Leitsatz (redaktionell)
Erscheint beim Vorliegen einer Silikose, die die Atmungs- und Kreislauffunktionen nicht wesentlich beeinträchtigt, ärztlich eine Operation geboten, so können deren die Silikose verschlimmernden Folgen entschädigungspflichtig sein.
Normenkette
RVO § 551 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; BKVO 6 § 1 Fassung: 1961-04-28; BKVO 3 Anl 1 Nr. 34 Fassung: 1961-04-28; BKVO 6 Anl 1 Nr. 34 Fassung: 1961-04-28
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Juni 1967 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß dem Kläger Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbstätigkeit um 50 v.H. zu zahlen ist.
Die Beklagte hat dem Kläger fünf Sechstel der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der 1906 geborene Kläger begehrt Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen einer Silikose. Er war von 1922 bis 1934 als Fördermann und Hauer im Steinkohlenbergbau und von 1939 bis 1943 als Blendefüller und Wieger in einer Zinkhütte beschäftigt.
Im August 1963 trat bei ihm Husten mit blutigem Auswurf auf. Nach Feststellung eines krankhaften rechtsseitigen Lungenbefundes wurde er am 30. August 1963 in das Zentralkrankenhaus B aufgenommen und von dort am 9. September 1963 wegen eines "peripheren Tumors im rechten Lungenoberlappen" zur weiteren diagnostischen Klärung und Behandlung in das Krankenhaus H, B, verlegt. Unter der Verdachtsdiagnose eines Neoplasmas wurde am 18. September 1963 der rechte Lungenoberlappen reseziert. Die feingewebliche Untersuchung ergab einen "silikotischen und anthracotischen Herd von über Pflaumengröße sowie zahlreiche kleinere gleiche Herdbildungen". Ein Anhalt für eine frische Tuberkulose oder eine bösartige Neubildung fand sich nicht. Die Heilung verzögerte sich durch eine postoperative Thrombophlebitis des rechten Beines. Am 13. Januar 1964 wurde der Kläger aus dem Krankenhaus entlassen und ab 21. März 1964 arbeitsfähig geschrieben.
Auf Veranlassung der Beklagten erstattete der Chefarzt, Dozent Dr. R, Siegen, am 5. August 1964 ein Gutachten. Er kam zu dem Ergebnis, daß die Silikose des Klägers sowohl vor der Operation als auch nachher ein mittelgradiges Stadium noch nicht erreicht habe; die postoperativen Folgezustände könnten der Berufskrankheit (BK) nicht zur Last gelegt werden. Auch der Direktor des Tuberkulosekrankenhauses H der Städtischen Krankenanstalten B, Dr. J, vertrat in seinem der Beklagten am 4. September 1965 erstatteten Gutachten die Ansicht, daß keine entschädigungspflichtige BK vorgelegen habe. Dr. J. hob noch hervor, daß bei dem atypischen Sitz der Silikose - Silikom im rechten Lungenoberlappen - zum Ausschluß eines Lungentumors eine Thoraktomie mit Lungenbiopsie unbedingt erforderlich gewesen sei. Wenn man berücksichtige, daß erst durch die histologische Untersuchung des resezierten Oberlappens die Diagnose der Silikose sichergestellt werden konnte, so sei der anfängliche Lungenbefund unmittelbar auslösend für die diagnostisch-chirurgisch-therapeutischen Bemühungen gewesen.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. Dezember 1965 den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, die klinische und röntgenologische Untersuchung habe ergeben, daß der Kläger nicht an einer zu entschädigenden BK leide. Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat von dem Facharzt für innere Medizin, Dr. S in H, ein inner- und lungenfachärztliches Gutachten vom 1. August 1966 eingeholt. Dr. S kam zu dem Ergebnis, daß die beim Kläger bestehenden Quarzstaublungenveränderungen noch keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um wenigstens 20 v.H. bedingten. Das gelte auch für den Zeitraum vor dem 18. September 1963. Ob die Folgen der operativen Entfernung des rechten Lungenoberlappens in einen Kausalzusammenhang mit der Silikose zu bringen seien und somit entschädigt werden müßten, sei eine rechtliche Frage. Von einer eigentlichen Fehldiagnose, wie die Beklagte meine, könne aber nicht gesprochen werden. Differentialdiagnostisch sei der operative Eingriff angezeigt gewesen. Durch ihn sei erst die Diagnose einer Silikose sichergestellt worden. Wäre der Kläger nicht an Silikose und insbesondere einer derart atypischen erkrankt gewesen, wäre es auch nicht zu dem Eingriff gekommen. Der silikotische Lungenbefund sei somit auslösend für die diagnostisch-operativen Maßnahmen gewesen. Zusammen mit den Folgen der Resektionsbehandlung (Verlust des rechten Lungenoberlappens, Pleuraschwarte rechts mit leichter Schrumpfung der rechten Brustkorbhälfte, weitgehender Funktionsausfall des rechten Zwerchfellschenkels, Überblähung der rechten Restlunge, stärkere Verziehung der Mittelfeldorgane nach rechts und postthrombotisches Beinoedem ) bedingten die vorhandenen silikotischen Lungenveränderungen eine Gesamt-MdE von 60 v.H.
Der Chefarzt Dr. R hat in einer von der Beklagten vorgelegten Stellungnahme vom 19. September 1966 der Ansicht von Dr. S, daß der silikotische Lungenbefund auslösend für die operativen Maßnahmen gewesen sei, widersprochen.
Das SG hat die Klage abgewiesen. Auf die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den ablehnenden Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, an den Kläger Unfallrente nach einer MdE um 60 v.H. zu zahlen. Es hat dazu ausgeführt: Es sei zutreffend, daß die silikotischen Veränderungen - für sich allein betrachtet - zu keiner Zeit, weder vor der Operation noch jetzt, - die Atmungs- und Kreislauffunktion wesentlich beeinträchtigten. Danach liege eine zu entschädigende BK im Sinne der Nr. 34 der Anlage zur 6. Berufskrankheitenverordnung (BKVO) noch nicht vor. Bei dem operativen Eingriff komme es für die Frage, ob er auf die silikotischen Veränderungen zurückzuführen sei, jedoch nicht auf das Ausmaß und die Auswirkungen dieser Veränderungen, sondern allein auf ihr Vorhandensein an. Da eine Fehldiagnose für den operativen Eingriff ausscheide, sei es ohne die silikotischen Einlagerungen, zumal sie einen atypischen Sitz - Silikom im rechten Lungenoberlappen - hatten, nicht zu dem - operativ nicht erforderlichen - Eingriff gekommen. Sie seien daher nach ihrer Bedeutung und Tragweite die wesentliche Bedingung für den operativen Eingriff und damit Ursache im Sinne der im Unfallrecht geltenden Kausalitätslehre. Die Beklagte habe deshalb dem Kläger für eine BK der Nr. 34 der Anlage der 6. BKVO, deren Beginn auf den 18. September 1963 festzusetzen sei, Entschädigung zu leisten. Die dem Kläger vom Wegfall der Arbeitsunfähigkeit zustehende Rente sei nach einer MdE von 60 v.H. zu zahlen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Beklagte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen und den Bescheid der Beklagten vom 14. Dezember 1965 wiederherzustellen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Sie rügt, das LSG habe den Begriff einer entschädigungspflichtigen BK im Sinne der Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO verkannt. Das Berufungsgericht habe übersehen, daß es angesichts der offenbaren Geringfügigkeit der unmittelbaren Silikosefolgen nicht nur an einer auf sie zurückzuführenden MdE in dem rentenberechtigten Grad von 20 v.H., sondern überhaupt an einem ausreichenden Krankheitswert fehle, um hier eine BK annehmen zu können. Es seien beim Kläger nur röntgenologische Veränderungen auf Grund entsprechender Staubexpositionszeiten nachweisbar, klinisch feststellbare Ausfallserscheinungen hätten sie nicht zur Folge gehabt. Schon deswegen könne der Begriff einer BK nach Nr. 34 der der Anlage zur 6. BKVO nicht als erfüllt angesehen werden. Selbst wenn die Quarzstaublungenveränderungen die Resektion des rechten Lungenoberlappens veranlaßt hätten und insoweit wenigstens in einer Kausalbeziehung tatsächlicher Art mit der Operation und deren Folgen ständen, bestehe kein Anlaß für eine unfallversicherungsrechtliche Entschädigungspflicht. Wollte man dennoch eine BK nach Nr. 34 der Anlage zur 6. BKVO trotz des Fehlens einer unmittelbar auf sie zurückzuführenden MdE in rentenberechtigendem Grade bejahen, sei die Beklagte deshalb nicht entschädigungspflichtig, weil nicht die Quarzstaublungenveränderungen als solche die Operation und die sich an diese anschließenden schweren gesundheitsschädlichen Folgen ausgelöst hätten, sondern die, wie sich nachträglich herausgestellt habe, unzutreffende Beurteilung der ersten Krankheitserscheinungen beim Kläger in Gestalt seines Hustens mit blutigem Auswurf im August 1963.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
II
Die Revision ist nur in dem aus dem Urteilstenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente hängt davon ab, ob eine zu entschädigende BK im Sinne der Nr. 34 der 6. BKVO vom 28. April 1961 (BGBl I 505) beim Kläger vorliegt. Für die Anerkennung einer Silikose als BK ist erforderlich, daß die Staubeinlagerungen bereits zu einer leistungsmindernden Beeinträchtigung von Atmung und Kreislauf geführt haben (BSG in SozR RKG § 45 Nr. 17). Nach den nicht angefochtenen tatsächlichen Feststellungen des LSG haben die silikotischen Veränderungen - für sich allein betrachtet - zu keiner Zeit, weder vor der Operation noch jetzt, die Atmungs- und Kreislauffunktion beim Kläger wesentlich beeinträchtigt. Es lag somit vor dem operativen Eingriff am 18. September 1963 eine zu entschädigende BK im Sinne der Nr. 34 der 6. BKVO, die gemäß § 551 RVO nF als Arbeitsunfall gilt, beim Kläger nicht vor. Es wäre deshalb grundsätzlich keine Entschädigungspflicht der Beklagten für die silikotischen Veränderungen in der Lunge des Klägers selbst und für deren Folgen begründet. Nun haben aber die silikotischen Einlagerungen im rechten Lungenoberlappen, die bei der Durchleuchtung den Verdacht auf das Vorliegen eines Tumors hervorriefen, zu einem operativen Eingriff geführt. Dieser Eingriff hat eine wesentliche Beeinträchtigung der Atmungs- und der Kreislauffunktion zur Folge, wie sie für das Vorliegen einer nach Nr. 34 der 6. BKVO zu entschädigenden BK erforderlich ist. Da es ohne die silikotischen Einlagerungen mit ihrem atypischen Sitz nicht zu dem operativen Eingriff am 18. September 1963 gekommen wäre, liegt im Ergebnis eine durch Staublungeneinlagerungen verursachte wesentliche Beeinträchtigung von Atmung und Kreislauf bei dem Kläger vor. Der Senat ist der Ansicht, daß dieses - auf atypische Weise - zustande gekommene Krankheitsbild, zumal unter Beachtung des Grundgedankens des § 551 Abs. 2 RVO nF versicherungsrechtlich einer in normaler, schicksalsmäßiger Krankheitsentwicklung entstandenen Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) gleichzuerachten und demgemäß von der Beklagten als BK zu entschädigen ist.
Da die Beklagte aber nicht für alle Folgen der Operation, die ja nicht von ihr veranlaßt worden ist, aufzukommen, sondern nur die hierdurch verschlimmerte Silikose als BK zu entschädigen hat, ist sie zur Entschädigung anderer Nebenfolgen des operativen Eingriffs nicht verpflichtet. Das LSG hat unwidersprochen und bedenkenfrei auf Grund des Gutachtens von Dr. S festgestellt, daß die durch die Folgen der Resektionsbehandlung und die durch die vorhandenen silikotischen Herde in den restlichen Lungenabschnitten bedingte MdE beim Kläger 50 v.H. beträgt. Für diese MdE hat die Beklagte dem Kläger Verletztenrente zu gewähren. Dagegen ist sie nicht verpflichtet, ihn für die MdE zu entschädigen, die auf die postoperativ aufgetretene Thrombophlebitis zurückzuführen ist und die das LSG in Anlehnung an das Gutachten von Dr. S mit 15 v.H. bewertet hat.
Das Urteil des LSG ist deshalb, wie geschehen, zu ändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen