Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit der Klage. Aufhebung eines Dauerverwaltungsakts. Einbeziehung des Bescheids in ein früheres Klageverfahren. prozessuale Sperrwirkung. Wegfall der anderweitigen Rechtshängigkeit durch Berufungsrücknahme. Bestandskraft
Orientierungssatz
1. Ergeht auf einen zeitlich nicht beschränkten Dauerverwaltungsakt ein Aufhebungsbescheid, durch den die streitgegenständlichen Leistungen entzogen werden, wird dieser Bescheid in (direkter) Anwendung von § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens (vgl BSG vom 14.12.1995 - 11 RAr 75/95 = BSGE 77, 175 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2).
2. Erwächst ein Bescheid, der nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand eines zuvor anhängigen Klageverfahrens war, durch Wegfall der Rechtshängigkeit dieser Klage (hier: durch Berufungsrücknahme) in Bestandskraft, können zwischenzeitlich unzulässig erhobene gesonderte Klagen gegen diesen Bescheid gleichwohl nicht zulässig mit dem Ziel der Beseitigung der Bestandskraft weitergeführt werden, ohne dass ein neues Verwaltungsverfahren zur Überprüfung des bestandskräftigen Bescheids durchgeführt ist.
Normenkette
SGG § 96 Abs. 1, §§ 77, 94, 156 Abs. 1, § 202 S. 1; GVG § 17 Abs. 1 S. 2; SGB X § 48 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revisionen der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 2014 werden zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Im Streit ist die Aufhebung der Bewilligung von Auslandssozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) ab 1.11.2010.
Die Kläger sind deutsche Staatsangehörige. Der 1947 in Düsseldorf geborene Kläger zu 1 und die 1973 geborene Klägerin zu 2 sind miteinander verheiratet; sie sind die Eltern der 2002 geborenen Klägerin zu 3. Seit 21.7.2005 leben die Kläger in Spanien.
Der Beklagte gewährte ihnen seit Januar 2007 Sozialhilfe (Bescheide vom 31.1.2007, 27.1., 16.3. und 25.3.2009, 3.3. und 10.3.2010; Widerspruchsbescheide vom 22.10.2009, 11.12.2009 und 27.5.2010). Gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 haben die Kläger am 19.11.2009 (S 21 SO 190/09), gegen die Bescheide vom 3.3. und 10.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.5.2010 am 9.6.2010 (S 21 SO 284/10) Klagen beim Sozialgericht (SG) Köln erhoben, mit der sie jeweils höhere Leistungen begehrt haben. Das SG hat in beiden Verfahren die Klagen abgewiesen (Urteile vom 20.07.2011). In den dagegen beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingelegten Berufungen haben die Kläger am 20.2.2014 "die Verfahren L 20 SO 482/11 und L 20 SO 483/11 für erledigt" erklärt.
Zwischenzeitlich hatte der Beklagte für die Zeit ab 1.11.2010 seine Leistungsbewilligung, gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X), aufgehoben (Bescheid vom 29.7.2010; Widerspruchsbescheid vom 28.10.2010).
Das SG hat (auch) die dagegen gerichteten Klagen abgewiesen (Urteil vom 20.7.2011), das LSG die Berufungen der Kläger zurückgewiesen (Urteil vom 10.11.2014). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, in der Sache sei eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X eingetreten, weil die Kläger (spätestens) zum 1.11.2010 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dem Grunde nach die Voraussetzungen für den Bezug von "spanischer Sozialhilfe" erfüllt hätten und damit kein Anspruch mehr auf deutsche Sozialhilfe bestehe.
Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 24 Abs 2 SGB XII und Verfahrensfehler. Die Klagen seien trotz der früheren Gerichtsverfahren über die Leistungshöhe zulässig.
Die Kläger beantragen,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 29.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässigen Revisionen sind aus anderen Gründen als vom LSG angenommen unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Im Ergebnis zu Recht hat das LSG die Berufungen zurückgewiesen; denn die Klagen waren und sind unzulässig. Gegenstand der Klagen ist der Bescheid vom 29.7.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2010 (§ 95 SGG), den die Kläger mit ihren Anfechtungsklagen angreifen und mit dem der Beklagte seine Bewilligung von Auslandssozialhilfe ab 1.11.2010 aufgehoben hat. Dieser Bescheid ist rechtlich gemäß § 96 Abs 1 SGG vollumfänglich Gegenstand des früheren Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 (§ 95 SGG) geworden. Auch nachdem die Kläger die Berufungen gegen das - fehlerhaft nur Teile der Klagen (faktische Nichteinbeziehung der Folgebescheide) - abweisende Urteil des SG zurückgenommen haben, bleiben die Klagen unzulässig, weil der hier streitgegenständliche Aufhebungsbescheid mit der Rücknahme der Berufungen bestandskräftig geworden ist.
Die Klagen waren zunächst wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 17 Abs 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz ≪GVG≫). Der Bescheid vom 29.7.2010 ist nämlich mit seiner Bekanntgabe am 2.9.2010 Gegenstand des zu diesem Zeitpunkt bereits anhängigen Klageverfahrens (S 21 SO 190/09) gegen den Bescheid vom 25.3.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2009 geworden. Nach § 96 Abs 1 SGG (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 - BGBl I 444 - erhalten hat) wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Geändert oder ersetzt wird ein Bescheid immer, wenn er denselben Streitgegenstand wie der Ursprungsbescheid betrifft, bzw wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 96 RdNr 4 ff mwN). Ergeht auf einen zeitlich nicht beschränkten Dauerverwaltungsakt ein Aufhebungsbescheid, durch den die streitgegenständlichen Leistungen entzogen werden, wird dieser Bescheid in (direkter) Anwendung von § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens (BSGE 77, 175, 176 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2 S 8 f).
So ist es hier. Der Beklagte hat im Bescheid vom 25.3.2009 Sozialhilfe zeitlich unbegrenzt bewilligt. Streitgegenstand des zunächst anhängigen Klageverfahrens gegen diesen Bescheid (S 21 SO 190/09) war dabei die Höhe dieser Leistungen ab 1.4.2009. Hiergegen haben sich die Kläger ohne zeitliche Begrenzung des Klagegegenstands gewandt. Auch in der Sache haben die Kläger ihr Klagebegehren nicht auf einzelne abtrennbare Regelungen des Bescheids begrenzt.
Durch Bescheide vom 3.3. und 10.3.2010 hat der Beklagte die Leistungen - erneut zeitlich unbegrenzt - der Höhe nach für die Zeit ab 1.4.2010 neu festgesetzt. Auch diese Bescheide sind - als Änderungsbescheide - nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des früheren Klageverfahrens geworden, ohne dass hierdurch der Streitgegenstand begrenzt worden wäre. Der hier streitgegenständliche Bescheid vom 29.7.2010 hat sodann (gestützt auf § 48 SGB X) den Bescheid vom 10.3.2010 aufgehoben. Für den Zeitraum ab 1.11.2010 ist er gemäß § 96 Abs 1 SGG vollständig an die Stelle des seinerseits nach § 96 Abs 1 SGG streitbefangenen Bescheids vom 10.3.2010 getreten. Da die Kläger den Streitgegenstand nicht begrenzt haben (s zuvor), kommt es nicht darauf an, welche Rechtsfolgen sich hieraus für das vorliegende Verfahren ergäben.
Die prozessuale Sperrwirkung des § 17 Abs 1 Satz 2 GVG endet zwar mit Abschluss des früheren Verfahrens; die Klagen bleiben aber dennoch unzulässig. Zwar steht ihrer Zulässigkeit nicht die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung entgegen (vgl zur Unzulässigkeit der Klage bei eingetretener Rechtskraft BSG, Beschluss vom 17.12.2015 - B 8 SO 14/14 R). Das SG hat nämlich - in Verkennung der Einbeziehung der Änderungsbescheide vom 3.3. und 10.3. sowie des Aufhebungsbescheids vom 29.7.2010 - mit seinem klageabweisenden Urteil nur über einen Teil des Streitgegenstands, nämlich über den im Einleitungssatz des Tatbestands bezeichneten Zeitraum vom 1.4.2009 bis 31.3.2010, entschieden. Einen Antrag auf Ergänzung des Urteils (vgl § 140 SGG) haben die Kläger nicht gestellt; es ist deshalb nicht entscheidungserheblich, dass ein solcher Antrag (aufgrund bewusster - wenn auch falscher - Entscheidung des SG) ohnehin unzulässig gewesen wäre (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 140 RdNr 2c mwN). Auch im Berufungsverfahren ist eine den Fehler des SG korrigierende gerichtliche Entscheidung betreffend den Zeitraum ab 1.11.2010 nicht ergangen. Zwar hätte der übergangene Anspruch Gegenstand einer Entscheidung im Berufungsverfahren werden können (vgl nur Keller, aaO, § 140 RdNr 2a mwN). Die Kläger haben jedoch ihre Berufungen gegen das die Klagen abweisende Urteil in der nichtöffentlichen Sitzung vom 20.2.2014 zurückgenommen, indem sie (ua) das "Verfahren L 20 SO 482/11 für erledigt erklärt" haben. Diese Erklärung kann nur als Berufungsrücknahme (§ 156 SGG) gewertet werden.
Dadurch ist zwar die Rechtshängigkeit der Klagen gegen die Bescheide, über die das SG unter Verkennung des § 96 SGG nicht entschieden hat, folglich auch die Rechtshängigkeit der Klagen gegen den hier streitgegenständlichen Bescheid vom 29.7.2010, entfallen (vgl nur Keller, aaO, § 140 RdNr 3; BGH, Urteil vom 16.2.2005 - VIII ZR 133/04 - NJW-RR 2005, 790, 791) und dieser in Bestandskraft erwachsen (§ 77 SGG); die zwischenzeitlich unzulässig erhobenen gesonderten Klagen gegen diesen Bescheid können gleichwohl nicht zulässig mit dem Ziel der Beseitigung der Bestandskraft weitergeführt werden (vgl Keller, aaO, § 140 RdNr 3), ohne dass ein neues Verwaltungsverfahren zur Überprüfung des bestandskräftigen Bescheids durchgeführt ist (vgl zu diesem Rechtsgedanken auch: BSGE 21, 13 ff = SozR Nr 5 zu § 156 SGG; BSG SozR 4-1500 § 92 Nr 2; BVerwGE 40, 25, 32; BFHE 159, 4, 9 f; 189, 252, 255).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen