Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die Höhe des der Verletztenrente zugrunde zu legenden Jahresarbeitsverdienstes (JAV). Umstritten ist der Anspruch des Klägers auf Neuberechnung der Verletztenrente nach dem Entgelt eines Diplomingenieurs (FH) gem § 573 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der im Jahre 1964 geborene Kläger legte im Juni 1983 an einem Wirtschaftsgymnasium das Abitur ab. Er strebte die Ausbildung zum Bauingenieur an. Am 1. August 1983 begann er zunächst eine Lehre als Zimmermann, nachdem er von der Fachhochschule (FH) B. die Empfehlung erhalten hatte, dem Studium des Bauingenieurwesens eine praktische Ausbildung, z.B. als Zimmermann, voranzustellen. Während der Lehrzeit erlitt der Kläger am 31. August 1983 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich erhebliche Verletzungen an der rechten Hand zuzog. Am 1. Juni 1985 schloß der Kläger die Ausbildung als Zimmermann mit der Gesellenprüfung ab. Die Lehre wurde ihm bei dem in unmittelbarem Anschluß begonnenen Studium des Bauingenieurwesens an der FH Bieberach in vollem Umfang auf das Vorpraktikum angerechnet und das erste Praxissemester erlassen. Am 16. November 1989 beendete der Kläger das Studium mit der Diplomprüfung in der Fachrichtung Bauingenieurwesen. Seitdem ist er als Bauingenieur tätig.
Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls, bezieht der Kläger Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH. Diese wurde zunächst nach einem JAV von 18.576,- DM berechnet. Für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Schul- oder Berufsausbildung setzte die Beklagte den JAV entsprechend dem Arbeitsverdienst eines Zimmermanns auf 32.481,88 DM.
Mit Bescheid vom 25. Juli 1990 und Widerspruchsbescheid vom 16. November 1990 lehnte die Beklagte eine vom Kläger im Mai 1990 beantragte Neuberechnung des JAV nach § 573 Abs. 1 RVO auf der Grundlage des Entgelts eines Diplomingenieurs (FH) ab. Im Unfallzeitpunkt habe der Kläger lediglich die Ausbildung zum Zimmermann begonnen. Die spätere Ausbildung zum Bauingenieur stelle eine völlig eigenständige Berufsausbildung dar.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Mai 1991). Der Begriff der Berufsausbildung i.S. des § 573 Abs. 1 RVO sei eigenständig und beziehe sich nicht auf eine spätere Weiterbildung (zB ein Studium), auch wenn das Studium schon vor Beginn der Lehre beabsichtigt gewesen sei. Entscheidend sei, daß der Beruf des Zimmermanns einen selbständigen Lehrberuf darstelle, der das Bauingenieurstudium zwar erleichtere, aber für die Zulassung zum Studium nicht vorausgesetzt werde.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 17. November 1989 Verletztenrente auf der Grundlage des JAV eines Diplomingenieurs (FH) der Fachrichtung Bauingenieurwesen zu gewähren (Urteil vom 30. April 1992). Der Kläger habe sich zum Unfallzeitpunkt in der Ausbildung zum Diplomingenieur in der Fachrichtung Bauingenieurwesen befunden. Es habe sich um eine einheitliche Berufsausbildung gehandelt, die mit der Zimmermannslehre begonnen habe. Entscheidend sei, daß der Kläger diese mehrstufige Ausbildung von vornherein beabsichtigt habe und der erste Ausbildungsabschnitt (Zimmermannslehre) planmäßig und objektiv sinnvoll in das Gesamtkonzept der Ausbildung mit dem Ziel des Abschlusses als Diplomingenieur einbezogen worden sei.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 573 Abs. 1 RVO. Die Zimmermannslehre und das anschließende Bauingenieurstudium seien weder eine einheitliche Ausbildung noch eine Stufenausbildung, sondern zwei voneinander unabhängige Ausbildungen. Es komme nicht darauf an, ob der Abschluß des Lehrberufs das Studium erleichtere, objektiv sinnvoll sei oder bessere Berufsaussichten eröffne. Entscheidend sei allein, daß das Bauingenieurstudium eine Lehre als Zimmermann nicht voraussetze. § 573 RVO spreche von einer Berufsausbildung; eine Weiterbildung in der hier vorliegenden Form könne bei der Berechnung des JAV nicht berücksichtigt werden.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. April 1992 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. Mai 1991 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet.
Das LSG hat die Beklagte zutreffend verurteilt, dem Kläger ab 17. November 1989 die Verletztenrente auf der Grundlage des JAV nach dem zu diesem Zeitpunkt für einen Diplomingenieur (FH) der Fachrichtung Bauingenieurwesen erzielbaren Entgelt zu gewähren.
Berechnungsgrundlage für die dem Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 31. August 1983 dem Grunde nach unstreitig zustehende Verletztenrente ist - neben dem Grad der MdE - der JAV des Verletzten. Hierfür ist im Regelfall der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (§§ 14, 15 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung SGB IV ) des Verletzten in den letzten zwölf Monaten vor dem Arbeitsunfall maßgebend (§ 571 Abs. 1 RVO). Grundsätzlich bleiben diese Verdienstverhältnisse für alle Zukunft die Grundlage der Geldleistungen; spätere Erwerbsaussichten sind in der Regel bei der Feststellung des JAV rechtlich unbeachtlich (BSG Urteil vom 4. Dezember 1991 - 2 RU 69/90 - HV-Info 1992, 598 mwN; BSG Urteil vom 28. Januar 1993 - 2 RU 15/92 - HV-Info 1993, 972). Eine Ausnahme gilt dann, wenn sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung befunden hat. In einem solchen Fall wird nach § 573 Abs. 1 RVO, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV für die Zeit nach Beendigung der Ausbildung nach dem Entgelt berechnet, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich ist. Dieser Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, daß die zur Zeit des Arbeitsunfalls in einer Schul- oder Berufsausbildung Stehenden vom Zeitpunkt der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung an hinsichtlich der Berechnung des JAV so zu stellen sind, als ob sie den Unfall erst in diesem Zeitpunkt erlitten hätten (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl., S. 575c m.w.N.).
Der Begriff der Berufsausbildung i.S. des § 573 RVO ist ein eigenständiger Begriff, bei dem die Abgrenzung einer beruflichen Bildungsmaßnahme nicht einheitlich für alle Rechtsgebiete erfolgen kann. Vielmehr ist entscheidend auf den jeweiligen Sinn des Gesetzes abzustellen. Es kann daher entgegen der Auffassung der Revision nicht ohne weiteres auf die Abgrenzung zwischen Ausbildung einerseits und Fortbildung andererseits zurückgegriffen werden, wie sie zu anderen sozialversicherungsrechtlichen Normen - z.B. aus dem Arbeitsförderungsrecht - vorgenommen wird (BSGE 38, 174, 175; BSG Urteil vom 4. Dezember 1991 a.a.O.). Im Arbeitsförderungsrecht ist eine Ausbildung in Abgrenzung zur Fortbildung oder Umschulung nur die erste zu einem beruflichen Abschluß führende Bildungsmaßnahme. Wesentlich für den Begriff der Berufsausbildung i.S. von § 573 Abs. 1 RVO ist hingegen, welcher mögliche Abschluß mit der zur Zeit des Unfalls begonnenen Ausbildung angestrebt wird. Dies bedeutet nicht notwendig nur eine Grundausbildung (BSG Urteil vom 4. Dezember 1991 a.a.O. m.w.N.). Während es im Arbeitsförderungsrecht darum geht, ob und ggf in welchem Umfang zeitlich begrenzte berufliche Bildungsmaßnahmen gefördert werden, kommt es im Unfallversicherungsrecht für die Entschädigung der Folgen eines Arbeitsunfalls darauf an, auf der Grundlage von welchem JAV die Verletztenrente eines Versicherten, der einen Arbeitsunfall noch während der Schul- oder Berufsausbildung erleidet, für die Zukunft zu berechnen ist. Die Berufsausbildung i.S. von § 573 Abs. 1 RVO ist somit nach der ständigen Rechtsprechung des Senats, mit der sich die Revision trotz der Nachweise im von ihr angegriffenen Urteil des LSG nicht auseinandersetzt, nicht zwingend bereits mit dem Erwerb eines ersten beruflichen Abschlusses beendet (BSGE 60, 258, 259; s. auch BSG Urteil vom 26. März 1986 - 2 RU 32/84 - HV-Info 1986, 860). Wesentlich für den Begriff der Berufsausbildung i.S. des § 573 Abs. 1 RVO ist, welches Berufsziel der Verletzte zum Zeitpunkt des Unfalls angestrebt hat.
Andererseits zählt aber eine berufliche Weiterbildung nicht zur Berufsausbildung i.S. von § 573 Abs. 1 RVO (BSG Urteil vom 30. Oktober 1991 - 2 RU 61/90 - HV-Info 1992, 428 = BAGUV RdSchr 7/92 mwN; zu § 565 RVO aF: BSGE 18, 136, 140). Der JAV kann daher nicht nach dem Entgelt berechnet werden, das der Versicherte erst nach einer beruflichen Weiterbildung erzielen wird. Ein solcher Fall der beruflichen Weiterbildung lag z.B. bei einem Studenten der Medizin vor, der - vor dem 30. Juni 1987 - den dritten Abschnitt der ärztlichen Prüfung bestanden hatte und sich danach als Facharzt ausbilden ließ oder zum Zweck der Promotion weiter studierte (BSG Urteil vom 30. Oktober 1991 a.a.O. m.w.N.). Der JAV ist auch dann nicht nach § 573 Abs. 1 RVO neu zu berechnen, wenn der Versicherte ohne den Unfall nach Abschluß der ersten Ausbildung noch eine weitere Ausbildung in einem anderen, von dem ersten verschiedenen Beruf begonnen hätte (BSG SozR Nr. 7 zu § 565 RVO aF).
Nach den für den Senat gem § 163 SGG bindenden Feststellungen hat der Kläger jedoch bereits nach Ablegung des Abiturs den Beruf des Diplomingenieurs (FH) im Bereich Bauingenieurwesen angestrebt. Dazu ist ein Studium an einer Fachhochschule erforderlich. Vor dem Beginn des Studiums hat der Kläger eine Lehre als Zimmermann absolviert und mit der Gesellenprüfung abgeschlossen. Er hatte sich nach den Feststellungen des LSG zu der Lehre nur deshalb entschlossen, weil sie ihm - einer allgemeinen Übung der FH B. entsprechend - empfohlen wurde. Der Kläger hatte zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, den Beruf des Zimmermanns auszuüben, und hat dies auch tatsächlich nicht getan. Zum frühestmöglichen Termin nach Ablegung der Gesellenprüfung hat er sein Fachhochschulstudium aufgenommen. Die vorgeschaltete Ausbildung wurde beim Vorpraktikum und beim ersten Praxissemester angerechnet.
Die Besonderheiten des vom Kläger angestrebten und durchgeführten Ausbildungsgangs rechtfertigen es, sein Bauingenieurstudium nicht als Weiterbildung nach der Gesellenprüfung, sondern als einheitliche Berufsausbildung i.S. des § 573 Abs. 1 RVO anzusehen. Wesentlich ist hierfür, daß der Kläger bereits vor Beginn der Zimmermannslehre und auch noch im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls als Berufsziel den Abschluß als Diplomingenieur an einer Fachhochschule angestrebt und dieses Ziel auch nach Abschluß der Lehre umgehend weiterverfolgt hat. Die Neuberechnung der Verletztenrente auf der Grundlage des JAV eines Diplomingenieurs kann deshalb nicht schon allein mit der Begründung abgelehnt werden, der Kläger habe mit der Gesellenprüfung als Zimmermann einen beruflichen Abschluß erworben. Diesen Abschluß hat der Kläger nie als Berufsziel angestrebt, sondern - nach den bindenden Feststellungen des LSG - einzig und allein die Ausbildung zum Bauingenieur. Von einer einheitlichen Ausbildung ist dabei nicht nur im Fall einer Stufenausbildung auszugehen, bei der der erfolgreiche Abschluß einer Stufe Zugangsvoraussetzung für die Zulassung zur weiteren Ausbildungsstufe ist, so z.B. in einem Fall, in dem ein Versicherter einen Abschluß als landwirtschaftlicher Gehilfe benötigte, um die Aufnahmebedingungen für die Höhere Landbauschule zu erfüllen, an der er den Abschluß als staatlich geprüfter Landwirt erwerben konnte (BSG Urteil vom 4. Dezember 1991 a.a.O.; s. auch BSGE 60, 258, 259; BSG Urteil vom 26. März 1986 a.a.O.). Ausreichend ist vielmehr, wenn eine Ausbildung in eine darauf aufbauende Ausbildung einmündet, dies von vornherein so geplant war und objektiv sinnvoll ist. Der vom Kläger angestrebte Bauingenieursabschluß sollte von vornherein über eine dem Studium vorgeschaltete Zimmermannslehre erreicht werden. Ein derartiger Ausbildungsgang ist auch objektiv sinnvoll, zumal die Zimmermannsausbildung bei verschiedenen vor und während des Studiums zu erbringenden Leistungsnachweisen angerechnet wurde. Ohne Bedeutung ist es insoweit, daß es auch andere Möglichkeiten gibt, den Diplomingenieursabschluß zu erreichen. Gegen die Berücksichtigung des JAV eines Diplomingenieurs spricht daher auch nicht, daß die Zimmermannslehre nicht Zulassungsvoraussetzung des Hochschulstudiums war.
Als eine Person gleicher Ausbildung, nach deren Entgelt die Beklagte den JAV nach § 573 Abs. 1 RVO nach den Gegebenheiten des Falls für die Zeit nach dem tatsächlichen Abschluß der Ausbildung (16. November 1989) neu zu berechnen hat, ist ein Diplomingenieur (FH) im Bereich Bauingenieurwesen anzusehen. Dem JAV ist demzufolge das Anfangsgehalt zugrundezulegen, das am 16. November 1989 für einen Diplomingenieur (FH) im Bereich Bauingenieurwesen durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich war.
Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 517625 |
Breith. 1994, 276 |