Orientierungssatz
Parallelentscheidung zu dem BSG-Urteil vom 6.3.2012 - B 1 KR 17/11 R, das vollständig dokumentiert ist.
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Oktober 2010 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für eine Klimaheiltherapie in Jordanien im Jahr 2008.
Die bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Klägerin leidet an der Weißfleckenkrankheit (Vitiligo) mit einer generalisierten und progredienten Depigmentierung der Haut. 1995 und 2005 erhielt die Klägerin auf Kosten der Beklagten Klimaheiltherapien am Toten Meer. Die Erstattung von Kosten für weitere Klimaheiltherapien nach Prof Dr Schallreuter in den Jahren 2006 und 2007 ist Gegenstand des Rechtsstreits B 1 KR 17/11 R.
Im März 2008 beantragte die Klägerin erneut, ihr eine Klimaheiltherapie nach Prof Dr Schallreuter vom 4.5. bis 18.5.2008 als stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation (Reha) zu gewähren. Die ua in Greifswald praktizierende Dermatologin Prof Dr Schallreuter fährt hierzu regelmäßig mit einer größeren Gruppe von Patienten nach Jordanien in das "Dead Sea M.C./Dead Sea S1 Hotel". Die Therapie besteht im Wesentlichen aus einer Kombination von topischer Substitutionstherapie mit einer von ihr selbst entwickelten und nur über sie direkt beziehbaren Pseudokatalase-Creme (PC-KUS) sowie regelmäßigen Bädern im Toten Meer mit anschließenden Sonnenlichtexpositionen. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Nord (MDK) vertrat die Auffassung, ausreichend sei eine ambulante fachärztliche Therapie am Wohnort der Klägerin. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 2.7.2008). Der Widerspruch, mit dem die Klägerin geltend machte, dass die zwischenzeitlich auf eigene Kosten in Höhe von 2237 Euro durchgeführte Kurbehandlung erfolgreich gewesen sei, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 9.1.2009).
Das SG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, es liege keine Maßnahme der medizinischen Reha in einer Reha-Einrichtung vor (Gerichtsbescheid vom 23.4.2009). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen: Die Voraussetzungen der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage § 18 Abs 1 SGB V seien nicht erfüllt. Es gebe keinen Konsens über die Zweckmäßigkeit der durchgeführten Vitiligo-Therapie, der sich aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Studien in Form von Statistiken über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ableiten ließe. Den Beweisanträgen der Klägerin habe nicht stattgegeben werden müssen (Urteil vom 14.10.2010).
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 103 iVm § 106 SGG und des § 18 SGB V. Das LSG habe fachmedizinische Literatur bewertet, ohne sich hierbei sachverständiger Hilfe zu bedienen. Vor Therapiebeginn 2008 habe ein Mitarbeiter der Beklagten der Klägerin zugesichert, dass ihr durch den vorzeitigen Antritt der Maßnahme keine Nachteile entstünden. Die Beklagte habe mit der zweimaligen Finanzierung einer Klimaheiltherapie in der Vergangenheit einen Vertrauenstatbestand geschaffen, der ihr Ermessen auf Null reduziere.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Oktober 2010 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 23. April 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin 2237 Euro Kosten der vom 4. bis 18. Mai 2008 am Toten Meer in Jordanien durchgeführten Klimaheiltherapie zu erstatten,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Oktober 2010 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG ). Das angefochtene LSG-Urteil ist aufzuheben. Das LSG hat materielles Recht verletzt und es unter Verstoß gegen § 103 SGG abgelehnt, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Der erkennende Senat ist an einer abschließenden Entscheidung gehindert. Die Feststellungen des LSG, die unangegriffen und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), reichen nicht für eine abschließende Entscheidung aus. Die Entscheidung des LSG erweist sich weder ganz noch teilweise aus anderen Gründen als zutreffend.
Im Ergebnis zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, dass als Rechtsgrundlage des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs gegen die beklagte Ersatzkasse nicht § 13 Abs 3 S 2, § 40 SGB V iVm §§ 15, 18 SGB IX (dazu 1.), sondern lediglich § 18 Abs 1 und 2 SGB V in Betracht kommt (dazu 2.).
