Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. kein Anspruch auf Brustvergrößerung bei fehlender Brustanlage. allgemeiner Gleichheitssatz
Leitsatz (amtlich)
Versicherte ohne Brustanlage haben keinen Anspruch auf Brustvergrößerung, auch wenn Versicherten nach einer Brustamputation eine Brustrekonstruktion zusteht.
Orientierungssatz
Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 1. Kammer vom 5.10.2017 - 1 BvR 1129/16).
Normenkette
SGB V § 27 Abs. 1 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. September 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten des Verfahrens sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit einer beidseitigen Mamma-Augmentationsplastik (MAP).
Die 1984 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin leidet an dem Camurati-Engelmann-Syndrom (CES), einer autosomal-dominant vererbten Erkrankung, die durch Ossifikationsstörungen geprägt ist. Das CES wirkte sich bei der Klägerin auch in einer deutlichen Verzögerung der Pubertät aus, weshalb die Ärzte die Klägerin ab dem 20. Lebensjahr mit einem Hormonersatzpräparat behandelten. Gleichwohl kam es zu keiner Brustentwicklung (präpubertäre Brust, Tanner-Stadium B2); lediglich die Mamillen entsprechen denen einer erwachsenen Frau. Die Beklagte lehnte nach gutachtlichen Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), die nur eine kosmetische Indikation sahen, die Versorgung der Klägerin mit einer beidseitigen MAP ab (Bescheid vom 24.9.2012, Widerspruchsbescheid vom 24.1.2013). Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Das SG hat die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einer MAP zu versorgen. Eine vollständig fehlende Brustanlage stelle eine behandlungsbedürftige Krankheit dar, weil das geschlechtstypische Erscheinungsbild der Frau schwer beeinträchtigt sei. Auch gebiete der allgemeine Gleichheitssatz, dass Frauen, bei denen es krankheitsbedingt zu keiner Brustentwicklung komme, nicht anders behandelt werden dürften als Frauen, die eine Brustrekonstruktion nach krebsbedingter Brustamputation (Mastektomie) erhielten. Die Kosten letzterer übernähmen aber die KKn, obwohl die Brustrekonstruktion nicht der Behandlung des Brustkrebses diene. Auch verwiesen die KKn die davon betroffenen Frauen nicht auf eine Psychotherapie anstelle der Brustrekonstruktion (Urteil vom 9.9.2015).
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 27 Abs 1 S 1 SGB V. Mit der begehrten MAP würden weder - insoweit nicht vorhandene - körperliche Krankheitsbeschwerden des CES gelindert noch fehlende Körperfunktionen wiederhergestellt oder substituiert. Auch liege keine Entstellung im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung vor. Schließlich handele es sich bei einer Brustrekonstruktion nach vorausgegangener karzinombedingter Mastektomie um einen wesentlich anderen Sachverhalt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum MAP-Anspruch von Mann-zu-Frau-Transsexuellen sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht entsprechend anwendbar.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 9. September 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Beklagte verurteilt, eine beidseitige MAP als Naturalleistung zu gewähren. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen dahingehenden Anspruch.
1. Entgegen der Auffassung des SG stellt eine fehlende Brustanlage nicht schon für sich genommen eine behandlungsbedürftige Krankheit dar. Die fehlende Brustanlage ist zwar eine Krankheit (dazu a), eine MAP ist aber keine geeignete Therapie dieser Krankheit (dazu b). Eine behandlungsbedürftige Entstellung liegt nicht vor (dazu c). Die Brustoperation ist auch zur Behandlung einer - vom SG nicht festgestellten - psychischen Erkrankung nicht notwendig (dazu d). Die Klägerin kann schließlich nach dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) iVm § 27 Abs 1 S 1 SGB V keinen Anspruch deswegen für sich herleiten, weil Versicherte nach krankheitsbedingter, namentlich krebsbedingter Mastektomie einen Anspruch auf Brustrekonstruktion haben (dazu e). Die Voraussetzungen, nach denen Mann-zu-Frau-Transsexuelle Anspruch auf Versorgung mit einer MAP haben, sind hier ohnehin nicht erfüllt (dazu f).
a) Die Klägerin kann nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V Krankenbehandlung verlangen, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 24 RdNr 9; BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 10; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 4; BSGE 85, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 38; BSGE 72, 96, 98 = SozR 3-2200 § 182 Nr 14 S 64, jeweils mwN).
Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt (stRspr, vgl zB BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14 LS und RdNr 13 f; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6; BSGE 93, 94 = SozR 4-2500 § 13 Nr 4, RdNr 16; zu einer Hodenprothese BSGE 82, 158, 163 f = SozR 3-2500 § 39 Nr 5 S 29 f; vgl auch BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f). Die Klägerin ist in der Körperfunktion, Stillen zu können, dadurch beeinträchtigt, dass sie über keine Brust mit Drüsengewebe verfügt (vgl BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 5).
b) Die begehrte Operation dient jedoch nicht dazu, die Funktionsbeeinträchtigung des Stillens zu behandeln. Weder soll die MAP durch fehlendes Drüsengewebe verursachte physiologische Funktionsausfälle beheben noch ist sie dazu objektiv geeignet. Vielmehr soll die MAP lediglich das Erscheinungsbild der Klägerin verändern.
c) Das Erscheinungsbild der Klägerin ist nicht behandlungsbedürftig. Die bei der Klägerin vorhandene anatomische Abweichung wirkt nicht entstellend.
aa) Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Abnormität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass Betroffene ständig viele Blicke auf sich ziehen, zum Objekt besonderer Beachtung anderer werden und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen drohen, sodass deren Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14 LS und RdNr 13; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f).
Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein: Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 14; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6). Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (vgl BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 S 5 f). Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung zB das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 45 S 253 f) oder eine Wangenatrophie (vgl LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 2.5.2002 - L 5 KR 93/01 - KRS 02.021) oder Narben im Lippenbereich angenommen oder erörtert (vgl BSG SozR 3-1750 § 372 Nr 1). Dagegen hat der erkennende Senat bei der Fehlanlage eines Hodens eines männlichen Versicherten eine Entstellung nicht einmal für erörterungswürdig angesehen (vgl BSGE 82, 158, 163 f = SozR 3-2500 § 39 Nr 5) und eine Entstellung bei fehlender oder wenig ausgeprägter Brustanlage unter Berücksichtigung der außerordentlichen Vielfalt in Form und Größe der weiblichen Brust revisionsrechtlich abgelehnt (BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6). Die Feststellung, dass im Einzelfall ein Versicherter wegen einer körperlichen Anormalität an einer Entstellung leidet, ist in erster Linie Tatfrage (vgl BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 6; BSG SozR 3-1750 § 372 Nr 1).
bb) Nach diesen Maßstäben ergibt sich bei der Klägerin keine Behandlungsbedürftigkeit wegen Entstellung. Allerdings hat das SG ausgehend von seiner unzutreffenden Rechtsauffassung, das vollständige Fehlen der weiblichen Brust sei in jedem Fall eine behandlungsbedürftige Krankheit (ähnlich, aber ebenfalls unzutreffend LSG Hamburg Urteil vom 2.5.2012 - L 1 KR 38/10 - Juris RdNr 23: bei Brustasymmetrie aufgrund eines Poland-Syndroms liege immer eine durch Brustaufbau zu behandelnde Krankheit vor), keine ausdrückliche Feststellung dazu getroffen, dass die Klägerin entstellt ist. Dem Gesamtzusammenhang der den Senat bindenden, nicht mit Verfahrensrügen angreifbaren Feststellungen (§ 161 Abs 4, § 163 SGG) des SG ist jedoch zu entnehmen, dass bei der Klägerin eine als Entstellung zu bewertende körperliche Auffälligkeit in Alltagssituationen für außenstehende Dritte nicht zu erkennen ist und damit die Erheblichkeitsschwelle nicht erreicht wird. Das entspricht auch der zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats.
d) Eine mögliche - vom SG im Sinne eines psychischen Leidens nicht festgestellte - psychische Belastung der Klägerin aufgrund ihres Erscheinungsbildes rechtfertigt ebenfalls keinen operativen Eingriff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats können psychische Leiden einen Anspruch auf eine Operation zum Brustaufbau nicht begründen (vgl BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14, RdNr 18; BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3, RdNr 7 ff). Hieran hält der Senat fest. Nichts anderes ergibt sich, wenn die fehlende Brustanlage zwar - wie hier - auch den Ausfall einer körperlichen Funktion mit sich bringt, durch den Eingriff aber nicht die Funktion wiederhergestellt, sondern nur das äußere, nicht entstellte Erscheinungsbild korrigiert werden soll.
e) Entgegen der Ansicht der Klägerin ergibt sich nichts Abweichendes aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) im Hinblick auf Patientinnen, die sich - insbesondere im Rahmen einer Therapie von Brustkrebs - aus kurativen Gründen einer Mastektomie unterziehen und Anspruch auf eine Brustrekonstruktion mittels MAP haben.
Der Gleichheitssatz ist nur dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl BVerfGE 133, 1 RdNr 44 mwN). So verhält es sich hier nicht. Der Anspruch einer Versicherten auf MAP-Versorgung nach Mastektomie etwa aufgrund eines Mammakarzinoms ist darin begründet, dass der Anspruch auf Krankenbehandlung durch ärztliches Handeln vorrangig darauf gerichtet ist, Erkrankte unter Wahrung ihrer körperlichen Integrität zu heilen. Wird zur Behandlung in den Körper eingegriffen, ist dieser möglichst - als Teil der einheitlichen ärztlichen Heilbehandlung - wiederherzustellen, sei es mit körpereigenem oder mit körperfremdem Material. Diese Fälle unterscheiden sich grundlegend von Eingriffen in einen nicht behandlungsbedürftigen natürlichen Körperzustand, um das nicht entstellte äußere Erscheinungsbild zu ändern.
f) Die Rechtsprechung des erkennenden Senats zum Anspruch auf MAP-Versorgung bei Mann-zu-Frau-Transsexualismus ist durch die Besonderheiten dieser gesetzlich besonders geregelten Krankheit geprägt und grundsätzlich nicht auf andere Sachverhalte wie den hier vorliegenden oder auch vergleichbare Fälle mit psychischer Erkrankung übertragbar (vgl nur BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, RdNr 10 ff; offengelassen für die Intersexualität BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 24 RdNr 13).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
WzS 2016, 259 |
ArztR 2016, 116 |
SGb 2016, 268 |
SGb 2016, 660 |
RdW 2016, 566 |
Breith. 2016, 774 |