Beteiligte
Handelskrankenkasse Bremen |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 20. November 1997 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger war bis zur Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses am 30. Juni 1993 bei der beklagten Krankenkasse als freiwilliges Mitglied mit Anspruch auf Krankengeld versichert. Ab 1. Juli 1993 führte die Beklagte die Versicherung in einer Beitragsklasse ohne Krankengeldanspruch fort. Die Beiträge, für die er ab Juli 1993 selbst hätte aufkommen sollen, zahlte der Kläger nicht. Nach wiederholter Aufforderung und Belehrung über die Rechtsfolgen beendete die Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 23. Dezember 1993 die Mitgliedschaft zum 31. Dezember 1993. Zugleich mahnte sie erneut die Entrichtung der rückständigen Beiträge an. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, er sei am 30. Juni 1993 von seinem behandelnden Urologen Dr. A. wegen eines Leistenbruchs krank geschrieben worden und seither durchgehend arbeitsunfähig gewesen. Ihm stehe deshalb für die Zeit ab 30. Juni 1993 Krankengeld zu. Im Hinblick auf den Krankengeldanspruch sei er ab 1. Juli 1993 beitragsfrei versichert gewesen. Es gebe deshalb keine rückständigen Beitragsforderungen, welche die Beklagte berechtigt hätten, das Versicherungsverhältnis zu beenden.
Die nach Zurückweisung des Widerspruchs erhobene Klage, mit der die Aufhebung des Bescheides und die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Krankengeld ab 30. Juni 1993 begehrt wurde, hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat unter weitgehender Bezugnahme auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils ausgeführt, die Befragung des behandelnden Arztes habe ergeben, daß der Kläger am 30. Juni 1993 lediglich im Hinblick auf die angeblich unmittelbar bevorstehende Operation seines Leistenbruchs krank geschrieben worden sei. Die Operation sei jedoch in Wirklichkeit erst Ende August 1993 durchgeführt worden, so daß auch erst ab diesem Zeitpunkt tatsächlich Arbeitsunfähigkeit bestanden habe.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Ein von ihm am Vorabend der Sitzung per Telefax übermittelter Schriftsatz sei dem zuständigen Senat des LSG erst nach der mündlichen Verhandlung am Vormittag des 20. November 1997 vorgelegt und demzufolge bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt worden. Bei Kenntnis des Schriftsatzes hätte das Berufungsgericht einem darin sinngemäß gestellten Beweisantrag stattgeben und weitere Sachaufklärung betreiben müssen. In der Sache verletze das angegriffene Urteil materielles Recht.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 20. November 1997 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Das angegriffene Urteil verletzt seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Da der Mangel in der Revisionsinstanz nicht geheilt werden kann, muß der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Der Kläger beanstandet mit Recht, daß das LSG seinen am Abend vor dem Verhandlungstermin per Telefax übermittelten Schriftsatz vom 19. November 1997 bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt und über die darin beantragte Terminsverlegung zwecks weiterer Sachaufklärung nicht entschieden hat. Die Gewährung rechtlichen Gehörs bedeutet, daß das Gericht die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muß. Das ist allerdings nicht möglich, wenn eine Äußerung so spät eingeht, daß sie den zur Entscheidung berufenen Richter auch bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang und Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht mehr rechtzeitig erreichen kann. Ein solcher Sachverhalt liegt hier indes nicht vor. Das erwähnte Telefax, das mit einem deutlich hervorgehobenen „Eilt!!”-Vermerk versehen war, ist ausweislich der Empfangskennung am Abend des 19. November 1997 um 19.15 Uhr beim LSG eingegangen. Auch wenn zu dieser Zeit der Dienstbetrieb ruhte, reichte das aus, um das Schriftstück bis zur mündlichen Verhandlung am nächsten Morgen um 9.00 Uhr an den zuständigen Senat gelangen zu lassen. Die Technik der Nachrichtenübermittlung durch Telekopie eröffnet ua die Möglichkeit, fristgebundene Schriftsätze noch kurz vor Ablauf einer Frist oder vor Beginn eines Termins bei Gericht einzureichen. Sie wird deshalb auch besonders zu diesem Zweck genutzt. Im Hinblick darauf muß die Gerichtsverwaltung durch organisatorische Maßnahmen sicherstellen, daß Faxsendungen, die nach Dienstschluß eingehen, am nächsten Tag so rechtzeitig registriert und verteilt werden, daß sie zu den anberaumten Terminen zur Verfügung stehen. Das ist hier nicht geschehen; aus dem auf der Rückseite des Faxausdrucks angebrachten handschriftlichen Vermerk ergibt sich, daß dieser dem Senat erst nach Verkündung des Urteils übergeben worden ist. Zwar ist ein Grund dafür nicht angegeben; darauf kommt es jedoch nicht an, denn der Anspruch auf rechtliches Gehör ist auch ohne Feststellung eines individuellen Verschuldens verletzt, wenn ein rechtzeitig in den Verfügungsbereich des Gerichts gelangtes Schreiben seinen Adressaten nicht erreicht (BSGE 17, 44, 45 = SozR Nr 16 zu § 62 SGG Bl Da6 Rs; BSG SozR 1500 § 160 Nr 31 S 26; BSG SozR 1500 § 62 Nr 17 S 17/18 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
Die angeführte Rechtsverletzung ist für die Entscheidung des LSG auch iS des § 162 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ursächlich gewesen. Rechtserheblich ist ein Verfahrensmangel nicht erst, wenn sich sein Einfluß auf die Entscheidung positiv feststellen läßt. Es genügt vielmehr, wenn das Urteil auf dem Mangel beruhen kann (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), wenn also jedenfalls die Möglichkeit besteht, daß ohne ihn anders entschieden worden wäre. Diese Bedingung ist erfüllt. In dem vom Berufungsgericht übergangenen Schriftsatz hatte der Kläger vorgetragen, daß „Gegengutachten zu den paradoxen Aussagen des Dr. A. ” angefordert worden seien, die wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit noch nicht vorlägen. Dr. A. sei nur in Vertretung tätig geworden und habe die Zusammenhänge nicht gekannt. Auch müßten die Akten der Krankenhäuser beigezogen werden. Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß sich das LSG bei Kenntnis dieser Ausführungen zu weiteren Ermittlungen veranlaßt gesehen hätte.
Da der Kläger rechtliches Gehör nicht zu Rechtsfragen, sondern zu den tatsächlichen Umständen seiner Krankheit begehrt, kann der Verfahrensverstoß in der Revisionsinstanz nicht geheilt werden. Dies zwingt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, das abschließend auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.
Fundstellen
NZS 2000, 267 |
AUR 2000, 79 |
SozSi 2000, 108 |