Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausstattung des Klägers mit einem Rollstuhlboy
Beteiligte
…, Kläger und Revisionsbeklagter |
Allgemeine Ortskrankenkasse Westfalen-Lippe, Dortmund, Nortkirchenstraße 193, Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
G r ü n d e :
I
Der Rechtsstreit wird um die Ausstattung des Klägers mit einem Rollstuhlboy geführt. Hierbei handelt es sich im wesentlichen um ein Fahrrad ohne Vorderrad, das über ein Kupplungsgestänge mit dem Rollstuhl so verbunden wird, daß dieser die Funktion der Lenkeinheit übernimmt. Zusammengebaut kann der Rollstuhl mittels Pedalkraft von einer auf dem Sattel des Rollstuhlboys sitzenden Person fortbewegt werden.
Der im Jahre 1940 geborene Kläger ist Mitglied der Beklagten. Bei ihm bestehen als Folgen einer spinalen Kinderlähmung atrophische Lähmungen und Deformationen der oberen und unteren Extremität; das geistige Niveau des Klägers ist vergleichbar dem eines 8 bis 10jährigen Kindes. Seine Wahrnehmungsfähigkeit ist jedoch nicht gestört. Der Kläger lebt im Haushalt seiner Mutter, die ihn versorgt.
Ein im Juli 1988 gestellter Antrag auf Ausstattung mit einem sogenannten Rollstuhlboy wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 19. Juli 1988 abgelehnt. Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1988) und Klage (Urteil des Sozialgerichts [SG] Detmold vom 25. Oktober 1991) blieben erfolglos. Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) festgestellt, daß der Kläger den Rollstuhlboy zwar schon nutzt; dieser ist ihm jedoch von der Herstellerfirma bislang lediglich kostenlos zur Verfügung gestellt worden. Auf die vom SG zugelassene Berufung des Klägers hat das LSG die angefochtenen Bescheide und das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einem Rollstuhlboy zu versorgen (Urteil vom 21. Januar 1993).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 182b Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw § 33 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Sie vertritt die Auffassung, die Krankenkasse sei nur dann verpflichtet, ein Gerät als Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, wenn es geeignet und notwendig sei. Beide Voraussetzungen träfen auf den Rollstuhlboy nicht zu. Die Eignung als Hilfsmittel fehle dem Rollstuhlboy schon deshalb, weil lediglich eine Erleichterung des Transportes erreicht werde, die nur der Pflegeperson, nicht aber dem versicherten Kläger selbst zugute komme. An der Notwendigkeit fehle es deshalb, weil das Grundbedürfnis nach Fortbewegung beim Kläger schon durch den vorhandenen Faltfahrstuhl erfüllt werde.
Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Januar 1993 aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen. |
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Der Kläger beantragt,
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die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Januar 1993 zurückzuweisen. |
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
1. Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, den Kläger mit einem Rollstuhlboy zu versorgen. Der Kläger hat sowohl nach Maßgabe des bei Erlaß des Widerspruchsbescheides geltenden § 182b RVO als auch nach dem ab 1. Januar 1989 geltenden § 33 Abs 1 SGB V Anspruch auf einen Rollstuhlboy. Im Grundsatz ist bei Verpflichtungs- und Leistungsklage von dem zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung im Gerichtsverfahren geltenden Rechtszustand auszugehen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 54 RdNr 34; Kopp, VwGO, 9. Aufl, § 113 RdNr 95 ff). Hiernach ist § 33 Abs 1 SGB V maßgebend. Das SGB V umfaßt nach seinem Geltungswillen, soweit es Ansprüche einräumt, auch Leistungsansprüche, über die ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren bei seinem Inkrafttreten anhängig ist (unechte Rückwirkung). Das gilt für Ansprüche auf eine wiederkehrende Leistung und für solche auf eine einmalige Leistung in gleicher Weise. Dem steht nicht entgegen, daß in diesen Fällen der Anspruch frühestens zum 1. Januar 1989 entsteht, das Gesundheitsreformgesetz (GRG) sich insoweit also keine echte Rückwirkung beimißt. Demgemäß hat der erkennende Senat in einem Urteil vom 21. November 1991 einen Anspruch auf ein Bildschirmlesegerät, über den das SG durch Urteil vom 22. Januar 1988 und die Beklagte im Widerspruchsbescheid vor diesem Zeitpunkt entschieden hatte, nach § 33 SGB V beurteilt (SozR 3-2500 § 33 Nr 4).
Der 8. Senat des BSG hat allerdings in einem Urteil vom 26. Februar 1991 (SozR 3-2500 § 33 Nr 3), dem sich das LSG angeschlossen hat, in § 182b RVO und nicht in § 33 Abs 1 SGB V die maßgebende Rechtsgrundlage gesehen. Das durch das GRG eingeführte SGB V sei gemäß Art 79 GRG erst am 1. Januar 1989 in Kraft getreten; das GRG habe sich keine Rückwirkung beigelegt. Da der Kläger eine einmalige Leistung begehre, komme es auf den zur Zeit der letzten Verwaltungsentscheidung maßgebenden Rechtszustand an. Der erkennende Senat hatte jedoch keine Veranlassung, beim 8. Senat anzufragen, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält. Denn die abweichende Auffassung des erkennenden Senats ist nicht entscheidungserheblich, da der Hilfsmittelbegriff und die Voraussetzungen des Anspruchs auf Versorgung mit Hilfsmitteln nach § 182b RVO und § 33 Abs 1 SGB V identisch sind.
2. Versicherte haben im Rahmen der Krankenbehandlung (vgl § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V) ua Anspruch auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit es sich nicht um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGB V). Das stimmt mit § 182b Abs 1 Satz 1 RVO wortgleich überein. Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber im SGB V die Hilfsmitteleigenschaft inhaltlich anders als in der RVO regeln wollte, sind nicht ersichtlich. Daß der Kläger bereits einen Rollstuhlboy benutzt, steht der Klage nicht entgegen, da ihm das begehrte Hilfsmittel nur für die Dauer des Verfahrens vom Hersteller leihweise zur Verfügung gestellt worden ist.
Der Rollstuhlboy ist kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Darunter fallen die Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet, dh üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig benutzt werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 5; SozR 2200 § 182b Nr 6). Das Gerät kann bauartbedingt nur in der Kombination mit einem Rollstuhl genutzt werden. Es kommt damit für Gesunde nicht in Betracht. Daß es seiner Funktion nach einem Fahrrad vergleichbar ist, das auch von Gesunden benutzt wird, ist entgegen der Auffassung des SG unerheblich.
Der Rollstuhlboy ist auch erforderlich iS des § 33 SGB V. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 3 und 5) erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen ist dabei auch ein gewisser körperlicher und geistiger Freiraum zu rechnen, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfaßt (BSGE 66, 245, 246 = SozR 3-2500 § 33 Nr 1; vgl auch SozR 2200 § 182b Nrn 12, 29, 33, 34 und 37). Hilfsmittel, die dazu dienen, lediglich die Folgen und Auswirkungen der Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere auf beruflichem, wirtschaftlichem und privatem Gebiet, zu beseitigen oder zu mildern, müssen die gesetzlichen Krankenkassen jedoch nicht zur Verfügung stellen (BSGE 50, 77, 78 = SozR 2200 § 182b Nr 17). Der Begriff der Erforderlichkeit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne ist inhaltlich enger als iS des § 13 Bundesversorgungsgesetz [BVG] (BSG SozR 2200 § 182b Nr 30 und 3100 § 1300 Nr 6) und iS des § 40 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) iVm §§ 9 und 10 Eingliederungshilfe-VO. Das Versorgungsrecht und das Sozialhilferecht gleichen nämlich - im Gegensatz zum Krankenversicherungsrecht - auch die Nachteile aus, die aufgrund einer Behinderung in unterschiedlichen Lebensbereichen auftreten (BSG SozR 2200 § 182b Nr 30). In diesem Zusammenhang ist auf die individuellen Verhältnisse des Betroffenen abzustellen, da § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V die Erforderlichkeit des Hilfsmittels "im Einzelfall" verlangt. Dies entspricht im übrigen der Rechtsprechung zu § 182b RVO (BSG SozR 2200 § 182b Nrn 30 und 37).
Der Rollstuhlboy erweitert nach den nicht mit Verfahrensrügen angegegriffenen Feststellungen des LSG die Nutzungsmöglichkeit des ihm von der Beklagten zur Verfügung gestellten Rollstuhls. Der zusätzlich gewonnene Freiraum rechnet zu den Grundbedürfnissen. Insoweit ist zu berücksichtigen - was noch näher auszuführen ist -, daß der Kläger aufgrund seiner Mehrfachbehinderung nicht über den Freiraum verfügt, der in der Regel durch einen handgetriebenen Rollstuhl eröffnet wird. Zumindest in diesen Grenzen gehört die Bewegungsfreiheit zu den Grundbedürfnissen.
Ob der den Grundbedürfnissen zuzuordnende Bewegungsfreiraum noch darüber hinausgeht, so daß auch ein Versicherter, der seinen Rollstuhl im üblichen Umfang mit den Händen bewegen kann, einen Rollstuhlboy im Falle vorhandener ausreichender Nutzungsmöglichkeiten beanspruchen kann, läßt der Senat offen. Die Spitzenverbände der KKen sehen die Fahrrad-Rollstuhl-Kombination grundsätzlich als Hilfsmittel an, verneinen aber die Notwendigkeit einer Versorgung mit diesem Hilfsmittel, wenn aus medizinischen Gründen lediglich ein Selbstfahrerrollstuhl erforderlich ist (Die Leistungen 1989, 297). Hiernach kommt die Fahrrad-Rollstuhl-Kombination dann nicht als Hilfsmittel in Betracht, wenn der Rollstuhl aus medizinischer Sicht mit eigener Kraft im üblichen Umfang bewegt werden kann. Der Senat neigt allerdings zu der Annahme, daß zwischen dem durch einen Selbstfahrerrollstuhl regelmäßig eröffneten Freiraum und den Entfernungen, die ein Gesunder auch bei eingeschränktem Gesundheitszustand vor allem im ländlichen Bereich zu Fuß zurücklegt, eine Lücke besteht, die ebenfalls noch den Grundbedürfnissen zuzurechnen ist. Die Frage kann hier offen bleiben, weil der Kläger seinen Rollstuhl nicht selbst bewegen kann.
Bei der Erforderlichkeit des beanspruchten Hilfsmittels ist zu berücksichtigen, ob dem Behinderten neben dem handbetriebenen Faltrollstuhl noch ein weiteres, ohne Muskelkraft zu betreibendes Hilfsmittel, etwa ein Elektro-Rollstuhl, zur Verfügung steht, das unter Berücksichtigung der konkreten Betreuungssituation in vergleichbarer Weise geeignet wäre, das beschriebene Grundbedürfnis sicherzustellen (vgl hierzu LSG Niedersachsen, Urteil vom 19. Januar 1994, L 4 Kr 175/93). Der Kläger ist nach dem Gesamtzusammenhang der tatrichterlichen Feststellungen nicht mit einem Elektrorollstuhl versorgt. Die Beklagte bewilligt zwar in den Fällen, in denen der Behinderte einen handbetriebenen Rollstuhl nicht bewegen kann, einen Elektrorollstuhl, soweit dieser vom Versicherten betrieben werden kann. Insoweit erkennt sie im Ergebnis an, daß ein handbetriebener Rollstuhl, der vom Behinderten nicht selbst bewegt werden kann, sondern geschoben werden müßte, zur Befriedigung der Grundbedürfnisse nicht ausreicht. Der Kläger ist indes zur Benutzung eines Elektrorollstuhls nicht in der Lage. Ohne seine geistige Behinderung wäre ihm ein solcher nach der Einlassung der Beklagten bewilligt worden.
Die Bewegungsfreiheit des Klägers bleibt erheblich hinter den Grenzen zurück, die im Regelfall durch einen handbetriebenen Rollstuhl gezogen werden. Das wird durch den Rollstuhlboy teilweise ausgeglichen. Der Kläger ist für die Benutzung des Rollstuhls auf die Hilfe Dritter angewiesen. Der Rollstuhl wird nach dem Klagevorbringen, dem das LSG gefolgt ist, überwiegend von der Mutter des 1940 geborenen Klägers geschoben. Der so eröffnete Freiraum des Klägers ist unter Berücksichtigung des Alters seiner Mutter auf die unmittelbare Hausumgebung beschränkt. Der Rollstuhlboy ermöglicht es, daß der Kläger von seiner Mutter in einem erheblich größeren Radius um seine Wohnung herum ausgefahren werden kann. Der zwar geistig behinderte, jedoch ansonsten in seiner Wahrnehmungsfähigkeit nicht eingeschränkte Kläger kann so nach den Feststellungen des LSG in wesentlich größerem Umfang und auf ganz andere Art und Weise an seiner Umwelt teilnehmen.
Da es sich um die Erfüllung von Grundbedürfnissen handelt, kommt es nicht darauf an, ob das Hilfsmittel unmittelbar am Körper des Behinderten ausgleichend wirkt oder ob der Ausgleich auf andere Weise erzielt wird (BSG SozR 2200 § 182b Nr 12). Die Hilfsmitteleigenschaft hängt auch nicht davon ab, daß die ausgefallene Funktion - hier das Gehen - als solche ersetzt wird. Es genügt, daß ein Mittel Ersatz- oder Ergänzungsfunktionen wahrnimmt (BSGE 50, 77, 78 = SozR 2200 § 182b Nr 17; SozR 2200 § 182b Nrn 25 und 26). Weiter ist nicht erforderlich, daß das Hilfsmittel einen Funktionsausfall vollkommen ausgleicht; es genügt, wenn es schon in Teilbereichen dem Ausgleich körperlicher Funktionen dient. Der Hilfsmitteleigenschaft steht schließlich auch nicht entgegen, daß der Rollstuhlboy vom Kläger nur unter Einschaltung Dritter genutzt werden kann (hierzu eingehend BSG SozR 2200 § 182b Nr 20; vgl zuletzt BSG SozR 3-2200 § 182b Nr 2).
Die Beklagte stellt die Eignung des Rollstuhlboys zu Unrecht deshalb in Abrede, weil dieser nur der Pflegeperson den Transport erleichtere und nicht dem behinderten Kläger zugute komme. Maßgebend ist jedoch, daß der Rollstuhlboy nach den Feststellungen des LSG die Nutzungsmöglichkeiten des Rollstuhls für den Kläger erheblich ausweitet. Die Hilfsmitteleigenschaft entfällt nicht deshalb, weil das Mittel gleichzeitig die Pflege durch Dritte erleichtert (BSG SozR 2200 § 182b Nr 9 und 20).
Die Ausrüstung des Klägers mit diesem Gerät entspricht zudem dem Gebot der Wirtschaftlichkeit, dem in der gesetzlichen Krankenversicherung auch die Versorgung mit Hilfsmitteln genügen muß (§ 12 Abs 1 SGB V). Ein weniger aufwendiges Hilfsmittel steht unter Beachtung der Behinderung und der Lebenssituation des Klägers nicht zur Verfügung. Ausgehend von den Tatsachenfeststellungen des LSG müssen die Gebrauchsvorteile des Rollstuhlboys für den Kläger zudem als nicht unwesentlich eingestuft werden (zur Bedeutung der Kosten-Nutzen-Relation bei Hilfsmitteln, vgl im einzelnen BSG SozR 2500 § 33 Nr 4). Es ist auch sichergestellt, daß der Behinderte das Hilfsmittel nutzen kann. Bei einem Hilfsmittel wie dem Rollstuhlboy, das der Behinderte nicht selbst bedienen kann, setzt dies voraus, daß für einen längeren Zeitraum eine für die Bedienung geeignete Betreuungsperson zur Verfügung steht. Das LSG hat auch diese Voraussetzung der Wirtschaftlichkeit geprüft und festgestellt, daß die Mutter des Klägers den Eindruck vermittelt, zur Bedienung des Rollstuhlboys in der Lage zu sein. Diese Feststellungen sind von der Beklagten nicht mit Revisionsrügen angegriffen worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen