Entscheidungsstichwort (Thema)
Viagra. Erektile Dysfunktion. Krankheit. Arzneimittel. Pharmakotherapie. Bundesausschuss. Arzneimittelzulassung. Wirtschaftlichkeitsgebot. Leistungsmissbrauch. Beiladung
Leitsatz (redaktionell)
- Die erektile Dysfunktion stellt jedenfalls dann eine Krankheit im Sinne des § 27 SGB V dar, wenn sie nicht als altersbedingte oder alterstypische Minderung der Physis anzusehen ist.
- Der Bundesausschuss ist durch § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V nicht ermächtigt, Inhalt und Grenzen der Begriffe “Arzneimittel” und “Krankheit” zu bestimmen oder die Behandlung einzelner Krankheiten und Krankheitssymptome zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung gänzlich auszuschließen.
- Bis zum 31.12.2003 war das Arzneimittel Viagra nicht von der Leistungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen.
Normenkette
SGB V § 27 Abs. 1 Sätze 1-2, § 28 Abs. 1 S. 1, § 31 Abs. 1, § 34 Abs. 1, 3-4, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6, § 135 Abs. 1, § 2 Abs. 1 S. 3, § 12 Abs. 1, § 70 Abs. 2, § 13 Abs. 3; SGG § 75 Abs. 2; AMRL Nr. 17.1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. August 2004 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der dem Kläger zwischen dem 30. September 1999 und 31. Dezember 2003 für die Beschaffung des Arzneimittels Viagra® entstandenen Kosten.
Bei dem 1955 geborenen, bei der beklagten Ersatzkasse versicherten Kläger besteht als Folgeerkrankung einer seit mehr als zwanzig Jahren bestehenden Multiplen Sklerose eine erektile Dysfunktion. Seit Oktober 1998 verordneten ihm die ihn behandelnden Ärzte auf Privatrezept das Arzneimittel Viagra®. Dabei handelt es sich um ein im September 1998 EG-weit zur Behandlung der erektilen Dysfunktion zugelassenes, oral einzunehmendes, verschreibungspflichtiges Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Sildenafil. Am 30. September 1999 beantragte der Kläger erstmals bei der Beklagten unter Vorlage eines ärztlichen Attestes die Kostenübernahme. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, die Verordnung von Arzneimitteln zur Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz sowie zur Behandlung einer erektilen Dysfunktion sei nach den Arzneimittel-Richtlinien (≪AMRL≫ Abschnitt F Nr 17.1 Buchst f) von der Leistungspflicht der Krankenkassen ausgenommen (Bescheid vom 5. Oktober 1999, Widerspruchsbescheid vom 14. März 2000).
Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben und die Erstattung weiterer Kosten für das von ihm selbst beschaffte Arzneimittel geltend gemacht. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, dem Kläger 922,98 € zu erstatten und die Kosten für Viagra® auch künftig zu übernehmen (Urteil vom 25. Juni 2002). Die Beklagte hat Berufung eingelegt. Der Kläger hat im Berufungsverfahren die Erstattung weiterer 55,01 € für im Juli 2003 entstandene Arzneimittelkosten geltend gemacht und sein Begehren im Übrigen auf die Erstattung der ihm vom 30. September 1999 bis zum 31. Dezember 2003 entstandenen Arzneimittelkosten in Höhe von 544,87 € beschränkt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Kläger habe einen Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs 3 2. Alternative Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Er habe sich die streitgegenständlichen privatärztlichen Verordnungen des Arzneimittels erst beschafft, nachdem die Beklagte die Erbringung der Leistung mit den angefochtenen Bescheiden abgelehnt hatte. Die Ablehnung sei zu Unrecht erfolgt, weil das Arzneimittel Viagra® dem Kläger hätte als Sachleistung nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V erbracht werden müssen. Die erektile Dysfunktion des Klägers sei eine behandlungsbedürftige Krankheit. Dem Kläger habe nach § 31 Abs 1 SGB V ein Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln zugestanden, soweit diese nicht nach § 34 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen waren; Letzteres sei bei dem Arzneimittel Viagra® bis zum 31. Dezember 2003 nicht der Fall gewesen. Abschnitt F Nr 17.1 Buchst f AMRL in der ab 30. September 1998 geltenden Fassung stünde dem Anspruch des Klägers ebenfalls nicht entgegen, denn die Ermächtigung in § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V lasse Einschränkungen des Krankheitsbegriffs insoweit nicht zu (Urteil vom 25. August 2004).