Gegenstand des Revisionsverfahrens sind allein die Bescheide, mit denen die Beklagte die Kostenübernahme bzw Kostenerstattung für die beantragte Leistung im Jahr 2008 abgelehnt hat. Nicht streitgegenständlich sind die weiteren Bescheide, mit denen die Beklagte die Kostenerstattung für die beantragten Leistungen in den Jahren 2006 und 2007 versagt hat. Diese sind Gegenstand des ebenfalls am 6.3.2012 entschiedenen Parallelverfahrens B 1 KR 17/11 R.
1. Im Ergebnis zutreffend hat das LSG einen Kostenerstattungsanspruch aus § 13 Abs 3 S 2, § 40 SGB V iVm § 15 Abs 1 S 4, § 18 S 1 SGB IX verneint. Diese Anspruchsgrundlage kommt tatbestandlich allerdings in Betracht, weil der Antrag der Klägerin auch auf einen Anspruch auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation (Reha) in Form einer Klimaheiltherapie am Toten Meer gerichtet ist. Zwar kann § 13 Abs 3 SGB V bei im Ausland zu erbringenden Leistungen nach Maßgabe weiterer Voraussetzungen Anwendung finden, wenn die Voraussetzungen des § 18 SGB V nicht erfüllt sind (dazu a). Versicherte können jedoch Klimaheiltherapien in Jordanien als Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zur medizinischen Reha nur unter den Voraussetzungen des § 18 SGB V beanspruchen. § 40 SGB V beschränkt den Anspruch auf medizinische Reha auf Fälle der wohnortnahen ambulanten Versorgung und der stationären Versorgung in Reha-Einrichtungen, für die ein Versorgungsvertrag nach § 111 SGB V besteht oder zumindest geschlossen werden könnte (dazu b). Hierzu zählen die für die Klägerin relevanten Auslandseinrichtungen außerhalb von EU und EWR nicht.
a) § 13 Abs 3 SGB V kann auf Auslandsleistungen Anwendung finden, ohne dass § 18 SGB V eine Sperrwirkung entfaltet. Nach § 13 Abs 3 S 2 SGB V werden die Kosten für selbstbeschaffte Leistungen zur medizinischen Reha nach dem SGB IX gemäß § 15 SGB IX erstattet. § 18 SGB V verdrängt lediglich in seinem Anwendungsbereich als Spezialnorm, die weiterreichende Ansprüche vermittelt, § 13 Abs 3 SGB V (vgl E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung Bd 1, Stand: 1.9.2011, § 13 SGB V RdNr 69 iVm 105). Im Übrigen greift die Regelung des § 13 Abs 3 SGB V über Kostenerstattung bei Systemversagen stets ein, wenn anderweitig nicht schließbare Lücken im Versorgungssystem der GKV bestehen (vgl BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 23), auch wenn es um Leistungen im Ausland geht, jedenfalls wenn deutsches Recht berufen ist und dieses die Anwendung des § 13 Abs 3 SGB V zulässt (vgl zB BSGE 93, 94 = SozR 4-2500 § 13 Nr 4; BSGE 98, 257 = SozR 4-6928 Allg Nr 1, RdNr 25, 28; BSGE 104, 1 = SozR 4-2500 § 13 Nr 23; vgl zum Ganzen auch E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung Bd 1, Stand: 1.9.2011, § 13 SGB V RdNr 175; aA Sächsisches LSG Urteil vom 16.5.2007 - L 1 KR 1/03 - juris RdNr 30; Schneider in Hauck/Noftz, SGB IX, Stand April 2011, § 18 RdNr 7).
