Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 11.01.1991) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 1991 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Die im Jahre 1939 geborene Klägerin arbeitete bis 1961 in der elterlichen Landwirtschaft und im Jahre 1967 für ca 8 Wochen als Aufsteckerin. Sie ist Mutter von sechs Kindern; die letzten zwei Kinder wurden im Jahre 1976 geboren. Seit 16. Oktober 1987 ist die Klägerin geschieden.
Den im März 1987 gestellten Antrag auf Versichertenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 20. Juli 1988 ab mit der Begründung, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rentenanspruch lägen nicht vor. Zwar habe die Klägerin im Wege des Versorgungsausgleiches die Wartezeit von 60 Kalendermonaten erfüllt, jedoch seien in der Zeit vom 1. März 1982 bis 28. Februar 1987 keine Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet worden. Die Monate von Januar 1984 bis Dezember 1986 seien weder mit einem Beitrag noch mit einer gleichgestellten Zeit belegt (§ 1247 Abs 2a iVm § 1246 Abs 2a Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫). Bei einer vor dem 1. Juli 1984 eingetretenen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sei keine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt worden. Die Zeiten der Kindererziehung könnten dabei nicht berücksichtigt werden, weil am 31. Dezember 1983 die gesetzlichen Voraussetzungen noch nicht vorgelegen hätten. Klage und Berufung der Klägerin gegen diesen Bescheid blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Dortmund ≪SG≫ vom 23. Januar 1990, Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen ≪LSG≫ vom 11. Januar 1991). Das LSG hielt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 1246 Abs 2a Satz 1 Nr 1, 1247 Abs 2a RVO für nicht erfüllt, weil die Klägerin zu keiner Zeit Pflichtbeiträge entrichtet habe. Die im Rahmen des Versorgungsausgleichs übertragenen Rentenanwartschaften seien keine Pflichtbeiträge, wobei unerheblich sei, daß sie aus der Pflichtversicherung ihres geschiedenen Ehemannes stammten. Die Voraussetzungen der Übergangsvorschrift des Artikels 2 § 6 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) seien ebenfalls nicht erfüllt. Die Anrechenbarkeit der Kindererziehungszeiten sei nur für Versicherungsfälle nach dem 30. Dezember 1985 vorgesehen. Die Klägerin habe ab 1. Januar 1984 keine Beiträge mehr entrichtet. Die übertragene Rentenanwartschaft aus dem Versorgungsausgleich könne nicht berücksichtigt werden, weil das Ende der Ehezeit nach dem 1. Januar 1984 liege (Hinweis auf BSGE 61, 271 = SozR 2200 § 1304c Nr 1).
Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Klägerin mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision. Sie trägt vor, für die Anrechenbarkeit der übertragenen Rentenanwartschaften könne nicht auf das Ende der Ehezeit abgestellt werden. Dies sei der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht zu entnehmen. Entscheidend sei vielmehr, für welchen Zeitraum die der Übertragung der Rentenanwartschaft zugrunde liegenden Beiträge entrichtet worden seien. Im vorliegenden Fall würden auch vor dem 1. Januar 1984 liegende Zeiträume umfaßt. Die übertragene Rentenanwartschaft sei der Entrichtung von Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung gleichzustellen, weil sie im vorliegenden Fall auf Pflichtbeiträgen des Versicherten beruhe. Damit seien auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt. Die gegenteilige Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 1246 Nr 166) sei zu überdenken und anders auszulegen. Die Klägerin müsse als Ausgleichsberechtigte dem Ausgleichspflichtigen hinsichtlich der Entrichtung von Beiträgen und dem Zurücklegen von Versicherungszeiten gleichgestellt werden.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten vom 20. Juli 1988 die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Erwerbsunfähigkeitsrente ab 1. April 1987 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie erklärt sich unter Aufgabe ihrer früheren Rechtsauffassung bereit, die Rechtsprechung des BSG hinsichtlich des Zeitpunktes der Übertragung der Rentenanwartschaft erweiternd auf den vorliegenden Fall, in dem das Ende der Ehezeit nach dem 31. Dezember 1983 liegt, mit der Folge anzuwenden, daß ein Rentenanspruch bestehen könne, falls der Versicherungsfall in der Zeit vom 1. Januar 1984 bis 30. Juni 1984 eingetreten sei, hält jedoch im übrigen das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Zur Gewährung einer Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit muß nach Maßgabe des Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG für die ab dem 1. Januar 1984 eingetretenen Versicherungsfälle nicht nur die Wartezeit von 60 Kalendermonaten erfüllt sein, sondern es müssen darüber hinaus nach den §§ 1246 Abs 2a, 1247 Abs 2a RVO in den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles mindestens 36 Pflichtbeiträge entrichtet worden sein. Der Zeitraum von 60 Kalendermonaten kann durch die in den §§ 1246 Abs 2a Satz 2, 1247 Abs 2a Satz 2 RVO genannten Zeiten verlängert werden (Streckungszeiten).
Diese gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nicht. Sie hat nach dem 1. Januar 1984 keine Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet und keine Streckungszeiten zurückgelegt. Ihr wurden lediglich im Rahmen der Ehescheidung Rentenanwartschaften im Wege des Versorgungsausgleichs übertragen. Nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 1246 Nr 166; ebenso BSG, Urteil vom 19. April 1990 – 1 RA 63/89 –) sind jedoch die im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen und begründeten Rentenanwartschaften nicht den mit eigenen Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegten Zeiten gleichzustellen.
Der Senat sieht keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Ersichtlich wollte der Gesetzgeber nur den Versicherten eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente zukommen lassen, die zeitnah vor Eintritt des Versicherungsfalls im Erwerbsleben standen und Pflichtbeiträge entrichtet haben. Die Lohnersatzfunktion der Rente sollte im Vordergrund stehen. Diese Voraussetzungen werden durch übertragene Anwartschaften aus einem Versorgungsausgleich nicht belegt. Dieser hat keine Lohnersatzfunktion, sondern dient dem Ausgleich der von den Eheleuten während der Ehezeit begründeten Versorgungsanwartschaften. Ohne die Scheidung hätte die Klägerin keinen Anspruch auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gehabt. Wollte man den Versorgungsausgleich Pflichtbeiträgen gleichstellen, dann wäre die Klägerin hinsichtlich des Zugangs zur Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente gegenüber Verheirateten insofern begünstigt, als sie die besonderen Voraussetzungen des § 1246 Abs 2a RVO nicht zu erfüllen braucht. Für diese Ungleichbehandlung verheirateter Frauen gegenüber geschiedenen ist ein sachlich vertretbarer Grund nicht zu erkennen.
Indessen kann ein Rentenanspruch aufgrund der Übergangsvorschrift des Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG bestehen. Hiernach genügt es für die bis zum 30. Juni 1984 eingetretenen Versicherungsfälle, wenn der Versicherte vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat. Diese Voraussetzung hat die Klägerin im vorliegenden Fall durch die Übertragung von Rentenanwartschaften im Wege des Versorgungsausgleichs erfüllt. Allerdings sind die Rentenanwartschaften nicht vor diesem Zeitpunkt, sondern erst im Zusammenhang mit der Scheidung im Jahre 1987 auf die Klägerin übertragen worden. Sie sind jedoch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1984 anzurechnen und stehen dort, bezogen auf die Voraussetzungen von Art 2 § 6 Abs 2 Satz 1 Nr 1 ArVNG, eigenen Versicherungszeiten der Klägerin gleich. Art 2 § 6 Abs 1 Satz 1 Nr 1 ArVNG dient, anders als § 1246 Abs 1 und 2a RVO, nicht dazu, eine eigene zeitnahe Beziehung des Versicherten zur Rentenversicherung sicherzustellen. Er will vielmehr diejenigen schützen, die bereits vor dem 1. Januar 1984 durch Erfüllung der Anwartschaft für eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente eine gefestigte Rechtsposition erworben haben. Dementsprechend hat das BSG bereits entschieden, daß in Fällen, in denen die übertragenen Versorgungsanwartschaften aus der Zeit vor dem 1. Januar 1984 stammten, diese als vor diesem Zeitpunkt zurückgelegte eigene Versicherungszeiten anzusehen sind (BSGE 61, 271, 273).
In Fällen wie dem vorliegenden und dem vom BSG (aaO) entschiedenen, in denen die Scheidung nach dem 31. Dezember 1983 stattgefunden hat, hat allerdings eine Übertragung vor dem 1. Januar 1984 nicht stattgefunden, so daß zu diesem Zeitpunkt noch keine 60 Monate Versicherungszeit zurückgelegt waren. Es ist jedoch durch den Zweck des Versorgungsausgleichs und aus Gründen der Gleichbehandlung geboten, auch Versorgungsanwartschaften, die später übertragen wurden, zu berücksichtigen, wenn und soweit die übertragenen Anwartschaften auf Versicherungszeiten vor dem 1. Januar 1984 beruhen und der Versicherungsverlauf der Antragstellerin in der Zeit vom Beginn der Ehe bis 31. Dezember 1983 hinreichende Lücken enthält.
Der Versorgungsausgleich trägt dem Gedanken Rechnung, daß beide Ehepartner gemeinsam die in der Ehe aufgebauten Invaliditäts- und Alterssicherungen erwirtschaftet haben. Insoweit ist es im Rahmen von Art 2 § 6 Abs 2 Satz 1 Nr 1 ArVNG geboten, die im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen Anwartschaften wie eigene Versicherungszeiten zu behandeln, die in der Zeit der Ehe erworben wurden. Dies gilt auch bei einer späteren Übertragung; denn dadurch wird eine schon während der Ehe im Keim angelegte Teilhabe realisiert. Dieser Punkt ist deshalb zu Recht im vorliegenden Verfahren auch nicht mehr umstritten.
Die Ehezeit der Klägerin lag weit überwiegend vor dem 1. Januar 1984; ihr Versicherungsverlauf enthält in dieser Zeit umfangreiche Lücken. Unter Anwendung obiger Grundsätze wären dadurch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Art 2 § 6 Abs 2 Satz 1 Nr 1 ArVNG erfüllt. Dementsprechend besteht ein Rentenanspruch, wenn der Versicherungsfall der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bei der Klägerin bis zum 30. Juni 1984 eingetreten ist (Art 2 § 6 Abs 2 Satz 2 ArVNG). Hierzu hat das LSG von seiner Rechtsauffassung aus keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Diese sind nachzuholen.
In diesem Zusammenhang kommt es auf die Anrechenbarkeit von Kindererziehungszeiten nicht mehr an, weil die Wartezeit allein durch die übertragenen Rentenanwartschaften erfüllt ist.
Nach allem war auf die Revision der Klägerin das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen