Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenbehandlung. Versorgung mit Arzneimitteln. Wirtschaftlichkeitsgebot. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Berücksichtigung eines erhöhten Anteils älterer Patienten
Orientierungssatz
1. Ein Arzt, der im Gegensatz zur Mehrzahl der Ärzte seiner Fachgruppe ein besonders teures Präparat zur Behandlung von Gesundheitsstörungen einsetzt, die alle Ärzte seiner Fachgruppe typischerweise behandeln, kann sich der Verantwortung für die Wirtschaftlichkeit seiner Versorgungsweise insgesamt nicht mit dem Hinweis entziehen, er bewerte den Nutzen eines bestimmten, von ihm als innovativ eingeschätzten Präparates anders als seine Kollegen und habe deshalb zwangsläufig höhere Verordnungskosten. Soweit therapeutische Alternativen im Rahmen der Arzneimittelbehandlung zur Verfügung stehen, muss er bei der Auswahl der Präparate das Wirtschaftlichkeitsgebot beachten.
2. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist wegen des typischerweise unterschiedlichen Behandlungsaufwands von älteren gegenüber jüngeren Patienten ein gegenüber dem Vergleichsgruppendurchschnitt erhöhter Anteil älterer Patienten einer Praxis sowohl bei den Behandlungskosten wie bei den Verordnungskosten zu berücksichtigen (vgl BSG vom 9.3.1994 - 6 RKa 18/92 = BSGE 74, 70 = SozR 3-2500 § 106 Nr 23). Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass bei den Arzneikosten die Werte des einzelnen Arztes getrennt nach Mitgliedern, Familienangehörigen und Rentnern ermittelt und in dieser Differenzierung den entsprechenden Verordnungskosten der Vergleichsgruppe gegenübergestellt werden.
Normenkette
SGB 5 § 12 Abs. 1, § 27 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 31 Abs. 1, § 106 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die als Augenärztin zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Klägerin wendet sich gegen einen Arzneikostenregress für die Quartale II/1998 bis IV/1998 in Höhe von insgesamt 56.955,37 €.
Die Klägerin überschritt hinsichtlich der Kosten ihrer Arzneiverordnungen bei deutlich überdurchschnittlicher Fallzahl und erhöhtem Rentneranteil den Kostendurchschnitt der aus allen Augenärzten im Bezirk der früheren Kassenärztlichen Vereinigung Koblenz bestehenden Vergleichsgruppe um 216 % (Quartal II/1998), 206 % (Quartal III/1998) und 224 % (IV/1998). Die um die Auswirkungen des erhöhten Rentneranteils bereinigten Überschreitungswerte beliefen sich auf 187,2 %, 166,5 % und 191,4 %. Der Prüfungsausschuss beanstandete das Verordnungsverhalten der Klägerin als unwirtschaftlich und setzte Regresse fest, mit denen ihr eine Überschreitung des gewichteten Fallwerts der Vergleichsgruppe um lediglich 40 % belassen wurde. Die Widersprüche der Klägerin wies der beklagte Beschwerdeausschuss zurück und erhöhte für die Quartale III/1998 und IV/1998 auf die Widersprüche der beigeladenen Krankenkassen bzw Krankenkassenverbände die Regressbeträge in der Weise, dass der Klägerin nur noch eine Überschreitung des gewichteten Vergleichsgruppendurchschnitts um 30 % zugestanden wurde.
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Nach Auffassung des Landessozialgerichts (LSG) hält sich die angefochtene Entscheidung im Rahmen des dem Beklagten zukommenden Entscheidungsspielraums. Die Forderung der Klägerin nach Berücksichtigung der Altersstruktur ihrer Patienten als Praxisbesonderheit sei nicht gerechtfertigt. Der in erster Linie für die hohen Überschreitungswerte ursächliche Einsatz der Präparate "Trusopt" und "Dexium" stehe mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot nicht im Einklang. Zu Trusopt gebe es erheblich günstigere Verordnungsalternativen, sodass der Einsatz dieses Präparates nur bei nachgewiesener Unverträglichkeit der therapeutischen Alternativen im Ausnahmefall in Betracht komme; dazu habe die Klägerin nichts Näheres vorgetragen. Die therapeutische Wirksamkeit von Dexium sei insgesamt umstritten (Urteil vom 8. September 2005).
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin geltend, das Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und im Rechtsstreit seien Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Soweit die Beschwerde einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG rügt, ist sie teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.
Die Klägerin hält dem Berufungsgericht zunächst eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht gemäß § 103 Satz 1 SGG vor. Auf eine Verletzung des § 103 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 2. Halbsatz SGG jedoch nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Dieser Beweisantrag muss konkret bezeichnet werden, um den Begründungsanforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG zu entsprechen. Das ist in der Beschwerdebegründung nicht geschehen. Deshalb ist die Verfahrensrüge insoweit unzulässig.
Soweit die Klägerin eine Verletzung ihres Rechts auf angemessene Gewährung rechtlichen Gehörs rügt, ist die Beschwerde jedenfalls unbegründet. Die Klägerin rügt in diesem Zusammenhang, das LSG habe wichtige Teile ihres Vortrags unberücksichtigt gelassen. Das trifft nicht zu. Das Berufungsurteil hat sich mit den zentralen Argumenten der Klägerin auseinander gesetzt. Diese lassen sich dahin zusammenfassen, dass die häufige Verordnung der vor allem für die hohen Überschreitungswerte verantwortlichen Präparate "Trusopt" und "Dexium" trotz der damit verbundenen hohen Kosten insgesamt wirtschaftlich sei, weil sich damit die besten therapeutischen Erfolge erzielen ließen und die Kosten etwa für stationäre Behandlung eingespart würden. Das Berufungsgericht hat diese Einschätzung der Klägerin zwar aufgenommen, jedoch in der Sache nicht geteilt. Es ist der Auffassung, die Klägerin habe den Darlegungsanforderungen zur Rechtfertigung für die überdurchschnittlich häufigen Verordnungen dieser besonders teuren Präparate nicht hinreichend entsprochen. In diesem Zusammenhang hat das Berufungsgericht nicht der Klägerin die Beweislast hinsichtlich der Wirksamkeit des Präparates "Dexium" auferlegt, sondern substantiierten Vortrag der Klägerin dazu vermisst, in welchen Behandlungsfällen sie dieses hinsichtlich seiner therapeutischen Wirksamkeit nach Einschätzung des Beklagten umstrittene Präparat eingesetzt hat und weshalb gerade in diesen Behandlungsfällen günstigere Präparate nicht zur Anwendung gelangt sind. Aus den Vorschriften über das Wirtschaftlichkeitsgebot und die vertragsärztliche Wirtschaftlichkeitsprüfung im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sowie aus dem Umstand, dass die Arzneikosten der Klägerin den Vergleichsgruppendurchschnitt um Werte weit im Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses überschritten haben, hat das LSG besondere Darlegungsobliegenheiten der Klägerin abgeleitet und ist im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) zu der Auffassung gelangt, dass die Klägerin diesen nicht entsprochen hat. Selbst wenn die Auffassung des Berufungsgerichts in diesem Zusammenhang unrichtig wäre, läge darin eine materiell-rechtlich fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall und kein Verfahrensfehler, der allein zur Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG führen könnte.
Soweit die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung als Zulassungsgrund geltend macht, ist die Beschwerde ebenfalls nicht begründet.
Die Klägerin hält zunächst für klärungsbedürftig, "inwieweit die Kontrollgremien und nachstehend auch die Sozialgerichte im Rahmen eines Arzneimittelregressverfahrens von Gesetzes wegen das Argument und damit einen Regress durchführen können und dürfen, es seien Mittel ohne nachgewiesene medizinische Wirksamkeit verordnet worden, obwohl diese Medikamente in Deutschland zugelassen sind". In dieser Allgemeinheit wäre die von der Klägerin aufgeworfene Frage nicht klärungsfähig und im Übrigen ist sie nicht klärungsbedürftig.
Der beklagte Beschwerdeausschuss hat seinen Regress nicht darauf gestützt, dass das Präparat "Dexium" im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung nicht verordnungsfähig gewesen wäre. In diesem Fall hätte gegen die Klägerin ein Schadensregress wegen der Verordnung von nicht verordnungsfähigen Arzneimittel festgesetzt werden können, mit dem die gesamten auf die Verordnung des Präparates "Dexium" entfallenden Kosten von ihr zurückgefordert worden wären. Der Beklagte hat lediglich dargelegt, dass die therapeutische Wirksamkeit von Dexium im Rahmen der augenärztlichen Versorgung umstritten ist, weswegen zumindest in dem streitbefangenen Zeitraum (1998) eine Vielzahl von Augenärzten von dem Einsatz dieses Präparates in größerem Umfang abgesehen hätte. Es bedarf im Übrigen nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, sondern liegt ohne weiteres auf der Hand, dass ein Arzt, der im Gegensatz zur Mehrzahl der Ärzte seiner Fachgruppe ein besonders teures Präparat zur Behandlung von Gesundheitsstörungen einsetzt, die alle Ärzte seiner Fachgruppe typischerweise behandeln, sich der Verantwortung für die Wirtschaftlichkeit seiner Versorgungsweise insgesamt nicht mit dem Hinweis entziehen kann, er bewerte den Nutzen eines bestimmten, von ihm als innovativ eingeschätzten Präparates anders als seine Kollegen und habe deshalb zwangsläufig höhere Verordnungskosten. Soweit therapeutische Alternativen im Rahmen der Arzneimittelbehandlung zur Verfügung stehen, muss der Arzt bei der Auswahl der Präparate das Wirtschaftlichkeitsgebot beachten. Wenn der Arzt ein neues, besonders teures Präparat sehr viel häufiger als die Ärzte seiner Vergleichsgruppe anwendet und das zu einer signifikanten Überschreitung der Verordnungskosten der Fachgruppe pro Fall führt, kann das Wirtschaftlichkeitsgebot allenfalls beachtet sein, wenn durch das Verordnungsverhalten des Arztes kostenrelevante Einsparungen in anderen Bereichen konkret verursacht worden sind (kompensatorische Einsparungen).
Soweit das LSG den Vortrag der Klägerin in diesem Zusammenhang, sie erspare stationäre Behandlungen, als zu pauschal angesehen hat, steht das im Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung des Senats (vgl zu den Darlegungsanforderungen bei der Berufung auf die Vermeidung von Einweisungen zur stationären Behandlung BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 57 S 326) und bedarf deshalb keiner Überprüfung in einem Revisionsverfahren.
Soweit die Klägerin schließlich für grundsätzlich bedeutsam hält, ob der Beklagte verpflichtet gewesen wäre, "innerhalb einer bestimmten Vergleichsgruppe weitere Differenzierungen" vorzunehmen und diese als Praxisbesonderheit zu werten, besteht keine Klärungsbedürftigkeit. In der Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass wegen des jedenfalls typischerweise unterschiedlichen Behandlungsaufwands von älteren gegenüber jüngeren Patienten ein gegenüber dem Vergleichsgruppendurchschnitt erhöhter Anteil älterer Patienten einer Praxis im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung sowohl bei den Behandlungskosten wie bei den Verordnungskosten zu berücksichtigen ist (vgl etwa BSGE 74, 70, 74 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 23 S 127) . Seit Jahrzehnten tragen die Prüfgremien dem dadurch Rechnung, dass bei den Arzneikosten die Werte des einzelnen Arztes getrennt nach Mitgliedern, Familienangehörigen und Rentnern ermittelt und in dieser Differenzierung den entsprechenden Verordnungskosten der Vergleichsgruppe gegenübergestellt werden (vgl Engelhard in Hauck/Noftz, SGB V, Stand Dezember 2004, § 106 RdNr 362) . Eine weitere Differenzierung innerhalb dieser drei nach dem Versicherungsstatus unterschiedenen Patientengruppen hat die Rechtsprechung bisher nicht gefordert. Eine solche Forderung stünde mit den Grundsätzen der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht im Einklang. Sie hätte ua zur Folge, dass der Vergleich der Verordnungskosten nach Durchschnittswerten gemäß § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V in der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung praktisch nicht mehr durchführbar wäre. Den Prüfgremien stehen verlässliche Daten über die genaue Altersverteilung der Patienten aller Praxen nicht zur Verfügung, und die Erhebung entsprechender Daten wäre mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden. Schließlich müssten nicht nur die Daten über die Altersverteilung der Patienten in allen in Betracht kommenden Fachgruppen ermittelt, sondern auch weiterhin aufgeklärt werden, welchen Einfluss die Zugehörigkeit des Patienten zu einer bestimmten Alterskohorte auf den durchschnittlichen Behandlungsaufwand hat. Auch über die dazu erforderlichen Daten verfügen die Prüfgremien nicht.
Die nach dem Versichertenstatus definierte Gruppe der Rentner, also diejenigen Personen, die im Rahmen der Krankenversicherung der Rentner gesetzlich krankenversichert sind, besteht typischerweise aus Personen, die eine Altersrente oder eine Rente wegen Erwerbsminderung beziehen oder über einen Rentenbezieher familienversichert sind. Im Rahmen der unvermeidlichen Typisierung ist es gerechtfertigt, davon auszugehen, dass Patienten mit besonders hohem Behandlungsaufwand in dieser Versichertengruppe stärker als in den beiden anderen Gruppen vertreten sind. Auch bei den Rentnerversicherten gibt es in jeder Arztgruppe und in jeder einzelnen Praxis wiederum Patienten mit besonders hohem und solche mit eher geringem Behandlungsbedarf. Zu Recht hat der Beklagte die Behauptung der Klägerin, innerhalb der Gruppe der Rentner seien in ihrem Patientenklientel besonders behandlungsaufwändige Rentnerversicherte überpräsentiert, nicht für hinreichend substantiiert gehalten. Allgemeine Erwägungen über die Folgen der von der Klägerin so genannten "Vergreisung" der Gesellschaft sind in diesem Zusammenhang unerheblich; im Übrigen hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass die Verordnungskosten der Klägerin die Vergleichswerte der Arztgruppe nicht nur bei den Rentnern, sondern auch bei den anderen Versichertengruppen deutlich überschreiten. Diese Feststellung stimmt mit dem Vortrag der Klägerin überein, die selbst davon ausgeht, dass Ursache für die massiven Überschreitungen des Vergleichsgruppendurchschnitts in erster Linie der von dem Verordnungsverhalten der Arztgruppe abweichende Einsatz der Präparate "Dexium" und "Trusopt" ist. Diese Präparate hat die Klägerin nicht nur für Rentner verordnet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Verwaltungsgerichtsordnung.
Fundstellen