b) Die Voraussetzungen des § 13 Abs 3 S 2 SGB V sind nicht erfüllt, weil - außerhalb des Anwendungsbereichs von § 18 SGB V - Klimaheiltherapien in Jordanien nicht als GKV-Leistungen zur medizinischen Reha nach dem SGB IX in Betracht kommen. § 40 SGB V regelt GKV-Leistungen zur medizinischen Reha. Die Norm begrenzt den Anspruch auf medizinische Reha auf Fälle der wohnortnahen ambulanten Versorgung und der stationären Versorgung in Reha-Einrichtungen, für die ein Versorgungsvertrag nach § 111 SGB V besteht (so die bis 31.3.2007 geltende Fassung des § 40 SGB V idF durch Art 1 Nr 31 GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.1003, BGBl I 2190) oder zumindest geschlossen werden könnte (so im Ergebnis auch § 40 idF durch Art 1 Nr 26 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ≪GKV-WSG≫ vom 26.3.2007, BGBl I 378, der lediglich von einem Vertragsschluss nach § 111 SGB V entpflichtet, nicht aber von den Qualitätserfordernissen für einen solchen Vertrag; vgl zum fehlenden Auslandsbezug des Regelungszwecks der Gesetzesänderung auch Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eines GKV-WSG, BT-Drucks 16/3100 S 106 Zu Nr 26 Zu Buchst b).§ 111 SGB V sieht nach seiner gesamten Konzeption als Instrument der Sicherung hochqualitativer Versorgungsstrukturen durch regional erreichbare Reha-Einrichtungen für die stationäre Versorgung keine Versorgungsverträge mit Einrichtungen vor, die sich außerhalb der EU, dem EWR und der Schweiz befinden. So ist etwa mit der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde Einvernehmen über Abschluss und Kündigung des Versorgungsvertrags anzustreben (§ 111 Abs 4 S 3 SGB V).
Wortlaut, Zweck und Regelungssystem der §§ 40, 111 SGB V lassen es nicht zu, entsprechende Versorgungsverträge unter Berücksichtigung von § 18 SGB IX mit Einrichtungen außerhalb der EU, des EWR und der Schweiz zu schließen (im Ergebnis zutreffend die überwiegende Literatur, zB Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, Stand Februar 2012, § 40 RdNr 50; Schneider in Hauck/Noftz, SGB IX, Stand April 2011, § 18 RdNr 11 aE; aA wohl O'Sullivan in jurisPK-SGB IX, Stand 1.2.2010, § 18 RdNr 10 aE; zu Leistungen innerhalb der EU Fuhrmann/Heine NZS 2006, 341, 342, 344). Zwar werden Leistungen zur medizinischen Reha iS von § 11 Abs 2 S 1 SGB V grundsätzlich unter Beachtung des SGB IX erbracht, doch gilt dies nur, soweit im SGB V nichts anderes bestimmt ist (§ 11 Abs 2 S 3 SGB V). § 40 SGB V bestimmt mit der Anbindung an § 111 SGB V für die Anwendbarkeit des § 18 SGB IX in diesem Sinne etwas anderes, nämlich den Ausschluss von den hier betroffenen Auslandseinrichtungen.
2. Der Senat kann mangels hinreichender Feststellungen nicht abschließend über den einzig in Betracht kommenden Anspruch auf Kostenerstattung aus § 18 Abs 1 und 2 SGB V entscheiden. Die Regelung begründet Ansprüche auf Kostenerstattung (dazu a). Ihre Anwendbarkeit ist nicht durch § 40 SGB V ausgeschlossen (dazu b). Der Anspruch scheitert nicht an den bisher vom LSG getroffenen Feststellungen zum allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, da sie verfahrensfehlerhaft und nicht an den materiellen gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen ausgerichtet sind (dazu c). Das LSG wird auch abzuklären haben, dass die Vitiligo der Klägerin überhaupt einen Behandlungsanspruch ausgelöst hat (dazu d).
a) Nach der Rechtsprechung des Senats ermöglicht § 18 SGB V es einer Krankenkasse nicht nur, Kosten einer "notwendigen" (§ 27 Abs 1 S 1 SGB V) "Behandlung einer Krankheit" (Abs 1 S 1) sowie "weitere Kosten für den Versicherten" und Kosten "für eine erforderliche Begleitperson" (Abs 2) ganz oder teilweise zu übernehmen, wenn eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung nur im Ausland möglich ist. Weitergehend lässt die Regelung auch - nach entsprechender vorheriger Antragstellung und (rechtswidriger) Ablehnung der Kostenübernahme durch die Krankenkasse - Kostenerstattung zu (vgl BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 1 RdNr 8 - Auslandsbehandlung nach Petö; BSGE 92, 164 = SozR 4-2500 § 18 Nr 2, RdNr 7; BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 5 RdNr 17 mwN - Kozijavkin III). Die Ausweitung der Rechtsfolge auf Kostenerstattung beruht darauf, dass § 18 SGB V mit dem Anspruch auf Kostenübernahme zunächst den Primärleistungsanspruch auf Krankenbehandlung in den Blick nimmt, wenn qualitätsgerecht lediglich eine Auslandsbehandlung möglich ist. Die Art und Weise, in welcher die Krankenkasse den Primärleistungsanspruch auf Krankenbehandlung erfüllt, bleibt dabei offen. Erfüllung kann sowohl als Leistung in Natur - auf der Basis öffentlich-rechtlicher Verträge nach § 53 SGB X - als auch im Wege der bloßen Kostentragung (Kostenfreistellung oder Kostenerstattung) für eine vom Versicherten selbst organisierte Krankenbehandlung erfolgen. Denn im Ausland kann die GKV nicht umfassend Naturalleistungen anbieten, sondern nur dann, wenn die Krankenkassen die erforderlichen Verträge mit Leistungserbringern geschlossen haben. Nach diesen Grundsätzen wäre ein Erstattungsanspruch der Klägerin für die Therapie in 2008 ausgeschlossen, weil diese vor der ablehnenden Entscheidung der Beklagten erfolgte.
Im Ausnahmefall kann ein Versicherter auch nach Antragstellung bei seiner Krankenkasse Kostenerstattung beanspruchen, obwohl die Krankenkasse den Antrag noch nicht (rechtswidrig) abgelehnt hat. Das Gesetz geht zwar für den Regelfall davon aus, dass Versicherte sich vor Inanspruchnahme der Behandlung im Ausland an ihre Krankenkasse wenden, die Leistung beantragen (§ 19 SGB IV) und die Entscheidung der Krankenkasse hierüber abwarten. Das unterstreicht auch die Wertung des § 18 Abs 3 S 1 SGB V, der eine Vorab-Befassung der Krankenkasse sicherstellt. Das SGB V verpflichtet die Krankenkasse zudem ausdrücklich vor Durchführung der Maßnahme, durch den MDK prüfen zu lassen, ob die begehrte Krankenbehandlung nur im Ausland möglich ist (§ 275 Abs 2 Nr 3 SGB V). Auch für Behandlungen im Ausland gilt daher der Grundsatz, dass der Krankenkasse eine Möglichkeit zur Überprüfung des Leistungsbegehrens einzuräumen ist, bevor dem Versicherten erlaubt wird, sich die benötigte Leistung außerhalb des Sachleistungssystems selbst zu beschaffen (BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 1 RdNr 8 - Auslandsbehandlung nach Petö). Kommt die Krankenkasse ihrer Pflicht aus § 275 Abs 2 Nr 3 SGB V nicht zeitgerecht nach, haben Versicherte dem Rechtsgedanken des § 13 Abs 3 S 1 Alt 1 SGB V entsprechend Anspruch auf Kostenerstattung für selbst beschaffte Krankenbehandlung, die nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nur im Ausland erbringbar ist, wenn die Krankenkasse diese Leistung nicht rechtzeitig erbringt, sie aber nach vollständigem Antrag und umgehender MDK-Überprüfung hätte erbringen können und die Behandlung unaufschiebbar ist. Unaufschiebbarkeit liegt vor, wenn ein Zuwarten dem Versicherten aus medizinischen Gründen unzumutbar ist, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder aus anderen medizinischen Gründen - zB wegen der Intensität der Schmerzen - ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zumutbar ist (zum Begriff der Unaufschiebbarkeit vgl auch BSGE 98, 26 = SozR 4-2500 § 13 Nr 12, RdNr 23 mwN).§ 18 Abs 1 SGB V ist zwar darauf ausgerichtet, Versicherten nach Antrag und Überprüfung zeitgerecht die Krankenbehandlung zu gewähren, die nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nur im Ausland erbringbar ist. Die sich aus § 18 SGB V ergebenden Anforderungen an die Mitwirkungsobliegenheiten des Versicherten sind aber nicht geringer als nach § 13 Abs 3 SGB V.
