Beteiligte
1) …, 2) …, Kläger und Revisionsbeklagte |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Streitig ist die von den Klägern nach § 152 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) begehrte Rücknahme zweier bindender Verwaltungsalte für die Vergangenheit, mit denen die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) aufgrund einer vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) für nichtig erklärten Gesetzesvorschrift Arbeitslosenhilfe (Alhi) versagt hatte.
Die Kläger sind miteinander verheiratet. Der vom Kläger zu 1) gestellte Antrag auf Alhi wurde von der BA mit bindendem Bescheid vom 31. März 1932 nach § 139 AFG alter Fassung (aF) abgelehnt, da die Ehefrau Alhi beziehe und ihr der höhere Betrag zustehe. Ohne Anwendung des § 139 AFG aF hätte der Arbeitslosenhilfe-Anspruch wöchentlich 238,20 DM betragen.
Desgleichen wurde aufgrund des § 139 AFG aF ein Antrag der Klägerin zu 2) auf Alhi mit bindendem Bescheid vom 31. Mai 1983 abgelehnt.
Mit Beschluß des BVerfG vom 10. Juli 1984 (BVerfGE 67, 135 SozR 4100 § 139 Nr 1) wurde (§ 139 Satz 1 und 2 AFG für nichtig erklärt. Der Kläger zu 1) beantragte daraufhin im November 1984 Rücknahme des Ablehnungsbescheides vom 31. März 1982 und Alhi für die Zeit vom 9. April bis zum 30. September 1982, die Klägerin zu 2) im Dezember 1984 Rücknahme des Bescheides vom 31. Mai 1983 und Alhi für den Zeitraum vom 2. Mai 1983 bis zum 1. Mai 1984. Die Beklagte lehnte beide Anträge ab (Bescheid vom 2. Januar 1985; Widerspruchsbescheid vom 8. März 1985; Bescheid vom 2. Januar 1985; Widerspruchsbescheid vom 8. März 1985). Die hiergegen erhobenen Klagen hat das Sozialgericht (SG) verbunden und abgewiesen (Urteil vom 24. September 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Kläger die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, die Anträge der Kläger auf Aufhebung der Bescheide vom 31. März 1982 und vom 31. Mai 1983 unter Beachtung der Rechtsauffassung das Gerichts zu bescheiden. Zur Begründung hat es ausgeführt, § 79 Abs 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) regele die Rechtsfolge der Nichtigkeitserklärung. Danach solle zwar die Bestandskraft der dort bezeichneten Verwaltungsakte erhalten bleiben, ihnen aber keinesfalls durch Verdrängung der gesetzlichen Aufhebungsmöglichkeiten eine gesteigerte Bestandskraft verschafft werden. Die Vorschrift müsse auch dann zurückstehen, wenn die für ein bestimmtes Rechtsgebiet geltenden Vorschriften über die Wiederaufnahme den Anspruch auf sachliche Überprüfung und Korrektur eines Hoheitsaktes trotz Unanfechtbarkeit auch für den Fall gäben, daß die Anerkennung des Anspruchs zu einer massenweisen Überprüfung rechtsbeständiger Verwaltungsakte führe (Hinweis auf Steiner in Festgabe aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des BVerfG, erster Band - 1976 -, S 628, 649).
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung der §§ 79 BVerfGG, 44 und 43 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, die Anträge der Kläger auf Rücknahme der Bescheide vom 31. März 1982 und von 31. Mai 1933 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Berufung der Kläger war zulässig. Sie betraf zwei Ansprüche auf Alhi für jeweils mehr als 13 Wochen (§ 144 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), wie das LSG zutreffend angenommen hat. Zwar ergibt der Berufungsantrag nicht ohne weiteres, für welchen Zeitraum die Kläger Rücknahme und Neubescheidung der die Alhi ablehnenden Bescheide erstrebten. Nach dem Gesamtzusammenhang kann damit aber nur beim Kläger zu 1) die Zeit vom 9. April bis zum 30. September 1982 und bei der Klägerin zu 2) die Zeit vom 2. Mai 1983 bis zum 1. Mai 1984 gemeint sein, für die die Kläger vor dem SG die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Alhi beantragt hatten.
Der Übergang von der in der ersten Instanz erhobenen Leistungsklage zur Klage auf Neubescheidung des Antrags auf Rücknahme der Alhi-Ablehnung ist keine Klageänderung, sondern nur eine Klagebeschränkung. Wären die Kläger bei ihren ursprünglichen Anträgen verblieben, so hätten ihre Klagen nur insoweit abgewiesen werden dürfen, als sie mit dem Leistungsantrag über den Bescheidungsanspruch hinausgingen (vgl SozR 1300 § 43 Nr 31). Im übrigen wäre auch bei Annahme einer Klageänderung diese zulässig, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat.
Die Ablehnung der Rücknahme in den Bescheiden vom 2. Januar 1985, vom 3. März 1985 und vom 11. März 1985 war rechtswidrig. Nach § 152 Abs 1 AFG idF des Gesetzes vom 13. August 1980 (BGBl I S 1469) kann ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt ganz oder teilweise auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt und der Senat am 24. Februar 1987 (SozR 1300 § 44 Nr 26) entschieden hat. Der Gesetzgeber hat dies mit einer Äderung des § 152 Abs 1 AFG durch das Achte Änderungsgesetz vom 14. Dezember 1987 - 8. AFG-ÄndG - (BGBl I S 2602) mit Wirkung vom 1. Januar 1988 klargestellt, nach dem sich der Anspruch auf Rücknahme nunmehr richtet.
Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig, weil sie ohne Ausübung des Ermessens die Rücknahme ablehnen. Die gesetzlichen Voraussetzungen des Rücknahmeermessens nach § 152 Abs 1 AFG sind gegeben. § 79 Abs 2 BVerfGG steht der Anwendung dieser Vorschrift nicht entgegen.
Die Beklagte hat die Ansprüche der Kläger auf Alhi in den Bescheiden, deren Rücknahme begehrt wird, rechtswidrig verneint. Ohne Anwendung des § 139 Satz 1 AFG hätte dem jeweils betroffenen Kläger Alhi zugestanden. Im Tatbestand des Berufungsurteils ist festgehalten, nach den Feststellungen der Beklagten hätte der Arbeitslosenhilfe-Anspruch des Klägers zu 1) vom 10. April 1982 an 238,20 DM wöchentlich betragen. Das ist nach dem Gesamtzusammenhang im Sinne einer eigenen Feststellung des Berufungsgerichts zu verstehen. Die zwischen Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung nicht unterscheidende Form reicht aus, weil dies zwischen den Beteiligten unstreitig ist und der Gesamtzusammenhang keine Zweifel an einer richtigen Rechtsanwendung begründet. Auch bei der Auslegung, daß die Alhi ohne § 139 Satz 1 AFG aF wöchentlich 238,20 DM nicht als Endsumme, sondern als Tabellensatz betragen hätte, ergibt sich noch ein Restzahlbetrag (von 49,60 DM), so daß die Alhi nicht vollständig hätte versagt werden dürfen. Zum zweiten Zeitraum vom 2. Mai 1983 bis zum 1. Mai 1984 fehlt die Feststellung, welcher Tabellensatz der Klägerin zu 2) zugestanden hätte. Sie hatte zuletzt nach dem Tatbestand des LSG-Urteils ab 1. Juli 1982 Alhi in Höhe von 275,40 DM wöchentlich bezogen, so daß auch bei Anrechnung der vom Ehemann damals bezogenen Alhi (etwa 211,-- DM) eine vollständige Versagung nicht in Betracht kommt. Überdies haben die Beteiligten übereinstimmend erklärt, daß die Arbeitslosenhilfe jeweils auch unter Berücksichtigung der vom Ehegatten bezogenen Leistung nicht Null betrage.
Da das BVerfG mit Gesetzeskraft § 139 Satz 1 und Satz 2 AFG für nichtig erklärt hat (BVerfGE 67, 186 = SozR 4100 § 139 Nr 1), waren beide Bescheide bei ihrem Erlaß rechtswidrig. Dafür ist ohne Bedeutung, ob die Beklagte bei Erlaß ihrer Bescheide vom 31. März 1982 und vom 31. Mai 1983, also vor dem Ergehen des Beschlusses des BVerfG vom 10. Juli 1934, überhaupt berechtigt war, § 139 AFG wegen Verfassungswidrigkeit nicht anzuwenden, da Art 100 Grundgesetz (GG) nur den Gerichten, nicht aber der Verwaltung die Vorlage an das BVerfG ermöglicht (vgl hierzu Kopp, Das Gesetz- und Verordnungsprüfungsrecht der Behörden, DVBl 1983, 821 ff, der sich unter Hinweis auf zahlreiche Gegenstimmen für ein solches Prüfungsrecht ausspricht). Denn auch die Auffassung, die ein Prüfungsrecht der Behörden verneint, erkennt an, daß der aufgrund der verfassungswidrigen Vorschrift erlassene Verwaltungsakt, wenn er fristgemäß angefochten wird, nach Vorlage an das BVerfG und Nichtigerklärung der Gesetzesvorschrift als rechtswidrig aufzuheben ist. § 44 SGB 10 meint die Rechtswidrigkeit, die im Falle rechtzeitiger Anfechtung zur Aufhebung aufgrund des Rechtsbehelfs führt. Die Rechtswidrigkeit im Sinne der Aufhebung auf einen Rechtsbehelf hin kann nicht anders umschrieben werden, als die Rechtswidrigkeit im Sinne der Voraussetzung für eine Rücknahme nach § 44 SGB 10. Unter beiden Blickwinkeln wirkt die Nichtigerklärung nach dem BVerfGG in der Weise zurück, daß der Verwaltungsakt als von Anfang an rechtswidrig zu behandeln ist. Der in § 79 BVerfGG getroffenen Regelung liegt stillschweigend die Annahme zugrunde, daß dann, wenn das Bundesverfassungsgericht gemäß § 78 BVerfGG ein Gesetz "für nichtig erklärt", dieser Entscheidung rückwirkende Kraft zukommt. Das gilt entsprechend für die vom BVerfG entwickelte "Unvereinbarkeitserklärung". Stellt das BVerfG fest, daß eine gesetzliche Regelung wegen eines Verstoßes gegen Art 3 Abs 1 GG mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, so ist der Gesetzgeber bei einer Neuregelung gehalten, auch für die Vergangenheit eine den Grundsätzen des allgemeinen Gleichheitssatzes entsprechende Regelung zu erlassen (BVerfGE 55, 100 ff = SozR 2600 § 60 Nr 2).
Damit sind die Voraussetzungen, unter denen die Beklagte nach § 152 AFG iVm § 44 SGB 10 nach pflichtgemäßem Ermessen über die Rücknahme für die Vergangenheit zu entscheiden hat, für beide Bescheide erfüllt. Nach § 79 Abs 2 BVerfGG bleiben jedoch nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer vom BVerfG gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Im Schrifttum ist umstritten, ob die nach § 44 SGB 10 gebotene Korrektur eines rechtswidrigen unanfechtbaren Verwaltungsaktes nach § 79 BVerfGG entfällt, wenn die Rechtswidrigkeit auf der Anwendung eines verfassungswidrigen und nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Gesetzes beruht. Die Beklagte folgt unter Hinweis auf Rudlof (Kompass 1987, 165 ff) der Auffassung, § 79 BVerfGG enthalte zwar den Vorbehalt "besonderer Regelung". Das beziehe sich indes nur auf spezielle Übergangsvorschriften für die jeweils für nichtig erklärte Gesetzesvorschrift und dürfe nicht als Blankettermächtigung verstanden werden. Nach der überwiegenden Auffassung bleibt die Rücknahme nach § 44 SGB 10 auch in Fällen der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes aufgrund der Anwendung einer vom BVerfG für nichtig erklärten verfassungswidrigen Gesetzesvorschrift von § 79 BVerfGG unberührt (Tannen, Kompass 1987, 458 ff, von Einem SGb 1986, 143, 150; wohl auch Steiner, Wirkungen der Entscheidungen des BVerfG auf rechtskräftige und unanfechtbare Entscheidungen in Festgabe aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des BVerfG, erster Band, 628, 648 ff; Heußner NJW 1982, 257, 258 speziell zu den Folgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ohne Nichtigerklärung).
Die geltende Regelung des § 79 Abs 2 Satz 1 BVerfGG ist in mehrfacher Hinsicht problematisch und klärungsbedürftig, wie das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) dargelegt hat (BVerwGE 57, 311, 318). Die Entscheidung des BVerwG betrifft eine isolierte gerichtliche Kostenentscheidung, wobei das Gesetz, das die Erledigung des Rechtsstreits bewirkt hatte, nach Erlaß der Kostenentscheidung vom BVerfG für nichtig erklärt worden war. Zum Problemkreis gehört auch ein Herstellungsanspruch, wenn ein Berechtigter aufgrund eines später vom BVerfG für nichtig erklärten Gesetzes einen Antrag nicht gestellt (hierzu BSGE 29, 186) oder einen gestellten Antrag auf entsprechende Empfehlung der Behörde zurückgenommen hat (vgl BSG SozR 3100 § 44 Nr 11) oder wenn Beiträge aufgrund einer später für verfassungswidrig erklärten Norm unwirtschaftlich entrichtet wurden (SozR 2200 § 1407 Nr 2). Auch insoweit geht es um die Reichweite des vom BVerfG dem § 79 BVerfGG entnommenen allgemeinen Rechtsgrundsatzes, daß eine Entscheidung des BVerfG, mit der eine Vorschrift für nichtig erklärt wird, grundsätzlich keine Auswirkung auf abgewickelte Rechtsbeziehungen hat, von der Ausnahme eines rechtskräftigen Strafurteils abgesehen (BVerfG MDR 1972, 483 = SGb 1972, 309). Einzubeziehen ist ferner, ob es einen Unterschied macht, wenn das BVerfG die Norm für nichtig erklärt, nur die Verfassungswidrigkeit feststellt oder aber die zur Prüfung gestellte einfach-gesetzliche Vorschrift in verfassungskonformer Weise auslegt (zur Anwendung des § 79 BVerfGG auf den letztgenannten Tatbestand BVerfGE 20, 230 ff).
Zu dieser Problematik ist hier nur zu entscheiden, daß die Verpflichtung zur Korrektur rechtswidriger Verwaltungsakte nach § 152 AFG im Bereich des Arbeitsförderungsrechts ebenso wie die im Bereich des Sozialrechts allgemein nach § 44 SGB 10 von § 79 Abs 2 BVerfGG nicht eingeschränkt wird. § 152 AFG modifiziert die allgemeine Rücknahmeregelung in § 44 SGB 10 dahin, daß auch in den Fällen des § 44 Abs 1 SGB 10 die Rücknahme für die Vergangenheit nicht verbindlich vorgeschrieben wird, sondern im Ermessen der Beklagten steht. Dieser Unterschied ist für die Konkurrenz mit § 79 BVerfGG ohne Bedeutung. Weder § 44 SGB 10 insgesamt, noch die Sonderregelung in § 152 AFG können als "besondere gesetzliche Regelung" im Sinne des Vorbehalts in § 79 Abs 2 BVerfG aufgefaßt werden. Der Vorbehalt betrifft nur gesetzliche Übergangsvorschriften, die wegen der Verfassungswidrigkeit einer Gesetzesvorschrift erlassen werden. In diesem Sinne ist der Vorbehalt auch bisher verstanden worden; er wurde nicht auf die Regelung der Rücknahme in § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG), der nunmehr durch die allgemeine Regelung des § 44 SGB 10 abgelöst ist, bezogen (BSG Urteil vom 2. Juni 1970 - 10 RV 534/63 - MDR 1970, 1044).
Gleichwohl gehen die allgemeine Rücknahmeregelung des § 44 SGB 10 und die besondere Ausformung in § 152 AFG dem § 79 Abs 2 BVerfGG vor, einmal aufgrund des Vorrangs des jüngeren Gesetzes, das hinsichtlich eines älteren Gesetzes keine Einschränkung enthält, aber auch, weil § 79 Abs 2 BVerfGG die Bestandskraft rechtswidriger Verwaltungsakte, wie sie sich aus den allgemeinen Regeln über die Rücknahme rechtswidriger unanfechtbarer Verwaltungsakte ergibt, nicht erweitert.
Der § 79 BVerfGG beruht auf der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Entscheidung des Gesetzgebers, bei der Behandlung von rechtskräftigen Urteilen und nicht mehr anfechtbaren Verwaltungsakten, die eine vom BVerfG für verfassungswidrig erklärte Norm zur Grundlage haben, dem Gedanken der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens Vorrang vor jenem des Rechtsschutzes des einzelnen zu geben (BVerfGE 11, 263, 265; 20, 230, 235). Die einfach-gesetzlich in § 79 BVerfGG gefundene Lösung ist zwar verfassungsrechtlich zulässig, aber keineswegs verfassungsrechtlich geboten (BVerfGE 20, 230, 236). Der Gesetzgeber war daher nicht gehindert, in späteren Gesetzen eine andere, der materiellen Gerechtigkeit stärker Rechnung tragende Lösung zu finden. Das ist in § 44 SGB 10, der für belastende Verwaltungsakte die Bestandskraft nach Eintritt der Unanfechtbarkeit regelt, geschehen. Das SGB 10 vom 18. August 1980 enthält keinen Vorbehalt, daß § 79 Abs 2 BVerfGG vom 12. März 1951 Vorrang haben soll. Ein Vorrang des § 79 BVerfGG kann insbesondere nicht auf den Gedanken der Spezialität gestützt werden. Der § 79 BVerfGG betrifft zwar nicht alle rechtswidrigen Sozialverwaltungsakte, sondern nur diejenigen, deren Rechtswidrigkeit auf der Anwendung eines für verfassungswidrig erklärten Gesetzes beruht. Da jedoch § 79 BVerfGG alle Verwaltungsakte und Urteile betrifft, § 44 SGB 10 aber speziell nur Sozialverwaltungsakte, kann eher § 44 SGB 10 als Spezialvorschrift zu § 79 BVerfGG aufgefaßt werden (so etwa Heußner, NJW 1982, 257, 258). Der Gesamtzusammenhang der in den §§ 44 bis 49 SGB 10 getroffenen Regelung spricht nicht für einen Vorrang des § 79 BVerfGG, sondern schließt diesen im Gegenteil eher aus. § 44 SGB 10 knüpft allein an die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes an. Auf die Vermeidbarkeit des Fehlers oder auf ein Verschulden der Behörde kommt es nicht an. Das schließt die Annahme aus, der Gesetzgeber habe beim Vollzug eines verfassungswidrigen Gesetzes der Behörde keinen Vorwurf machen und deshalb § 79 BVerfGG unangetastet lassen wollen. Aus der Autorität des Gesetzgebers kann auch nicht abgeleitet werden, daß ein verfassungswidriges Gesetz den Rechtskreis des einzelnen allenfalls im Grenzbereich, und damit am Rande und minderschwer berühre. Ist eine Gesetzesvorschrift verfassungswidrig, weil sie Grundrechte verletzt, so ist im Gegenteil eine objektiv besonders schwerwiegende Rechtswidrigkeit gegeben. § 44 SGB 10 greift auch ein, wenn die Behörde ein verfassungswidriges Gesetz nach der Entscheidung des BVerfG noch angewandt hat. Insoweit ist kein Grund ersichtlich, der den Gesetzgeber veranlaßt haben könnte, für diesen Fall die Rücknahme vorzusehen, sie aber auszuschließen, wenn die Entscheidung des BVerfG erst später ergeht. Das BVerfG wendet § 79 BVerfGG entsprechend an, wenn es die verfassungskonforme Auslegung einer Gesetzesvorschrift für notwendig erklärt (BVerfGE 20, 230). Mit dem Sinn des § 44 SGB 10 wäre es auch nicht zu vereinbaren, eine rückwirkende Korrektur für geboten zu erachten, wenn bereits das BSG eine verfassungskonforme Auslegung vorschreibt, sie aber als nach § 79 BVerfGG ausgeschlossen anzusehen, wenn erst das BVerfG zu einer solchen Auslegung gelangt.
Auch die Gesetzesmaterialien enthalten keinen Hinweis darauf, da8 der Gesetzgeber von einem Vorrang des § 79 BVerfGG ausging. Rudlof (Kompass 1983, 206, 203) weist zwar darauf hin, § 46 Abs 1 Satz 2 des Entwurfs eines SGB 10 sei wegen Widerspruchs zu § 79 BVerfGG aufgegeben worden. Richtig ist, daß der im Entwurf vorgesehenen Regelung, wonach ein Verwaltungsakt im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben ist, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlaß des Verwaltungsaktes, vom Bundesrat unter Hinweis auf § 79 Abs 2 Satz 1 BVerfGG widersprochen worden war (BT-Drucks 3/2024 auf S 15). Die Vorschrift ist jedoch trotz des Widerspruchs als § 48 Abs 2 SGB 10 Gesetz geworden, und zwar mit dem weiteren Halbsatz, daß § 44 SGB 10 unberührt bleibe. Die Rechtsprechung hat hieraus geschlossen, daß § 48 Abs 2 SGB 10 eine rückwirkende Zugunstenregelung nach § 44 SGB 10 nicht ausschließe (BSGE 57, 209; SozR 1300 § 44 Nr 16). Da die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes allein aus der Sicht des Überprüfungsverfahrens zu beurteilen ist und die Vertretbarkeit der damaligen Rechtsauffassung unerheblich bleibt, ist auf eine Rechtsprechungsänderung in aller Regel § 44 SGB 10 anwendbar. Dieser Sinnzusammenhang verbietet es, durch Annahme eines Vorrangs des § 79 BVerfGG nur bei Entscheidungen des BVerfG eine Korrektur auszuschließen.
Im übrigen könnte selbst dann, wenn dem § 79 BVerfGG ein Vorrang einzuräumen wäre, dieser Vorschrift nicht entnommen werden, daß die Bestandskraft eines unanfechtbaren rechtswidrigen Verwaltungsaktes, dessen Rechtswidrigkeit auf der Anwendung einer wegen Verfassungswidrigkeit nichtigen Gesetzesvorschrift beruht, stärker sein soll als die eines aus anderen Gründen rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Auf einen solchen Inhalt des § 79 BVerfGG deuten weder der Gesetzeswortlaut noch der Sinn der Vorschrift bei Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien hin. 1951, bei Erlaß der Vorschrift, konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, daß ein rechtswidriger unanfechtbarer Verwaltungsakt, der den Bürger belastete, ähnlich wie ein rechtskräftiges Urteil bestandskräftig blieb. Es ging damit vorrangig um die Frage, ob für die Rechtswidrigkeit aufgrund der Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes eine Ausnahme von der Bestandskraft gemacht werden sollte. Nur das hat das Gesetz verneint. Die spätere Rechtsentwicklung, die den zunächst nur in einzelnen Bereichen des Sozialrechts bestehenden Anspruch auf eine Zugunstenregelung ständig erweitert hat und schließlich mit der Schaffung des § 44 SGB 10 zu einem Abschluß gekommen ist, hatte § 79 BVerfGG noch nicht vor Augen. Das schließt die Annahme aus, der Gesetzgeber habe eine solche spätere Entwicklung für den Bereich des verfassungswidrigen Gesetzes in § 79 BVerfGG ausschließen wollen. Im Gesetzgebungsverfahren war in § 72a des Entwurfs eines BVerfGG zunächst die Lösung vorgesehen, daß ein Verwaltungsakt nichtig ist, wenn weder dem Begünstigten noch einem Dritten hieraus ein Rechtsanspruch erwachsen ist (vgl Schiffers, Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit, Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, Düsseldorf 1934, S 344). Hierzu war streitig, ob die Entscheidung des BVerfG zurückwirken sollte oder nicht (Schiffers, aaO Fußnote 3). Nach dem Entwurf der SPD-Fraktion sollte das BVerfG seinem Urteil rückwirkende Kraft verleihen und bestimmen können, ob und unter welchen Voraussetzungen die Wiederaufnahme anderer, bereits rechtskräftig abgeschlossener Verfahren zulässig sei (BT-Drucks 1/328 § 43). Die Nichtigkeit der betroffenen Verwaltungsakte wurde bei der Beratung aber als "unmöglich" angesehen; äußerstenfalls sollte daran zu denken sein, solche Verwaltungsakte zu widerrufen (Schiffers, aaO S 364); zumindest sei dabei eine Ausschlußfrist nötig (aaO S 365). Die spätere Gesetzesfassung war ein Kompromiß. Der Vorschlag, für Ansprüche gegen die öffentliche Hand eine Ausnahme vorzusehen, fand im Ausschuß keine Mehrheit (aaO S 272). Damit fehlt jeder Anhalt, daß die Bestandskraft rechtswidriger Verwaltungsakte bei der Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes gegenüber der Normalregelung verstärkt werden sollte. Streitig war vielmehr, ob die Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes als besonders schwerer Fehler angesehen werden und deshalb zur Nichtigkeit führen sollte.
Dem Vorrang des § 44 SGB 10 steht die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 79 BVerfGG nicht entgegen. Das BSG hat zwar in der bereits angeführten Entscheidung, befunden, eine allgemeine Regelung der Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte wie etwa in § 40 KOV-VfG sei keine "besondere gesetzliche Regelung" (BSG Urteil vom 2. Juni 1970 - 10 RV 534/153 - MDR 1970, 1044; zustimmend Schulin SGb 1980, 561, 562). Dem hat sich der 9. Senat angeschlossen (BSG Urteil vom 9. Mai 1979 - 9 RV 20/78 - SGb 1980, 558 mit insoweit zustimmender Anmerkung von Schulin aaO). Dabei blieb ausdrücklich offen, ob das auch für § 44 SGB 10 gelte. Der 10. Senat hat in seiner Entscheidung einen Herstellungsanspruch bejaht, wenn die Behörde aufgrund einer später vom BVerfG für nichtig erklärten Vorschrift von der Stellung eines Antrages abgeraten habe; § 79 BVerfGG stehe nicht entgegen, da der Rechtsnachteil noch auf anderen Gründen als auf der Verfassungswidrigkeit beruhe. Abgesehen davon, daß auch die Unrichtigkeit der Beratung auf der Verfassungswidrigkeit beruht, widerspricht das Urteil des 10. Senats jedenfalls im Ergebnis nicht der Auffassung des erkennenden Senats, daß § 79 BVerfGG die normalen Korrekturmöglichkeiten bei Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes nicht einschränken soll.
Die Revision der Beklagten ist daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen