieser Obliegenheit ist ein Beteiligter jedenfalls dann nachgekommen, wenn er rechtzeitig den Antrag gestellt hat, einen Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anzuhören und er schriftlich Fragen im oben dargelegten Sinne angekündigt hat, die objektiv sachdienlich sind; liegen diese Voraussetzungen vor, muss das Gericht dem Antrag folgen, soweit er aufrechterhalten bleibt (vgl BSG SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 5) . Das gilt auch dann, wenn das Gutachten nach Auffassung des Gerichts ausreichend und überzeugend ist und keiner Erläuterung bedarf (BVerfG NJW 1998, 2273 = Juris RdNr 11; BGH NJW 1997, 802; Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 118 RdNr 12h) . Diesen Anforderungen an die Bemühungen des Beteiligten um rechtliches Gehör ist hier genügt.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 2.5.2006 einen Katalog von insgesamt 17 zum Teil mehrgliedrigen Fragen formuliert bzw seiner Ansicht nach erläuterungsbedürftige Punkte aufgezeigt und beantragt, diese dem Sachverständigen Dr. G. zur ergänzenden Stellungnahme vorzulegen. Damit hat er die (schriftliche) Anhörung des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens beantragt. Der Antrag war auch rechtzeitig, da er innerhalb der Frist erfolgt ist, die das LSG dem Kläger zwecks Stellungnahme zum Gutachten des Sachverständigen Dr. G. gewährt hatte. Des Weiteren hat der Kläger diesen Antrag bis zuletzt aufrechterhalten.
Die angekündigten Fragen sind jedenfalls teilweise auch sachdienlich.
Sachdienlichkeit ist insbesondere dann zu bejahen, wenn sich die Fragen im Rahmen des Beweisthemas halten und nicht abwegig oder bereits eindeutig beantwortet sind (vgl Meyer-Ladewig, aaO § 116 RdNr 5, s auch Greger in Zöller, ZPO, 24. Aufl 2004, § 411 RdNr 5a) ; andernfalls kann das Begehren rechtsmissbräuchlich sein (BGH NJW 1998, 162, 163 = Juris RdNr 10) . Weitergehende Anforderungen an die Sachdienlichkeit der Fragen sind nicht zu stellen. Unabhängig davon, ob das Gericht ein Gutachten für erklärungsbedürftig hält (vgl nochmals BVerfG NJW 1998, 2273 = Juris RdNr 11) , soll das Fragerecht dem Antragsteller erlauben, im Rahmen des Beweisthemas aus seiner Sicht unverständliche, unvollständige oder widersprüchliche Ausführungen eines Sachverständigen zu hinterfragen, um auf das Verfahren aktiv Einfluss nehmen und die Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung verstehen zu können. Das gilt erst recht, wenn wie hier um existenzsichernde Leistungen gestritten wird. Nur dieses Verständnis trägt der Bedeutung des Fragerechts im Rahmen des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs hinreichend Rechnung, der als Folgerung des Rechtsstaatsgedankens für das gerichtliche Verfahren verhindern soll, dass die Beteiligten nur Objekt des Verfahrens sind (vgl BVerfG NJW 1996, 3202) .
Insofern steht beim Fragerecht nach § 116 Satz 2 SGG ein anderes Ziel im Vordergrund als bei der Rückfrage an den Sachverständigen nach § 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 411 Abs 3 ZPO, obwohl eine gewisse Überschneidung nicht zu bestreiten ist. Anders als das Fragerecht dient die Anordnung des Erscheinens des Sachverständigen - die grundsätzlich im Ermessen des Gerichts steht, auf die jedoch die Beteiligten in bestimmten prozessualen Situationen einen Anspruch haben - in erster Linie der Sachaufklärung und nicht der Gewährung rechtlichen Gehörs. Die diesbezügliche Verfahrensrüge ist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde infolgedessen in aller Regel nur unter den Voraussetzungen zulässig, die für die Sachaufklärungsrüge gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2, § 103 SGG gelten: Das LSG muss einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag zu entscheidungserheblichen und klärungsbedürftig gebliebenen Fragen übergangen haben. Dessen bedarf es bei einer Gehörsrüge regelmäßig nicht, sodass im vorliegenden Verfahren der Einwand der Beklagten fehlgeht, der Kläger habe einen solchen Antrag nicht gestellt. Mit Rücksicht auf die bereits angedeutete Nähe der beiden Verfahrensfehler zueinander ist das BSG andererseits nicht gehindert, auf eine zulässige Sachaufklärungsrüge hin eine Verletzung des Fragerechts anzunehmen (vgl BSG SozR 3-1750 § 411 Nr 1; BSG vom 12.12.2006 - B 13 R 427/06 B) .
Im konkreten Fall kann dem Kläger nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, die Berufung auf sein Fragerecht sei rechtsmissbräuchlich. Denn die von ihm aufgeworfenen Fragen halten sich jedenfalls zum Teil innerhalb des Beweisthemas und sind auch nicht abwegig oder eindeutig geklärt. Zum Beweisthema des vorliegenden Rechtsstreits gehören die beim Kläger vorhandenen Gesundheitsstörungen und deren Auswirkungen auf sein Leistungsvermögen. Unerheblich für ein Rentenverfahren ist dagegen, ob die vorhandenen Gesundheitsstörungen durch einen Arbeitsunfall verursacht worden sind. Deshalb besteht mangels Entscheidungserheblichkeit kein Anlass, zB Frage 6 zur unfallbedingten Entstehung einer Gesundheitsstörung dem Sachverständigen vorzulegen. Demgegenüber kann die Sachdienlichkeit etwa der Fragen 2, 3 und 7 nicht ohne weiteres verneint werden. Mit den Fragen 2 und 3 will der Kläger in Erfahrung bringen, warum die von ihm zur Untersuchung mitgebrachten Röntgenaufnahmen der LWS und eines Unterschenkels aus den Jahren 2001 und 2003 nicht ausgewertet worden sind. Röntgenaufnahmen geben Aufschluss über vorhandene Gesundheitsstörungen. Ihnen kann auch nicht von vorneherein jede Bedeutung für die Beurteilung des Leistungsvermögens abgesprochen werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Sachverständige Dr. G. im Rahmen der Begutachtung des Klägers röntgenologische Befunde erhoben hat und damit selbst von der Notwendigkeit röntgenologischer Erkenntnisse für die Erstellung eines Rentengutachtens ausgegangen ist. Da der Kläger den Rentenantrag im Jahre 1999 gestellt hat, betreffen die Röntgenaufnahmen aus den Jahren 2001 und 2003 auch den Zeitraum, für den Rente begehrt wird. Mit Frage 7 hinterfragt der Kläger die Richtigkeit der vom Sachverständigen verwendeten Krankheitsbezeichnungen und die damit möglicherweise zusammenhängenden Folgerungen für die Schwere der Erkrankung, sodass er sich damit ebenfalls innerhalb des Beweisthemas hält.
Das LSG hat das Recht des Klägers auf Anhörung des Sachverständigen Dr. G. verletzt. Das Berufungsgericht hätte auf den Antrag des Klägers entweder mit einer Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung oder seiner schriftlichen Anhörung eingehen müssen. Daran fehlt es. Das LSG hat sich lediglich selbst - und dies auch nur teilweise - mit den Einwänden des Klägers gegen das Gutachten auseinandergesetzt. Daraus mag sich ergeben, dass das Berufungsgericht die Einwendungen für unerheblich hielt. Dies reicht als Ablehnungsgrund indes nicht aus. Der Kläger hat vielmehr Anspruch auf Beantwortung seiner Fragen durch den Sachverständigen, der das schriftliche Gutachten erstellt hat. Das Versäumnis des Berufungsgerichts wiegt umso schwerer, als das Gutachten den Prozessausgang entscheidend mit beeinflusst hat (vgl BVerfG NJW 1998, 2273 = Juris RdNr 15) .
Auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel kann die Entscheidung des LSG beruhen. Mangels eigener medizinischer Sachkunde vermag der Senat nicht auszuschließen, dass das LSG das Gutachten des Sachverständigen Dr. G. im Falle der Anhörung zu den vom Kläger gestellten Fragen anders gewürdigt und weitere Sachaufklärung für notwendig gehalten hätte oder unmittelbar zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Da die Beschwerde bereits aus den oben dargelegten Gründen erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats, ob die übrigen Verfahrensrügen ebenfalls zulässig und begründet sind.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen