Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Berufungsrücknahmefiktion. Untätigkeit des Berufungsklägers. Vorliegen sachlich begründeter Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses. Anforderungen an die Betreibensaufforderung
Orientierungssatz
1. Für die Berufungsrücknahmefiktion gelten dieselben Voraussetzungen wie für die Klagerücknahmefiktion (vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 105/16 B = SozR 4-1500 § 156 Nr 1).
2. Hintergrund für die Berufungsrücknahmefiktion ist die Annahme, das Rechtsschutzbedürfnis des Berufungsklägers sei, wie sich aus seinem Verhalten ergebe, weggefallen (vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 105/16 B aaO RdNr 6).
3. Die Anwendung der Rücknahmefiktion setzt voraus, dass bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, unter Würdigung der Umstände des Einzelfalles sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (vgl BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R = BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3 RdNr 22, 27).
4. Wenn in den Vorinstanzen die Streitgegenstände geklärt, Klageanträge gestellt und bereits umfassend zur Sache vorgetragen worden ist, genügt eine lediglich pauschale und unsubstantiierte Aufforderung zur Berufungsbegründung einer Betreibensaufforderung nicht (vgl BVerwG vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 = NVwZ 2001, 918 = juris RdNr 6).
Normenkette
SGG § 160a Abs 1 S. 1, § 160 Abs 2 Nr. 3, § 156 Abs 2 S. 1, § 102 Abs 2 S. 1; GG Art. 19 Abs 4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. April 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Im Streit ist, ob zwei Berufungsverfahren der Klägerin vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg als zurückgenommen gelten.
Die 1974 geborene Klägerin bezieht seit 2014 von der Beklagten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Sie bewohnt mit ihrem Sohn eine Wohnung, die zu gleichen Teilen ihr und ihrer Mutter gehört. Die im Sommer 2014 beantragte Übernahme von monatlich 500 Euro Mietkosten, die sie ihrer Mutter mietvertraglich schulde, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 28.10.2014; Widerspruchsbescheid vom 30.6.2015). Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Stuttgart vom 23.2.2017). Mit der dagegen eingelegten Berufung hat die Klägerin beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, die geltend gemachten Kosten der Unterkunft vollständig zu übernehmen. Eine entsprechende Begründung werde nachgereicht. Mit Schreiben vom 18.5.2017 hat der Berichterstatter der Klägerin aufgegeben, die Berufungsbegründung binnen vier Wochen vorzulegen. Auf die Bitte, die Frist zur Vorlage der Berufungsbegründung bis 20.7.2017 zu verlängern, hat der Berichterstatter der Klägerin mit einem am 26.7.2017 zugestellten Schreiben vom 24.7.2017 mitgeteilt, dass das Gericht davon ausgehen müsse, dass sie an der Fortführung des Rechtsstreits kein Interesse habe und die Berufung gemäß § 156 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gelte, wenn sie binnen drei Monaten nach Zugang dieses Schreibens ihre Berufung nicht substantiiert begründe. Die Klägerin hat die Berufung nach Ablauf dieser Frist mit einem am 27.10.2017 um 20.53 Uhr empfangenen Telefax begründet. Am selben Tag hat der Berichterstatter entschieden, dass die Berufung der Klägerin als zurückgenommen gelte (Beschluss vom 27.10.2017, zugestellt am 2.11.2017).
In dem zweiten Verfahren übernahmen die Beklagte (Bescheid vom 22.12.2015; Widerspruchsbescheid vom 9.1.2017) und das Jobcenter der Stadt S - der Sohn der Klägerin bezog mittlerweile Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) jeweils ein Viertel der nachgewiesenen Kosten für die Reparatur von Wohnungsfenstern. Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Gerichtsbescheid des SG vom 20.3.2017). Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt. Mit der Eingangsbestätigung hat das LSG mit Schreiben vom 18.5.2017 zugleich eine Frist von vier Wochen zur Begründung der Berufung gesetzt. Auf die Bitte, die Frist zur Vorlage der Berufungsbegründung bis 20.7.2017 zu verlängern, hat der Berichterstatter der Klägerin ebenfalls mit einem am 26.7.2017 zugestellten Schreiben vom 24.7.2017 mitgeteilt, dass das Gericht davon ausgehen müsse, dass sie an der Fortführung des Rechtsstreits kein Interesse habe und die Berufung gemäß § 156 Abs 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn sie binnen drei Monaten nach Zugang dieses Schreibens ihre Berufung nicht substantiiert begründe. Die Klägerin hat auch diese Berufung nach Ablauf dieser Frist mit einem am 27.10.2017 um 20.52 Uhr empfangenen Telefax begründet. Am selben Tag hat der Berichterstatter entschieden, dass die Berufung der Klägerin als zurückgenommen gelte (Beschluss vom 27.10.2017, zugestellt am 2.11.2017).
Auf die Anträge der Klägerin, die Berufungsverfahren vor dem LSG fortzuführen, hat das LSG die Verfahren miteinander verbunden und entschieden, dass sie durch Rücknahme der Berufungen erledigt seien (Urteil vom 19.4.2018). Zur Begründung hat es ausgeführt, auch wenn die Vorlage einer Berufungsbegründung nicht Voraussetzung einer Berufungseinlegung sei, könne ihre Nichtvorlage Anlass einer Betreibensaufforderung sein, insbesondere, wenn eine Berufungsbegründung trotz Ankündigung oder trotz Fristsetzung nicht vorgelegt werde. Da sich die Klägerin überhaupt nicht geäußert habe, liege in keinem Fall ein Betreiben des Verfahrens vor.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend, das LSG habe fehlerhaft durch Prozessurteil statt durch Sachurteil entschieden. Da der Sachverhalt geklärt gewesen sei, sei keine entscheidungserhebliche prozessuale Handlung der Klägerin ersichtlich, die zur Verfahrensförderung hätte beitragen können. Die Betreibensaufforderungen seien auch nicht formgerecht, da sie nicht vom zuständigen Berichterstatter unterzeichnet seien. Daneben macht sie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Es stelle sich die Rechtsfrage, ob "eine gerichtliche Betreibensaufforderung nach § 156 Abs. 2 Satz 1 SGG, mit welcher zur Begründung der Berufung aufgefordert wird, die Fiktion der Berufungsrücknahme auslösen" könne.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Die Entscheidung des LSG beruht auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel. Das LSG hat zu Unrecht die Berufungsverfahren aufgrund jeweils fingierter Berufungsrücknahme als erledigt angesehen, ohne in der Sache zu entscheiden.
Nach § 156 Abs 2 Satz 1 SGG gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Für die Berufungsrücknahmefiktion, die durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22.12.2011 (BGBl I 3057) mit Wirkung vom 1.1.2012 eingeführt worden ist (vgl zur vorherigen Einführung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG und deren Nichtübertragbarkeit auf das Berufungsverfahren: Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - BSGE 106, 254 = SozR 4-1500 § 102 Nr 1), gelten dieselben Voraussetzungen wie für die Klagerücknahmefiktion (BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 105/16 B - SozR 4-1500 § 156 Nr 1). Hintergrund für die Berufungsrücknahmefiktion ist ebenso wie für die Klagerücknahmefiktion die Annahme, das Rechtsschutzbedürfnis des Berufungsklägers sei, wie sich aus seinem Verhalten ergebe, weggefallen (vgl BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - aaO RdNr 38 ff mwN).
Zur Wahrung der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) haben § 102 Abs 2 SGG und § 156 Abs 2 SGG Ausnahmecharakter (vgl BSG vom 1.7.2010 aaO RdNr 42 f mwN). Die Anwendung der Rücknahmefiktion setzt voraus, dass bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls sachlich begründete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass einem Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3 RdNr 22, 27 unter Hinweis auf Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; BVerfG vom 19.5.1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62; zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung vgl auch BVerfG vom 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - BVerfGK 20, 43 - juris RdNr 29). Bei der Gesamtwürdigung sind sowohl die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung als auch das Verhalten des Berufungsführers zu berücksichtigen (BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - aaO RdNr 28 mwN). "Unkooperatives Verhalten" allein genügt nicht, um den Wegfall des Rechtsschutzinteresses annehmen zu können (BSG aaO RdNr 31); es genügen auch nicht allgemein jegliche Verletzungen von Mitwirkungsobliegenheiten; vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualer Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die zB für die Feststellung von Tatsachen bedeutsam sind, die das Gericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (BSG vom 4.4.2017 aaO RdNr 29 unter Hinweis auf BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 74/09 R - juris RdNr 52; BVerfG vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - aaO).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das LSG in den beiden vorliegenden Einzelfällen den Anwendungsbereich des § 156 Abs 2 Satz 1 SGG überdehnt. Die Voraussetzungen der Berufungsrücknahmefiktion haben nicht vorgelegen, denn im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung konnte von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses nicht ausgegangen werden. Insbesondere hat das LSG den bis zur Betreibensaufforderung erreichten und dem Berufungsgericht bekannten Verfahrensstand nicht ausreichend berücksichtigt, obwohl dies erforderlich gewesen wäre (vgl Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918 - juris RdNr 6; BVerwG vom 5.7.2000 - 8 B 119/00 - NVwZ 2000, 1297 - juris RdNr 4; Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 156 RdNr 14). Wenn - wie hier - in den Vorinstanzen die Streitgegenstände geklärt, Klaganträge gestellt und bereits umfassend zur Sache vorgetragen worden ist, genügt eine lediglich pauschale und unsubstantiierte Aufforderung zur Berufungsbegründung einer Betreibensaufforderung nicht (vgl BVerwG vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918 - juris RdNr 6; Wagner in Hennig, SGG, § 156 RdNr 38, Stand Mai 2013; Mushoff in Zeihe, SGG, § 156 RdNr 19; zur Klagebegründung Roller in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 102 RdNr 20; aA Burkiczak, ZfSH/SGB 2008, 323, 327; ders, DVP 2008, 360, 361; ders in jurisPK-SGG, 2017, § 156 RdNr 55). Dies gilt vorliegend umso mehr, als das SG in einem der erstinstanzlichen Verfahren weitergehenden Vortrag als nicht zielführend bezeichnet und im anderen Verfahren den Sachverhalt mit den Beteiligten bereits eingehend erörtert hat; es ist nicht ersichtlich, was aus Sicht der Klägerin in tatsächlicher Hinsicht noch vorzutragen gewesen wäre, um den Fortgang des Verfahrens zu fördern. Die Aufforderung an einen anwaltlich nicht vertretenen Beteiligten zur "substantiierten" Berufungsbegründung ist auch missverständlich, weil Normzweck der Vorschriften über die Rücknahmefiktion nicht die Substantiierung des klägerischen Begehrens ist (vgl BVerfG vom 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - BVerfGK 20, 43 - juris RdNr 35 ff). Auch liegt keine Verletzung prozessualer Pflichten darin, dass zu Rechtsfragen nicht Stellung genommen wird, und kann sich aus fehlender Stellungnahme zu rechtlichen Ausführungen in angefochtenen Entscheidungen kein Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ergeben (BVerwG vom 12.4.2001 - 8 B 2/01 - NVwZ 2001, 918 - juris RdNr 6); jedoch ist die Aufforderung des LSG zu "substantiiertem" Vorbringen gerade insoweit missverständlich und geeignet, bei der anwaltlich nicht vertretenen Klägerin den Eindruck zu erwecken, sie müsse sich zur angefochtenen Entscheidung rechtlich äußern.
Soweit die Klägerin schließlich selbst angekündigt hat, eine Berufungsbegründung vorzulegen, und diesbezüglich um Fristverlängerung bis 20.7.2017 gebeten hat, ergeben sich hieraus zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung am 24.7.2017 keine Anhaltspunkte, die den Schluss zuließen, dass ihr an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen war, denn bei einer Überschreitung einer Frist von wenigen Tagen ist selbst bei anwaltlich vertretenen Beteiligten nicht von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses auszugehen (BVerwG vom 5.7.2000 - 8 B 119/00 - NVwZ 2000, 1297 - juris RdNr 5). Ob die Voraussetzungen für eine Betreibensaufforderung zu einem späteren Zeitpunkt vorgelegen hätten, bedarf hier keiner Entscheidung. Offenbleiben kann auch, ob die Betreibensaufforderung vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet oder - was nicht ausreichend wäre - nur mit einem den Namen abkürzenden Handzeichen (Paraphe) versehen worden ist (dazu BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - aaO RdNr 49; BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - aaO RdNr 24).
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - soweit die Beschwerde zulässig und begründet ist - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Ob die Beschwerde auch den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache genügt, bedarf danach keiner Entscheidung.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
NZS 2020, 263 |
info-also 2020, 138 |