Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff des Unterhalts
Leitsatz (amtlich)
Zum Unterhalt iS von AVG § 42 (= RVO § 1265) zählen nicht Aufwendungen für die Alterssicherung.
Leitsatz (redaktionell)
1. Unterhaltscharakter haben nur diejenigen Zahlungen, die der Bestreitung der Lebensführung des Empfängers und damit der Deckung seines laufenden Lebensbedarfs dienen.
2. Sinn und Zweck der Rente an die geschiedene Frau nach AVG § 42 (= RVO § 1265) ist es, den gegenwärtigen Lebensbedarf zu befriedigen, nicht aber, wegfallende Zuwendungen für eine spätere Alterssicherung der geschiedenen Frau zu ersetzen.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; BGB § 844 Fassung: 1896-08-18, § 1361 Fassung: 1976-06-14, § 1578 Fassung: 1976-06-14, § 1360a Fassung: 1957-06-18; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20; AVG § 42 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 09.12.1976; Aktenzeichen L 6 An 804/75) |
SG Kassel (Entscheidung vom 25.07.1975; Aktenzeichen S 2 An 122/74) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. Dezember 1976 wird aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die 1919 geborene Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Ihre Ehe mit dem Versicherten wurde 1961 aus dessen Verschulden geschieden. Der Versicherte hat danach die Beigeladene geheiratet; 1973 ist er gestorben.
Vor der Ehescheidung hatten der Versicherte und die Klägerin vereinbart, daß der Versicherte für den Fall, daß die Klägerin ein höheres Monatseinkommen als 1.000,- DM habe, ihr monatlich 200,- DM zahle unter der Voraussetzung, daß sie davon wenigstens 100,- DM für ihre Alterssicherung verwende. Die Klägerin war im Jahre vor dem Tode des Versicherten gegen ein monatliches Nettoeinkommen von 1.300,- bis 1.400,- DM beschäftigt; sie hatte Lebensversicherungsverträge mit einer monatlichen Prämienbelastung von etwa 100,- DM abgeschlossen. Der Versicherte hat die vereinbarten Zahlungen regelmäßig geleistet.
Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Rente an die Klägerin ab. Die Klage hatte im ersten Rechtszug keinen Erfolg. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte zur Zahlung der Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Versicherte habe der Klägerin im letzten Jahre vor seinem Tode in Höhe von monatlich 200,- DM "Unterhalt" geleistet; zum Unterhalt gehörten - entgegen der Ansicht des früheren Reichsgerichts - auch Beiträge zur Zukunftssicherung. Aufwendungen dieser Art seien vorweggenommene Unterhaltsleistungen; sie müßten daher den Aufwendungen zur Deckung des gegenwärtigen Lebensbedarfs gleichgestellt werden. Die Klägerin habe Anlaß zu dieser Vorsorge gehabt; sie würde in der Rentenversicherung bis zur Altersgrenze nur 30 Versicherungsjahre bei durchschnittlichem Einkommen zurückgelegt und wegen der Wiederheirat des Versicherten nur eine geminderte Hinterbliebenenrente zu erwarten haben. Monatliche Zuwendungen von 200,- DM seien der Höhe nach geeignet, einen Anspruch nach § 42 AVG zu begründen.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte und die Beigeladene haben dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragen sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Sie sind der Ansicht, daß die für die Alterssicherung der Klägerin bestimmten Leistungen keinen Unterhalt iS von § 42 Satz 1 AVG darstellen, weil sie nicht der Bestreitung des unmittelbaren gegenwärtigen Lebensbedarfs gedient hätten. Dies werde durch die Regelungen des 1. Ehereformgesetzes (EheRG) bestätigt, das nur in einigen Fällen und insoweit auch nur für die Zukunft Beiträge zur Alterssicherung in die Unterhaltspflicht nach geschiedener Ehe einbeziehe. Nach Meinung der Beigeladenen ist den Zahlungen insgesamt der Unterhaltscharakter bereits deshalb abzusprechen, weil die zugrunde liegende Vereinbarung gerade einen fehlenden Unterhaltsanspruch der Klägerin voraussetze.
Die Klägerin beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen sind insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Nach § 42 Satz 1 AVG wird der früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahre vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Das LSG hat die Voraussetzungen der 3. Alternative dieser Vorschrift - tatsächliche Unterhaltsleistung - bejaht. Seine Ansicht findet aber in den bisher getroffenen Feststellungen keine ausreichende Stütze.
Zwar haben die gezahlten Beträge von 200,- DM der Höhe nach 25 vH des notwendigen Mindestbedarfs der Klägerin erreicht (vgl BSGE 22, 44; SozR 2200 § 1265 Nrn 4 und 24). Diese Zahlungen stellen jedoch entgegen der Auffassung des LSG nur insoweit Unterhalt dar, als sie nicht für den Aufbau einer Alterssicherung der Klägerin bestimmt waren.
Unterhaltscharakter haben grundsätzlich nur diejenigen Zahlungen, die der Bestreitung der Lebensführung des Empfängers (BSGE 12, 279, 281) und damit der Deckung seines laufenden Lebensbedarfes dienen (SozR Nr 19 zu § 1265 RVO). Allerdings kann auch das Bedürfnis, für das Alter vorzusorgen, als ein laufendes, dh gegenwärtiges Bedürfnis verstanden werden, wenn schon derzeit Mittel zu seiner Befriedigung aufzuwenden sind. Deswegen müssen diese Aufwendungen aber nicht in jedem Falle dem Unterhalt zugerechnet werden. Die derzeitigen Aufwendungen ändern nichts daran, daß die Altersvorsorge erst auf die Deckung eines künftigen Lebensbedarfs abzielt. Demgemäß hatte das Reichsgericht (RG) entschieden, daß sich der laufende Unterhalt nicht auf Ausgaben für die Alterssicherung erstreckt, solche Aufwendungen würden von einem Unterhaltsanspruch nicht umfaßt (RGZ 152, 356, 359; 165, 219, 221). Der Bundesgerichtshof (BGH) billigt demgegenüber bei der Anwendung von § 844 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) der Witwe eines Getöteten die Aufwendungen für eine angemessene Alterssicherung als Teil des ihr entgangenen Unterhalts zu; er tut das jedoch nur, weil in bestehender Ehe für eine dauerhafte - und also auch für eine künftige - Sicherung des Familienunterhalts zu sorgen ist (Lindenmaier/Möhring Nrn 2 und 11 zu § 844 Abs 2 BGB; BGHZ 32, 246, 249). Damit ist der Standpunkt des RG zwar abgemildert; er ist aber nicht generell und nicht einmal grundsätzlich aufgegeben. Die in der Literatur vertretenen Meinungen sind insoweit nicht einheitlich und zum Teil widersprüchlich (vgl einerseits: Gernhuber, Lb.d.Familienrechts, 2. Aufl, 1971, S. 192; Hoffmann/Stephan, EheG, 2. Aufl, 1968, Rdnr 36 zu § 58; Soergel/Siebert/Donau, BGB, 10. Aufl, 1971, Rdnr 10 zu § 58 EheG; BGB-RGRK, 10. Aufl, 1968, Rdnr 28 zu § 58 EheG; Erman/Ronke, BGB, 6. Aufl, 1975, Rdnr 10 zu § 58 EheG; andererseits: Soergel/Siebert/Lange, Rdnr 3 zu § 1360a; Erman/Heckelmann, Rdnr 4 zu § 1360a; vgl ferner Bastian/Roth-Stielow/Schneideck, 1. EheRG, 1978, Rdnr 9 zu § 1578 BGB). Selbst nach dem seit dem 1. Juli 1977 geltenden Recht hat der Gesetzgeber die Kosten einer angemessenen Versicherung für den Fall des Alters nur unter bestimmten Voraussetzungen bei getrennt lebenden und bei geschiedenen Eheleuten in den Unterhalt einbezogen (vgl § 1361 Abs 1 Satz 2 BGB: "gehören zum Unterhalt" und § 1578 Abs 3 BGB: "gehören zum Lebensbedarf"). Das zeigt, daß die Frage nach dem Unterhaltscharakter solcher Ausgaben sich nach bürgerlichem Recht nicht eindeutig beantworten läßt und daß sie nicht immer einheitlich beantwortet werden muß.
Indessen kommt es für die Auslegung des Begriffs der Unterhaltsleistung iS von § 42 AVG nicht entscheidend darauf an, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Aufwendungen zur Alterssicherung nach bürgerlichem Recht dem Unterhalt zuzurechnen sind; maßgebend kann nur sein, ob Sinn und Zweck dieser Vorschrift es rechtfertigen, solche Leistungen des Versicherten hier als Unterhalt zu behandeln. Das ist zu verneinen.
Die Rente nach § 42 (Satz 1) AVG wird gewährt, weil der Versicherte seine frühere Ehefrau im letzten Jahr vor dem Tode unterhalten hat oder zur Zeit seines Todes zu unterhalten hatte, diese Leistung oder Verpflichtung aber mit dem Tode des Versicherten weggefallen ist (BSGE 22, 44, 46); insofern hat die Rente Unterhaltsersatzfunktion und dient sie dem Schutz vor den Folgen dieses Versicherungsfalles (Todes). Die Hinterbliebenenrente hat aber nicht die Aufgabe, die geschiedene Frau zugleich vor den Folgen weiterer möglicher Wechselfälle in ihrem Leben zu schützen und ihr hierzu den Auf- oder Ausbau einer eigenen Alterssicherung zu ermöglichen. Die Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG soll wie die übrigen Renten der gesetzlichen Rentenversicherung immer nur einen gegenwärtigen Lebensbedarf befriedigen. Demgemäß wird auch die Hinterbliebenenrente der geschiedenen Frau - sofern sie sich nicht wieder verheiratet - bis an ihr Lebensende gewährt; die Rente ist unabhängig von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit und demgemäß auch unabhängig von dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Der Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG kann deshalb nicht außerdem die Funktion zukommen, wegfallende Zuwendungen für eine spätere Alterssicherung der geschiedenen Frau zu ersetzen. Im übrigen knüpft § 42 AVG allein an die zur Zeit des Todes des Versicherten oder im letzten Jahr vor seinem Tode gegebenen Unterhaltsverhältnisse an; dem würde es ebenfalls widersprechen, wenn bei den Leistungsvoraussetzungen für die Hinterbliebenenrente ein aus damaliger Sicht erst künftiger (ungewisser) Lebensbedarf mitberücksichtigt würde.
Damit kommt es für die Erfüllung der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG darauf an, ob der Monatsbetrag von 100,- DM, der nicht für Zwecke der Alterssicherung bestimmt war, als ein ausreichender Unterhalt im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist. Das hat das LSG zwar möglicherweise verneinen wollen, weil es nur dann der Prüfung bedurfte, ob auch die Zahlung der weiteren 100,- DM für die Alterssicherung Unterhaltscharakter hatte; das LSG hat aber dazu keine näheren Ausführungen gemacht, aus denen das Revisionsgericht die erforderlichen Feststellungen entnehmen könnte. Insoweit ist zwar unerheblich, ob die Klägerin ein eigenes, für ihre Lebensführung ausreichendes Einkommen hatte (vgl BSGE 12, 279, 281). Das Urteil des LSG läßt jedoch Zweifel daran, ob ein monatlicher Betrag von 100,- DM im letzten Jahre vor dem Tode des Versicherten der Höhe nach 25 vH des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs der Klägerin erreicht hat oder nicht (vgl SozR 2200 § 1265 Nr 24).
Die fehlenden Feststellungen kann das Bundessozialgericht nicht selbst treffen. Unter diesen Umständen ist, da das Berufungsurteil auch hinsichtlich der ersten beiden Alternativen des § 42 Satz 1 AVG keine abschließende Beurteilung zugunsten der Klägerin zuläßt, die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen
Haufe-Index 1651323 |
BSGE, 11 |