Selbst wenn die Behandlung aufschiebbar war, ist die Krankenkasse nach Treu und Glauben gehindert, sich darauf zu berufen, dass Versicherte nicht ihre Entscheidung abgewartet haben, wenn sie Versicherte durch Irreführung von ihren Obliegenheiten abgehalten hat (vgl BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15, RdNr 27 f; vgl auch E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung Bd 1, Stand 1.9.2011, § 13 SGB V RdNr 254). In derartigen Fällen kommt es nicht auf die Unaufschiebbarkeit der Behandlung an. Das LSG hat zu beiden Aspekten - von seiner Rechtsauffassung her folgerichtig - keine Feststellungen getroffen. Sowohl der Verfahrensablauf - Antrag im März, MDK-Gutachten im April und Juni, dazwischen Reiseantritt, Ablehnung des Antrags am 2.7.2008 - als auch das Vorbringen der Klägerin, ein zuständiger Mitarbeiter der Beklagten habe ihr ausdrücklich bestätigt, sie könne die Behandlung ohne Rechtsverlust beginnen, geben indes dem LSG bei seiner erneuten Entscheidung Anlass zu weiterer Aufklärung.
b) § 18 SGB V ist auch dann anwendbar, wenn die Klimaheiltherapie eine Leistung zur medizinischen Reha iS von § 40 SGB V und nicht eine sonstige Maßnahme der Krankenbehandlung ist. Zwar begrenzt § 40 SGB V grundsätzlich den Anspruch auf medizinische Reha auf Fälle der wohnortnahen ambulanten Versorgung und der stationären Versorgung in Reha-Einrichtungen, für die ein Versorgungsvertrag nach § 111 SGB V besteht oder zumindest geschlossen werden könnte (vgl oben II. 1. b). Die Regelung ist aber nur an dem Regelfall ausreichender Binnenversorgung ausgerichtet. Besteht dagegen eine qualitative oder quantitative Versorgungslücke, will § 18 SGB V diese auch dann schließen, wenn eine medizinische Reha-Leistung betroffen ist.
c) Ein Kostenerstattungsanspruch der Klägerin nach § 18 SGB V ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil das LSG festgestellt hat, dass eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung nicht nur außerhalb Deutschlands und außerhalb des EWR möglich ist. Diese Feststellung ist für den erkennenden Senat nicht bindend (§ 163 SGG), weil die Klägerin sie mit einer durchgreifenden Verfahrensrüge angegriffen hat: Das LSG hat seine Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) verletzt. Das Tatsachengericht bestimmt im Rahmen seines Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind. Sein Ermessen ist dabei durch die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt. Ein Verstoß gegen § 103 SGG liegt dann vor, wenn das Berufungsgericht sich zu einer weiteren Sachaufklärung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr, vgl zB BSGE 93, 137 = SozR 4-2500 § 137c Nr 2, RdNr 34; BSG Urteil vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen in BSGE und SozR; Hauck in Hennig, SGG, Stand Dezember 2011, § 103 RdNr 86 ff mwN). So liegt es hier.
Das LSG hat nämlich medizinische Kenntnisse für sich in Anspruch genommen, ohne hierüber belegbar zu verfügen. Das LSG hat es als entscheidungserheblich angesehen und trotz des auf den Beweis des Gegenteils gerichteten Antrags der Klägerin verneint, dass die Vitiligo-Behandlung nach Prof Dr Schallreuter dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Hierzu hat es eine aktuelle Veröffentlichung von Prof Dr Schallreuter inhaltlich mit dem Hinweis bewertet, schon aufgrund der geringen Fallzahl, der methodischen Schwächen und des Umstandes, dass die einzige Untersuchung der Behandlungsmethode auf ihre Wirksamkeit von Prof Dr Schallreuter selbst stamme, könne von einem wissenschaftlichen Konsens in Fachkreisen nicht ausgegangen werden. Die Ausführungen des LSG, vorliegend gehe es nicht um die inhaltliche Auswertung und qualitative Bewertung von vorhandenen Studien, sondern um die Frage, ob es entsprechende Untersuchungen überhaupt gebe, belegen weder die für diese Aussage nötigen medizinischen Fachkenntnisse noch deren Entbehrlichkeit.
Neben dem Verstoß gegen die Aufklärungspflicht verletzt das LSG-Urteil auch § 18 Abs 1 S 1 SGB V, weil Feststellungen dazu, dass eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung nur außerhalb Deutschlands und außerhalb des EWR möglich ist, auf breiter Grundlage zu treffen sind. Denn es geht um die Feststellung allgemeiner Tatsachen. Nach der Rechtsprechung des Senats kommt es bei deren Ermittlung in besonderer Weise darauf an, Erkenntnisse auf einer möglichst breiten Grundlage zu gewinnen (vgl BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 5 RdNr 30 - Kozijavkin III). Nur ein solches Vorgehen sichert die von Art 3 Abs 1 GG geforderte Rechtsanwendungsgleichheit, für welche die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses im Inland sorgen. Das LSG wird bei den gebotenen weiteren Ermittlungen hierzu dementsprechend Erkenntnisse mit sachverständiger Hilfe auf einer möglichst breiten Grundlage zu gewinnen haben (vgl beispielhaft zu Möglichkeiten BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 5 RdNr 31 ff - Kozijavkin III).
d) Die Aktenlage, auf die das LSG Bezug genommen hat, legt im Übrigen nahe, dass das LSG Feststellungen dazu trifft, dass die Vitiligo der Klägerin überhaupt einen Behandlungsanspruch ausgelöst hat. Die Klägerin kann nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V Krankenbehandlung nur verlangen, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (stRspr, vgl zB BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 4 mwN; zum Verhältnis zu den Ansprüchen aus dem SGB IX vgl BSGE 98, 277 = SozR 4-2500 § 40 Nr 4, RdNr 18 f, - Adaptionsmaßnahme). Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt.
Um insbesondere eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Anormalität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit auslöst, und damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein (vgl näher BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 13 f mwN).
Sollten die Ermittlungen des LSG ergeben, dass die Klägerin zum Behandlungszeitpunkt an einer - im dargelegten Sinne - behandlungsbedürftigen Erkrankung litt und die in Jordanien vorgesehene Behandlungsmethode zum Behandlungszeitpunkt im aufgezeigten Sinne dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprach, muss es weiter genauer feststellen, dass eine Behandlung mit demselben Behandlungsziel wie dem bei der Klägerin angestrebten zum vorgesehenen Behandlungszeitpunkt in Deutschland oder der EU oder dem EWR allgemein und konkret für die Klägerin unter qualitativen und quantitativen Gesichtspunkten nicht verfügbar bzw zumutbar war (Versorgungsdefizit). Auch insoweit reichen die Feststellungen des LSG für eine Entscheidung nicht aus.
Der Anspruch aus § 18 SGB V ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen eine konkrete medizinische Behandlungsmaßnahme im EU/EWR-Inland überhaupt nicht zu erlangen ist, sondern besteht auch, wenn eine Behandlung zwar dort erfolgen kann, der im EU/EWR-Ausland praktizierten anderen Methode jedoch ein qualitativer Vorrang gegenüber den im EU/EWR-Inland angewandten Methoden gebührt. Letzteres ist der Fall, wenn die begehrte Behandlung der EU/EWR-Inlandsbehandlung aus medizinischen Gründen "eindeutig überlegen" ist (vgl BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 5 RdNr 37 f mwN - Kozijavkin III). Die Überlegenheit kann sich auch im Rahmen eines Vergleichs lediglich symptomatisch behandelnder Therapien ergeben.
3. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2963461 |
NZS 2012, 783 |