Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschließung von Gerichtspersonen. Mitwirkung im früheren Rechtszug. Ausschließung von Gerichtspersonen wegen Befangenheit. Entscheidung über Befangenheitsantrag durch das LSG. Keine Mitwirkung im früheren Rechtszug. Zurückverweisung an das SG
Leitsatz (amtlich)
Gerichtspersonen, die an einer der angefochtenen Entscheidung vorausgegangenen Zwischenentscheidung nicht in der unteren, sondern in der auch für das Rechtsmittel in der Hauptsache zuständigen Instanz mitgewirkt haben, sind nicht gemäß § 41 Nr 6 ZPO ausgeschlossen.
Leitsatz (redaktionell)
Folgt das LSG lediglich der Rechtsauffassung des Klägers über die Bewertung des Verfahrens im Ergebnis nicht, ohne Gründe wie den vom Kläger genannten einer “Qualitätssicherung” des Verfahrens von vornherein auszuschließen, liegt eine Verletzung von § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht vor.
Normenkette
SGG § 60 Abs. 1 Sätze 1-2; ZPO § 41 Nr. 6; SGG § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 159 Abs. 1 Nr. 2, §§ 62, 128 Abs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 04.01.2006; Aktenzeichen L 6 SB 269/04) |
SG Speyer (Beschluss vom 15.11.2004; Aktenzeichen S 5 SB 376/03) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Januar 2006 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) im Wege der Neufeststellung nach Heilungsbewährung.
Bei dem am 19. März 1960 geborenen Kläger war mit Bescheid vom 4. Mai 1994 wegen einer Blutkrankheit (Morbus Hodgkin) ein GdB von 80 festgestellt worden. Nach Überprüfung von Amts wegen und Anhörung des Klägers stellte der Beklagte mit Bescheid vom 2. Dezember 1999 aufgrund von 1) Blutkrankheit, 2) Hautleiden einen GdB von 20 fest. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 2001). Nach Erhebung der Klage brachte das Sozialgericht Speyer (SG) das Verfahren mit Beschluss vom 18. Dezember 2001 bis zum Abschluss der Tumornachsorgeuntersuchung des Klägers zum Ruhen. Nach Wiederaufnahme des Verfahrens im Mai 2003 und weiterer Sachverhaltsaufklärung beraumte das SG erstmals Termin zur mündlichen Verhandlung für den 21. Juni 2004 an und hielt daran auch nach vom Kläger vorgetragenen Bedenken (Fehlen eines Ruhensaufhebungsbeschlusses) fest. Daraufhin lehnte der Kläger den Vorsitzenden der 5. Kammer des SG, Dr. J…, mit Schreiben vom 16. Juni 2004 ab. Der zuständige Senat des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz (LSG) wies das Befangenheitsgesuch mit Beschluss vom 25. Juni 2004 durch seine Vorsitzende Richterin S… sowie die Richterinnen B… und B… zurück. Mit Urteil vom 15. November 2004 hat das SG unter Vorsitz des Richters Dr. J… die Klage abgewiesen. Auch die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des LSG vom 4. Januar 2006 durch den Richter H… sowie die Richterinnen B… und B…). Gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil wendet sich der Kläger mit seiner auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie auf Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) gestützten Beschwerde.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (vgl § 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Auf die Beantwortung der vom Kläger aufgeworfenen Frage
“Ist unter der ‘angefochtenen Entscheidung’ im Sinne des § 41 Nr 6 Zivilprozessordnung (ZPO) auch eine der Endentscheidung vorausgegangene Zwischenentscheidung zu verstehen, wenn diese zugleich mit der Endentscheidung inzident angefochten wurde und der Beurteilung des Rechtsmittelrichters unterliegt?”
kommt es im vorliegenden Verfahren nicht an; die “vorausgegangene Zwischenentscheidung” wurde nicht – wie es § 41 Nr 6 ZPO voraussetzt – in einem “früheren Rechtszuge” getroffen.
Gemäß § 60 Abs 1 Satz 1 SGG gilt für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen ua § 41 ZPO entsprechend. Nach § 41 Nr 6 ZPO ist ein Richter von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen in Sachen, in denen er in einem früheren Rechtszuge oder im schiedsrichterlichen Verfahren bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, sofern es sich nicht um die Tätigkeit eines beauftragten oder ersuchten Richters handelt. § 60 Abs 1 Satz 2 SGG sieht vor, dass über die Ablehnung der Gerichtspersonen – außer in den Fällen des § 171 SGG – das LSG entscheidet. Daraus folgt in Fällen wie hier (Ablehnung eines Kammervorsitzenden am SG), dass der (jeweils nach dem Geschäftsverteilungsplan) sachlich zuständige Senat des LSG über den Befangenheitsantrag ebenso zu befinden hat wie später über die Berufung. Dabei kann es sich um ein und denselben Senat handeln. Da die beiden betroffenen Richterinnen vorliegend jeweils in der LSG-Instanz entschieden haben, liegt kein Fall einer Entscheidung in einem “früheren Rechtszuge”, also in der vorausgegangenen unteren Instanz, vor.
Selbst wenn man mit dem Kläger davon ausgehen wollte, dass die Entscheidung des LSG über den Befangenheitsantrag insoweit mit dem im Berufungsverfahren angefochtenen Urteil des SG verknüpft ist, als die Befangenheit des Kammervorsitzenden des SG in gewissen Grenzen mit der Berufung erneut geltend gemacht werden kann, ändert dies am Ergebnis nichts. Die Vorbefassung des LSG als Gericht zweiter Instanz unterfällt nach geklärter höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht dem Anwendungsbereich des § 41 Nr 6 ZPO:
Danach ist eine Erstreckung der Ausschließungsvorschrift gerade auf die Fälle, in denen der angegriffene Richter nicht in einer unteren, sondern in der selben Instanz mitgewirkt hat, ausgeschlossen (vgl den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts ≪BVerwG≫ vom 28. Dezember 1988 – 5 ER 620/88, juris, unter Hinweis auf BVerfGE 30, 149, 155; zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vgl nur Beschluss vom 30. April 1998 – III ZB 2/98 –, juris, mwN; neuerdings auch Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫, Beschluss vom 4. Juli 2001 – 1 BvR 730/01, NJW 2001, 3533, mwN; zur Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ≪BFH≫ vgl Beschluss vom 31. Januar 2001 – II R 49/00, BFH/NV 2001, 931, mwN: Entscheidungen innerhalb derselben Instanz; eingehend auch BFH, Beschluss vom 29. Juli 1998 – VII S 11/98 –, BFH/NV 1999, 201, mwN). So hat das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung bereits gefolgert, dass die für den Ausschluss nach § 60 Abs 1 SGG iVm § 41 Nr 6 ZPO vorausgesetzte Mitwirkung in der Vorinstanz nicht vorliegt, wenn das LSG in der durch das Revisionsurteil wieder eröffneten Berufungsinstanz entscheidet (Senatsbeschluss vom 20. Oktober 1998 – B 9 SB 58/98 B – mwN; vgl dazu den Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 15. Februar 1999 – 1 BvR 2262/98). Im Übrigen reicht auch allein (irgend-)eine richterliche Amtsausübung im Laufe des vorinstanzlichen Verfahrens – die der Kläger hier in der Entscheidung über den Befangenheitsantrag sieht – für die Annahme des Ausschlusses nach § 41 Nr 6 ZPO nicht aus (Senatsbeschluss vom 14. April 2004 – B 9 VG 3/03 BH –, juris). Eine solche Ausdehnung der Vorschrift ist mit ihrem Sinn nicht zu vereinbaren, die Mitwirkung eines Richters in einem mehrstufigen Gerichtsverfahren bei der Überprüfung einer Entscheidung zu verhindern, die er in der Vorinstanz getroffen hat (vgl Senat, Beschluss vom 12. Februar 2003 – B 9 SB 60/02 B –, juris). Das Gesetz geht mithin nicht von der Annahme aus, der Richter sei in jedem Falle an einer Überprüfung selbst getroffener Entscheidungen gehindert; nachdrücklich deutlich wird dies gerade auch in Fällen der Anhörungsrüge (§ 178a SGG) oder Gegenvorstellung.
2. Auch der Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels ist nicht gegeben. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die vorgenannten Voraussetzungen sind hinsichtlich der vom Kläger geltend gemachten Verfahrensrügen nicht erfüllt.
a) Bereits aus den zu Ziffer 1 ausgeführten Gründen ist die Rüge ohne Erfolg, das Berufungsgericht habe § 60 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 41 Nr 6 ZPO verletzt; die beiden betroffenen Richterinnen haben die vorausgegangene Entscheidung über die Richterablehnung nicht in einem früheren Rechtszuge, sondern in derselben Instanz wie das Berufungsurteil getroffen.
b) Die Rüge einer Verletzung von § 159 Abs 1 Nr 2 SGG greift ebenfalls nicht durch. Nach dieser Bestimmung kann das LSG die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Der Kläger meint, das LSG hätte bei der Ausübung seines dahingehenden Ermessens eine zu enge Sichtweise gezeigt und nicht berücksichtigt, dass es die Sache auch allein aus Gründen der Qualitätssicherung an die Vorinstanz hätte zurückverweisen können. Diese Ansicht des Klägers trifft nicht zu. Das LSG hat ausdrücklich dargelegt, eine Zurückverweisung nach pflichtgemäßem Ermessen des Berufungsgerichts komme nur in Betracht, wenn eine erneute Entscheidung des SG zweckmäßig sei; vernünftige Gesichtspunkte für eine Zurückverweisung seien indessen nicht zu erkennen. Damit ist es aber lediglich der Rechtsauffassung des Klägers über die Bewertung des Verfahrens im Ergebnis nicht gefolgt, ohne indessen etwa Gründe wie den von ihm genannten einer “Qualitätssicherung” des Verfahrens von vornherein auszuschließen.
c) Die Vorschriften der §§ 62 und 128 Abs 2 SGG (Anspruch auf rechtliches Gehör) wurden im Berufungsverfahren ebenfalls nicht verletzt.
Zum einen gilt dies für die Behauptung des Klägers, das LSG habe seinen Vortrag nicht berücksichtigt, im Bescheid vom 4. Mai 1994 sei der GdB mit 80 zu hoch festgesetzt worden, weil bei dessen Erlass die rechtserhebliche Chemotherapie noch nicht mehr als sechs Monate gedauert habe. Er meint, für die Festsetzung des GdB komme es darauf an, wie lange die Chemotherapie bei dem Erlass des Bescheides gedauert habe bzw voraussichtlich dauern werde. Das LSG hat indessen eine andere Rechtsauffassung vertreten und ausdrücklich auf die tatsächliche (Gesamt-)Dauer der Therapie abgestellt. Die vom Kläger im Berufungsverfahren vertretene Auffassung hat es ausdrücklich zitiert und als nicht relevant verworfen.
Zum anderen gilt dies für die Behauptung des Klägers, das LSG hätte ihn zu der Annahme hören müssen, dass er wegen seines Hautleidens keine ärztliche Behandlung in Anspruch genommen habe; er hätte dazu ausführen können, dass er tatsächlich in engmaschiger stationärer und ambulanter Behandlung gestanden und eine Vielzahl erfolgloser Therapieversuche unternommen habe. Dazu hat der Kläger jedoch nicht ausgeführt, inwieweit diese Behauptung für die Entscheidung des Berufungsgerichts erheblich sein könnte. Das LSG hat hier – unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG – ausgeführt, ein höherer (Einzel-)GdB als 20 komme angesichts der vom Kläger beschriebenen Auswirkungen seines Hautleidens nicht in Betracht. Soweit das LSG darüber hinaus (“zumal”) darauf hingewiesen hat, dass “der Kläger insoweit offensichtlich auch keine regelmäßige ärztliche Behandlung in Anspruch” nehme, handelt es sich lediglich um eine die Argumentation verstärkende, nicht tragende Begründung.
d) Schließlich genügt die Rüge einer Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) nicht den nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG an die Begründung zu stellenden Anforderungen. Wie vom Kläger selbst eingehend ausgeführt worden ist, hat das LSG die beantragte Anhörung des behandelnden Arztes Dr. B… nicht für erforderlich gehalten, weil es die entsprechenden Angaben des Klägers als wahr unterstellt hat. Demgegenüber meint der Kläger, wäre das LSG seinem Beweisantrag gefolgt, hätte sich voraussichtlich eine andere Bewertung der krankheitsbedingten Funktionseinschränkungen und des GdB im Vergleich zu 1994 und zum Streitzeitraum ergeben. Er trägt indessen nicht vor, aufgrund welcher konkreten, in den Sachverständigenbeweis gestellten Tatsachen sich dieses Ergebnis hätte erreichen lassen (vgl Senatsbeschluss vom 9. November 2006 – B 9a VS 5/06 B –). Soweit er die Bestimmung des GdB allein der medizinischen Tatsachenfeststellung unterwirft, lässt er im Übrigen eine nähere Auseinandersetzung damit vermissen, dass die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs des GdB der richterlichen Erkenntnis unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten obliegt (vgl nur Senatsurteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, mwN; stRspr).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
NZS 2007, 669 |
SGb 2007, 291 |