Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der Kläger, der den erlernten Beruf eines Maurers noch ausübt, stellte am 11. November 1976 einen Rentenantrag, den die Beklagte mit Bescheid vom 4. Februar 1977 ablehnte. Den gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch des Klägers, dem die Widerspruchsstelle der Beklagten nicht stattgeben wollte, wurde dem Sozialgericht (SG) gemäß § 85 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage zugeleitet.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 12. September 1978 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Klägers mit Urteil vom 9. Februar 1981 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, obwohl der Kläger die Tätigkeit eines Maurers auf Kosten seiner Gesundheit verrichte, sei er nicht berufsunfähig. Er könne noch die Tätigkeiten eines Galerieaufsehers, Schloßaufsehers oder Museumswächters jeweils mit der Befugnis, Eintrittsgelder zu kassieren, sowohl nach seinem Gesundheitszustand als auch nach seinem Wissen und Können ausüben. Diese Tätigkeiten seien einem früheren Facharbeiter zumutbar, denn sie seien in der Lohngruppe V des Tarifvertrages über das Lohngruppenverzeichnis zum Manteltarifvertrag der Arbeiter der Länder vom 11. Juli 1966 (Amtsblatt für Schleswig-Holstein 1966, 476 ff.) gleichbedeutend mit angelernten Tätigkeiten erwähnt. Der Aufgabenbereich dieser Tätigkeiten ergebe sich aus einer - in einem anderen Verfahren eingeholten - Auskunft des Landesarbeitsamtes. Eine über eine kurze Einweisungszeit hinausgehende Ausbildung oder besondere berufliche Vorkenntnisse des Bewerbers seien nicht vorgesehen und würden auch nicht verlangt. Zwar gehe aus dieser Auskunft auch hervor, daß nur selten derartige Arbeitsplätze dem freien Wettbewerb zur Verfügung ständen und eine nähere Eingrenzung mangels statistischer Unterlagen nicht möglich sei. Gleichwohl sei davon auszugehen, daß im gesamten Bereich der Bundesrepublik Deutschland eine nennenswerte Zahl solcher Arbeitsplätze - seien sie frei oder besetzt - vorhanden seien. Häufig würden derartige Arbeitsplätze ohne Einschaltung der Arbeitsverwaltung vermittelt. Die Tarifpartner pflegten nur solche Arbeitsplätze zu erfassen, die in nennenswerter Zahl vorhanden seien.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, die vom LSG genannten Verweisungstätigkeiten seien einem früheren Facharbeiter nicht zumutbar. Es handele sich nicht um sonstige Ausbildungsberufe, sondern um sogenannte Randberufe i.S. des § 2 Abs. 4 des Lohngruppenverzeichnisses. Diese Tätigkeiten seien daher auch nur unter "ferner" in der Lohngruppe V aufgeführt. Sie seien deshalb auch nicht ohne weitere Ermittlungen über ihren sonstigen qualitativen Wert den "gehobenen ungelernten Tätigkeiten" gleichzusetzen, auf die ein Facharbeiter verwiesen werden könne. Dafür spreche auch die Tatsache, daß sie ohne Vorkenntnisse lediglich aufgrund der zur Ausübung eines Facharbeiterberufs notwendigen Begabung innerhalb von drei Monaten vollwertig ausgeübt werden könnten. Es spreche vieles dafür, daß die Tätigkeiten nur wegen des mit der Inkassofunktion verbundenen Risikos in die Lohngruppe V eingestuft worden seien. Die Feststellung des LSG, der Kläger sei in der Lage, die genannten Tätigkeiten zu verrichten, sei fehlerhaft zustandegekommen, weil die Feststellung fehle, welche Anforderungen die Tätigkeiten an das Können und die gesundheitlichen Kräfte stellen. Im übrigen sei eine unterschiedslose und ausschließliche Verweisung von erwerbsgeminderten Facharbeitern, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben können, auf die seltenen Tätigkeiten eines Galerie-, Museums- oder Schloßaufsehers des öffentlichen Dienstes unzulässig. Eine solche Verweisung würde im Ergebnis dazu führen, daß es die Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht mehr gibt. Tätigkeiten der genannten Art seien selbst im Bereich des öffentlichen Dienstes äußerst selten anzutreffen. Sie blieben als Aufstiegstätigkeiten den eigenen bewährten Mitarbeitern aus der geringeren Lohngruppe vorbehalten, so daß die Besetzung einer freigewordenen gehobenen Stelle durch einen betriebsfremden Arbeiter so gut wie gar nicht vorkomme.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Februar 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Berufsunfähigkeitsrente unter Zugrundelegung des Versicherungsfalles seit dem 11. November 1976 zu zahlen;
hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
II
Die zulässige Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Nach den unangegriffenen und damit für den Senat bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG kann der Kläger die bisherige Berufstätigkeit eines Maurers nicht mehr ausüben. Zwar ist der Kläger noch im erlernten Beruf tätig. Er verrichtet ihn aber auf Kosten der Gesundheit. Die tatsächliche Arbeitsleistung steht daher der Feststellung der gesundheitlich bedingten Unfähigkeit nicht entgegen. Zwar ist die tatsächliche Arbeitsleistung ein Beweismittel, das u.U. die von einem medizinischen Sachverständigen angenommene Unfähigkeit widerlegen kann. Abgesehen davon, daß dies dann nicht gilt, wenn die Arbeitsleistung auf Kosten der Gesundheit erbracht wird, ist im vorliegenden Fall die vom LSG festgestellte Unfähigkeit zur Verrichtung der erlernten Tätigkeit eines Maurers auch nicht angegriffen worden, so daß sie für den Senat bindend ist (§ 163 SGG).
Das LSG hat zu Recht angenommen, daß die Tätigkeiten eines Galerieaufsehers, Schloßaufsehers oder Museumswächters mit der jeweiligen Befugnis, Eintrittsgelder zu kassieren, einem früheren Facharbeiter i.S. des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO qualitativ zumutbar sind. Sie sind im Tarifvertrag über das Lohngruppenverzeichnis zum Manteltarifvertrag für Arbeiter der Länder vom 11. Juli 1966 ebenso wie im Änderungstarifvertrag Nr. 7 vom 10. September 1980 (Amtsblatt für Schleswig-Holstein 1981, 26) in der Lohngruppe V aufgeführt, in der sich sonst angelernte Berufstätigkeiten (sonstige Ausbildungsberufe) befinden, auf die ein bisheriger Facharbeiter grundsätzlich verweisbar ist (ebenso bereits hinsichtlich des sogenannten "gehobenen Pförtners" im öffentlichen Dienst: Bundessozialgericht -BSG- in SozR 2200 § 1246 Nrn. 84 und 86). Die unter "ferner" aufgezählten Tätigkeiten gehören allerdings nicht zu den sonstigen Ausbildungsberufen, denn sonst hätte es ihrer Erwähnung unter "ferner" nicht bedurft. Es handelt sich vielmehr um andere, ungelernte Tätigkeiten, die tariflich den sonstigen Ausbildungsberufen dieser Tarifgruppe durch ihre Einstufung gleichgestellt sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist die tarifliche Einstufung einer Tätigkeit ein wertvolles Indiz für ihre Qualität (vgl. BSGE 51, 135 = SozR 2200 § 1246 Nr. 77 m.w.N.). Im allgemeinen ist davon auszugehen, daß die tarifliche Einstufung auf der Qualität der Tätigkeit beruht. Es gibt zwar durchaus Fälle, in denen für die tarifliche Einstufung qualitätsfremde Merkmale maßgebend waren. Dafür müssen aber besondere Anhaltspunkte vorhanden sein. Das trifft im vorliegenden Fall nicht zu. Weder der Vortrag des Klägers noch die Feststellungen des Berufungsurteils lassen erkennen, daß die tarifliche Einstufung auf konkreten, qualitätsfremden Merkmalen beruht. Insbesondere kann die Inkassobefugnis nicht als eine qualitätsfremde, lediglich erschwerende Funktion angesehen werden. Das LSG brauchte sich daher nicht gedrängt zu fühlen, weitere Ermittlungen über die Qualität der Verweisungstätigkeiten anzustellen.
Zwar darf auf die genannten Tätigkeiten grundsätzlich nur dann verwiesen werden, wenn der Versicherte zu deren vollwertiger Ausübung allenfalls eine Einweisungs- und Einarbeitungszeit bis zu drei Monaten benötigt (ebenso bereits BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn. 84 und 86), wovon bei der bloßen Begabung für die bisherige Facharbeitertätigkeit nicht allgemein ausgegangen werden kann (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 5b RJ 36/82 m.w.N.). Das LSG hat jedoch hier rechtsfehlerfrei festgestellt, der Kläger könne die genannten Verweisungstätigkeiten verrichten. Die gegen diese Feststellung gerichteten Angriffe des Klägers sind unbegründet. Das LSG hat aufgrund der beigezogenen Auskunft des Landesarbeitsamtes die Anforderungen der genannten Tätigkeiten an das gesundheitliche und berufliche Leistungsvermögen verfahrensfehlerfrei festgestellt und diese mit der vorhandenen Leistungsfähigkeit des Klägers verglichen. Dabei hat es die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht überschritten.
Wenn danach zwar feststeht, daß der Kläger noch einige, einem früheren Facharbeiter zumutbare Tätigkeiten verrichten kann, so läßt sich doch nicht abschließend beurteilen, ob damit seine Berufsunfähigkeit ausgeschlossen ist. Auch auf zumutbare Berufstätigkeiten kann ein Versicherter dann nicht verwiesen werden, wenn insoweit der Arbeitsmarkt verschlossen ist. Das Erfordernis des Vorhandenseins einer nicht unbedeutenden Zahl von Arbeitsplätzen gilt grundsätzlich auch bei der Fähigkeit des Versicherten zu Vollzeittätigkeiten (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16. Oktober 1981 - 5b RJ 36/81 -). Allerdings hat die Rechtsprechung insoweit die Vermutung aufgestellt, daß es für die von Tarifverträgen erfaßten Vollzeittätigkeiten einen ausreichenden Arbeitsmarkt gibt (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn. 19, 22, 30, 78). Diese Vermutung kann aus besonderen Gründen ganz entfallen (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 82) oder im konkreten Fall widerlegt werden. Im allgemeinen werden die Tatsachengerichte keine Feststellungen darüber zu treffen brauchen, wie viele der in Tarifverträgen genannten Arbeitsplätze vorhanden sind. Legen aber besondere Umstände die Annahme nahe, daß solche Arbeitsplätze trotz ihrer tariflichen Erfassung nur in geringer Zahl vorkommen, so wird sich das Tatsachengericht gedrängt fühlen müssen, Ermittlungen und Feststellungen zur Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze zu treffen. Es kann durchaus vorkommen, daß eine nur noch vereinzelt vorkommende Tätigkeit im Tarifvertrag genannt ist, etwa weil versäumt worden ist, sie nach Rückgang der Arbeitsstellen zu streichen, oder weil die Tarifpartner ausnahmsweise die Aufnahme einer nur vereinzelt vorkommenden Tätigkeit aus bestimmten Gründen für geboten hielten.
Im vorliegenden Falle hätte das LSG sich aus verschiedenen Gründen gedrängt fühlen müssen, Ermittlungen und Feststellungen zur Zahl der - besetzt oder unbesetzt - vorhandenen Arbeitsplätze einerseits und der potentiellen und geeigneten Bewerber für solche Arbeitsplätze andererseits zu treffen. Das LSG ist selbst mit der Auskunft des Landesarbeitsamtes davon ausgegangen, daß entsprechende Arbeitsplätze dem Arbeitsmarkt nur selten zur Verfügung stehen. Zwar ist für die Zulässigkeit einer Verweisung im Rahmen des § 1246 Abs. 2 RVO nach der Rechtsprechung des BSG nicht entscheidend, daß Arbeitsplätze dieser Art nicht durch das Arbeitsamt vermittelt, sondern vorwiegend innerbetrieblich an besonders verdiente Belegschaftsmitglieder vergeben werden, es sei denn, daß es sich um typische Schonarbeitsplätze für leistungsgeminderte Betriebsangehörige handelt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16. Oktober 1981 a.a.O. m.w.N.). Die Seltenheit der Verweisungstätigkeiten bezieht sich aber nicht nur auf die Vermittlung durch die Arbeitsämter, sondern sie ergibt sich ganz allgemein auch aus der Art dieser Tätigkeiten. Nicht jede Stadt verfügt über Galerien, Schlösser oder Museen und über entsprechende Arbeitsplätze. Hinzu kommt noch, daß sich die Auskunft des Landesarbeitsamtes ganz allgemein auf Schloß-, Museums- und Galerieaufseher bezieht, also auch die für den Kläger nicht zumutbaren Tätigkeiten ohne Inkassobefugnis (Tarifgruppe IV) umfaßt. Schloß-, Museums- und Galerieaufseher unterhalb der Tarifgruppe V sind dem Kläger ebensowenig zumutbar wie die gleichartigen Tätigkeiten, die nur im Wege des Bewährungsaufstiegs dieser Tarifgruppe zugeordnet werden (vgl. hierzu BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 17). Von den verbleibenden zumutbaren Tätigkeiten eines Galerie-, Schloß- oder Museumswächters mit Inkassobefugnis müssen überdies solche Tätigkeiten für eine Verweisung ausscheiden, die für einen berufsfremden Facharbeiter nicht als Eingangsstellen in Betracht kommen, sondern lediglich für bewährte Mitarbeiter der geringeren Tarifstufen als Aufstiegspositionen im Wege der Beförderung oder Höherstufung vergeben werden (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16. Oktober 1981 a.a.O.). Es ist beim vorliegenden Sachverhalt daher naheliegend zu prüfen, wieviele der ohnehin wenigen Arbeitsplätze durch diejenigen besetzt werden, die in der gleichen Grundtätigkeit als Aufseher vorher bereits in der Tarifgruppe IV längere Zeit beschäftigt waren und aufgrund dieser einschlägigen Berufserfahrung für eine Tätigkeit in der Gruppe V vor anderen Bewerbern regelmäßig bevorzugt werden. Insbesondere aus diesem Gesichtspunkt könnte sich für den Kläger eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes ergeben.
Die aufgezeigten Umstände sind jedenfalls geeignet, Zweifel an dem Vorhandensein einer hinreichenden Zahl von Arbeitsplätzen zu wecken, so daß das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, Ermittlungen und Feststellungen darüber zu treffen. Solche Ermittlungen sind nicht schon deshalb von vornherein aussichtslos, weil nach der Auskunft des Landesarbeitsamtes Statistiken bei der Bundesanstalt für Arbeit darüber nicht erstellt werden. Es ist durchaus möglich, daß die Tarifpartner oder die entsprechenden Verwaltungsstellen der Länder Auskunft über die Zahl der vorhandenen Arbeitsstellen geben können.
Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen sowie zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Das LSG wird auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben.5b RJ 16/81
Bundessozialgericht
Verkündet am 8. September 1982
Fundstellen