Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. schwerstbehindertes Kind. Tetraspastiker. Hilfsmittel. Speedy-Tandem. Förderung der Familienaktivität. soziale Integration
Orientierungssatz
Dem Grundbedürfnis auf Fortbewegung ist schon dann Genüge getan, wenn ein Selbstfahrerrollstuhl im Nahbereich bewegt werden kann, selbst wenn das im Straßenverkehr nur unter Aufsicht möglich ist. Von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht geschuldet wird das Ermöglichen von Freizeitbeschäftigungen wie Wandern, Dauerlauf, Ausflüge uä, die das "Stimulieren aller Sinne", die "Erfahrung von Geschwindigkeit und Raum", das "Erleben physischen und psychischen Durchhaltens" sowie das "Gewinnen von Sicherheit und Selbstbewusstsein" mit sich bringen (vgl BSG vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R = USK 2002-88). Dies schließt aber nicht aus, dass einem Versicherten ein Hilfsmittel, das eine dem Radfahren vergleichbare Art der Mobilität ermöglicht, zu gewähren ist, wenn damit zugleich auf andere Weise ein Grundbedürfnis erfüllt wird (vgl BSG vom 16.4.1998 - B 3 KR 9/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 27 - Handbike für den Rollstuhl eines Jugendlichen zur Integration in den Kreis von Gleichaltrigen). Das ist hier bei der begehrten Versorgung mit einem Speedy-Tandem zur Förderung von Familienaktivitäten nicht der Fall.
Normenkette
SGB 5 § 33 Abs. 1, § 12 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 06.08.2008; Aktenzeichen L 11 KR 5420/07) |
SG Freiburg i. Br. (Urteil vom 20.09.2007; Aktenzeichen S 5 KR 4185/06) |
Tatbestand
Die im Februar 1996 geborene Klägerin begehrt von der beklagten Krankenkasse die Gewährung eines sog Speedy-Tandems zum Preis von insgesamt 6.097,28 Euro.
Die Klägerin ist aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens Tetraspastikerin; sie leidet an einer Lähmung aller vier Extremitäten als Folge der Schädigung der Pyramidenbahn beider Seiten. Von der Pflegekasse erhält sie Leistungen nach der Pflegestufe III, von der Beklagten ist sie mit einem Aktiv-Rollstuhl ausgestattet. Die Klägerin besucht eine Behindertenschule und lebt mit ihren Eltern und zwei älteren Geschwistern in einer weitgehend rollstuhlgerechten Wohnung. Im September 2005 beantragte sie die Versorgung mit einem sog Speedy-Tandem; dabei handelt es sich um ein speziell ausgerüstetes Fahrrad, an welches der Rollstuhl angekoppelt werden kann. Die beklagte Krankenkasse lehnte diesen Antrag ab, weil die maßgeblichen Voraussetzungen des § 33 SGB V nicht erfüllt seien und das begehrte Hilfsmittel weder zur Sicherung des Ziels der Krankenbehandlung noch zum Ausgleich einer Behinderung erforderlich sei (Bescheid vom 19.9.2005, Widerspruchsbescheid vom 8.8.2006). Klage und Berufung hiergegen blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 20.9.2007, Beschluss des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 6.8.2008): Die Klägerin sei im Nahbereich ausreichend versorgt; zudem habe sich die Beklagte bereit erklärt, den Aktiv-Rollstuhl der Klägerin mit einem Elektromotor nachzurüsten. In der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei geklärt, dass im Rahmen der Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V kein Anspruch auf die Versorgung mit einem Speedy- oder Therapie-Tandem bestehe. Die Ermöglichung des Fahrradfahrens und der Wahrnehmung von Geschwindigkeit und Raum gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Etwas anderes ergebe sich auch nicht unter Berücksichtigung der - älteren - Rechtsprechung des 8. Senats des BSG, weil die dort genannten besonderen Gründe hier nicht feststellbar seien. Ein Verstoß gegen § 2 Abs 2 SGB I oder Art 6 Abs 1 GG sei darin nicht zu erblicken. Ein Anspruch auf Gewährung des Speedy-Tandems als Leistung der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII bestehe ebenfalls nicht.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG, wobei sie sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache beruft.
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage ist bereits durch die Rechtsprechung des erkennenden Senats entschieden und deshalb nicht mehr klärungsbedürftig.
Der Klägerin geht es nach eigenen Angaben "im Kern um die Frage, wann ein schwerstbehindertes Kind, welches aus krankheitsbedingten Gründen noch nicht einmal in der Lage ist, unter Einsatz von Hilfsmitteln mit gleichaltrigen unbehinderten Kindern und Jugendlichen zu spielen, von gemeinsamen Aktivitäten im Familienverbund dadurch ausgeschlossen werden kann, dass ihm das hierzu benötigte Hilfsmittel verwehrt wird." Bei dieser Fragestellung wird schon zum einen nicht deutlich, warum gerade die Gewährung eines Speedy-Tandems erforderlich sein soll, um gemeinsame Aktivitäten im Familienverbund zu gewährleisten, und weshalb der zur Verfügung stehende Rollstuhl dies nicht auch ermöglichen kann. Denn in beiden Fällen ist die Klägerin auf Fremdhilfe angewiesen; durch das Speedy-Tandem erfährt sie keine Verbesserung ihrer eigenen Mobilität, sondern allenfalls eine Vergrößerung des Aktionsradius über den Nahbereich hinaus - dies ist nach der gefestigten Rechtsprechung des erkennenden Senats aber gerade kein Behinderungsausgleich, den die beklagte Krankenkasse schuldet (vgl BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 15 RdNr 14 und Nr 11 RdNr 19 - jeweils mwN) . Zum anderen ist das Radfahren als spezielle Art der Fortbewegung vom Senat ebenfalls nicht als Grundbedürfnis anerkannt worden (vgl BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 12 RdNr 16 mwN) . Dem Grundbedürfnis auf Fortbewegung ist schon dann Genüge getan, wenn ein Selbstfahrerrollstuhl im Nahbereich bewegt werden kann, selbst wenn das im Straßenverkehr nur unter Aufsicht möglich ist. Von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht geschuldet wird das Ermöglichen von Freizeitbeschäftigungen wie Wandern, Dauerlauf, Ausflüge uä, die das "Stimulieren aller Sinne", die "Erfahrung von Geschwindigkeit und Raum", das "Erleben physischen und psychischen Durchhaltens" sowie das "Gewinnen von Sicherheit und Selbstbewusstsein" mit sich bringen (so BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R -, USK 2002-88, RdNr 17 f mwN) . Dies schließt aber nicht aus, dass einem Versicherten ein Hilfsmittel, das eine dem Radfahren vergleichbare Art der Mobilität ermöglicht, zu gewähren ist, wenn damit zugleich auf andere Weise ein Grundbedürfnis erfüllt wird (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27 - Handbike für den Rollstuhl eines Jugendlichen zur Integration in den Kreis von Gleichaltrigen) . Das ist hier bei der begehrten Versorgung mit einem Speedy-Tandem zur Förderung von Familienaktivitäten indes nicht der Fall; die damit zusammenhängenden Fragen sind höchstrichterlich bereits geklärt:
Der Senat hat entschieden, dass die zusätzliche Ausrüstung eines Rollstuhls mit einer fahrradgleichen mechanischen Zugvorrichtung (sog Rollstuhl-Bike) jedenfalls von einem erwachsenen Menschen nicht als Hilfsmittel der GKV beansprucht werden kann (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 31) . Entsprechendes gilt für ein Therapie-Tandem, welches dem Speedy-Tandem vergleichbar ist - allerdings mit dem Unterschied, dass die Begleitperson den hinteren Sitz einnimmt und der behinderte Mensch vor ihm sitzt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 32 und Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R -, USK 2002-88) . Etwas anderes gilt bei Kindern und Jugendlichen, wenn es darum geht, die Integration eines Behinderten in seiner jugendlichen Entwicklungsphase zu fördern oder ihm dadurch erst der regelmäßige Schulbesuch ermöglicht wird (vgl BSGSozR 3-2500 § 33 Nr 46 - Dreirad und BSG SozR 2200 § 182b Nr 13 - Faltrollstuhl) .Zur Teilnahme an Aktivitäten anderer Jugendlicher und damit zur Integration in Gruppen Gleichaltriger - ein anzuerkennendes Grundbedürfnis Jugendlicher - ist ein Speedy- oder Therapie-Tandem aber nicht geeignet. Denn die Anwesenheit einer Begleitperson, dh eines Erwachsenen, wird von Jugendlichen bei ihren Aktivitäten, mit denen sie gerade Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Erwachsenen beweisen wollen, üblicherweise nicht akzeptiert (so schon BSG, Urteil vom 21.11.2002, aaO, RdNr 19) .
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Letztlich behauptet aber auch die Klägerin nicht, das Hilfsmittel zu ihrer Integration in den Kreis Gleichaltriger oder zum Zwecke des Schulbesuchs zu benötigen, sondern zur Durchführung gemeinsamer Aktivitäten im Familienverbund. Dazu hat der Senat in einem vergleichbaren Fall Folgendes ausgeführt (BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R -, USK 2002-88, RdNr 20) : |
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"Vorliegend kann dahinstehen, ob gemeinsame Fahrradausflüge mit der Familie überhaupt ein relevanter Faktor für die soziale Integration und Kommunikation eines Behinderten sein können, der die Gewährung eines Therapie-Tandems erforderlich machen könnte. … Der Kläger hat durch seine vier teils älteren, teils jüngeren Geschwister und den täglichen Besuch einer Behindertenschule relativ gute Möglichkeiten der sozialen Integration und Kommunikation. Das LSG hat darüber hinaus zwar 'gemeinsame Fahrradausflüge mit seinen Geschwistern und seinen Eltern sowie deren Bekannten und Freunden' festgestellt, diesen Ausflügen aber bereits von Anzahl und Anteil an dem gesamten Spektrum familiärer Aktivitäten her keine besondere Bedeutung zugemessen. … Selbst wenn, wie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat, betont worden ist, in der Heimat des Klägers (Münsterland) Fahrradausflügen sowie dadurch geknüpften und gepflegten Kontakten mit anderen Familien eine besondere soziale Bedeutung zukommen sollte, ändert dies nichts an der zutreffenden Wertung des LSG, dass sie im Falle des Klägers für seine soziale Integration von untergeordneter Bedeutung sind." |
Nach den nicht mit Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG ist der hier zu entscheidende Fall vergleichbar (LSG-Urteil, Umdruck S 9). Auch die Klägerin dieses Verfahrens besucht eine Behindertenschule und hat zwei ältere Geschwister; Besuche im Nahbereich sind mit dem Rollstuhl und gemeinsames Familienerleben bei Ausfahrten mit dem Auto möglich. Damit ist der erforderliche Basisausgleich - wie das LSG unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Senats zutreffend erkannt hat - ausreichend gewährleistet.
Soweit die Klägerin rügt, diese Rechtsprechung des 3. Senats des BSG stehe im Widerspruch zu älterer Rechtsprechung des 8. Senats (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 25 und 28) , ist dies ebenfalls nicht (mehr) klärungsbedürftig, weil der nunmehr ausschließlich für das Hilfsmittelrecht zuständige 3. Senat dazu wiederholt Stellung genommen und ausgeführt hat, dass es sich bei den früheren Fällen um besondere Fallkonstellationen gehandelt hat, in denen ganz außergewöhnliche Bewegungseinschränkungen vorlagen und den gemeinsamen Fahrradausflügen in der konkreten Familiensituation eine große Bedeutung zukam (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 32, RdNr 21, und BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R -, USK 2002-88, RdNr 20) . Nach den Feststellungen des LSG (LSG-Urteil, Umdruck S 9) lagen solche besonderen Gründe hier nicht vor, sodass nicht erkennbar ist, inwiefern ein anschließendes Revisionsverfahren zur Klärung weiterer Rechtsfragen und zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung beitragen könnte.
Soweit die Klägerin dem LSG im Hinblick auf die Rechtsprechung anderer SG und LSG eine falsche Rechtsanwendung vorwirft, kann dies ebenfalls nicht zum Erfolg ihrer Nichtzulassungsbeschwerde führen. Denn zum einen können die Entscheidungen anderer Gerichte nicht in diesem Beschwerdeverfahren sachlich bewertet werden, zum anderen sind die Voraussetzungen zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht schon dann gegeben, wenn das LSG in der Sache falsch entschieden hat; die richtige Entscheidung des Einzelfalles wäre nur Folge der Klärung und Entscheidung einer grundsätzlich bedeutsamen Rechtssache (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7) . Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde soll zur Klärung konkreter Rechtsfragen führen; es dient nicht dazu, die sachliche Richtigkeit der LSG-Entscheidung in vollem Umfang nachzuprüfen (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, IX. Kap, RdNr 182 mwN) .
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. |
Fundstellen