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision sinngemäß eine Verletzung von § 12 und § 92 Abs 1 SGB V iVm den AMRL. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (seit 1. Januar 2004: Gemeinsamer Bundesausschuss; im Folgenden kurz: Bundesausschuss) habe mit der Neufassung des Abschnitts F Nr 17.1 Buchst f AMRL gerade Viagra® von der Verordnungsfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung ausnehmen wollen. Der Beschluss sei vor dem Hintergrund der zum damaligen Zeitpunkt bevorstehenden Zulassung von Viagra® zum 1. Oktober 1998 zu sehen. Es seien erhebliche finanzielle Belastungen der Krankenkassen, die Entwicklung von Viagra® zu einer “Lifestyledroge” und die Entstehung eines “Schwarzmarktes” durch missbräuchlichen Verkauf des Arzneimittels zu befürchten gewesen. Der Bundesausschuss habe daher eine sachgerechte Handhabbarkeit des Wirtschaftlichkeitsgebotes bei Viagra® nicht für möglich gehalten. Es sei im Übrigen nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, Arzneimittel, welche erst durch eine Entscheidung im privaten Bereich der Sexualität ihre gegebene Anwendungsmöglichkeit erfahren, als Sachleistung zur Verfügung zu stellen. Die Häufigkeit der Anwendung dieses Mittels sei nicht von medizinischen Voraussetzungen abhängig, sondern ausschließlich vom subjektiven Empfinden des Einzelnen, das sich einer Normierung iS des für die gesetzliche Krankenversicherung geltenden Wirtschaftlichkeitsgebotes entziehe. Durch die AMRL sei das Wirtschaftlichkeitsgebot daher auch bis Ende 2003 in zulässiger Art und Weise konkretisiert worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Berlin vom 25. August 2004 sowie das Urteil des SG Berlin vom 25. Juni 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der beklagten Ersatzkasse ist unbegründet.
1. Der Senat konnte in der Sache entscheiden, ohne den Bundesausschuss gemäß § 75 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beizuladen. Im Rechtsstreit des Klägers gegen seine Krankenkasse geht es um Ansprüche auf Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Bei der Konkretisierung von Leistungen kann zwar die normsetzende Funktion des Bundesausschusses bedeutsam sein. Indessen ist kein hinreichender sachlicher Grund ersichtlich, ihn in allen Leistungsstreitigkeiten zwischen Versicherten und ihren Krankenkassen oder auch nur in “Musterverfahren” über umstrittene medizinische Leistungen notwendig beizuladen. Denn die Interessen des Bundesausschusses werden durch eine in diesem Verhältnis ergehende gerichtliche Entscheidung auch in Bezug auf seine Befugnis zum Erlass der AMRL allenfalls mittelbar berührt (vgl zB BSGE 70, 240, 242 = SozR 3-5533 Allg Nr 1 S 2 für eine ähnliche Konstellation im Kassenarztrecht; Urteil des erkennenden Senats vom 7. Dezember 2004 – B 1 KR 38/02 R: Patientenquittung, zur Veröffentlichung vorgesehen; Beschluss des Senats vom 6. Januar 2005 – B 1 KR 51/03 B, Juris-Dokument KSRE 098581518 RdNr 19).
2. Der Kläger hat bis 31. Dezember 2003 einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Kosten des von ihm selbst beschafften Arzneimittels Viagra®.
a) Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war (§ 13 Abs 3 Alternative 2 SGB V in der bis 30. Juni 2001 geltenden Fassung des Gesundheits-Strukturgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl I 2266, seit 1. Juli 2001 § 13 Abs 3 Satz 1 Alternative 2 idF des Art 5 Nr 7 Buchst b Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch ≪SGB IX≫ Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19. Juni 2001, BGBl I 1046). Der in Betracht kommende Kostenerstattungsanspruch reicht dabei nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; zuletzt Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 27/02 R – zur Veröffentlichung bestimmt). Dies war bei Viagra® bis Ende 2003 der Fall. Die Beklagte hat es mit den angefochtenen Bescheiden zu Unrecht abgelehnt, dem Kläger das Arzneimittel Viagra® als Sachleistung zu gewähren. Dieses durfte Versicherten bis Ende 2003 zwar nicht zur Steigerung einer altersüblichen und alterstypischen Physis, wohl aber in Fällen einer im Gefolge schwerer Krankheiten auftretenden erektilen Dysfunktion zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden. Der Kläger war daher nach Bekanntgabe der rechtswidrigen Ablehnungsentscheidung der Beklagten berechtigt, sich das Arzneimittel mittels ärztlichen Privatrezepts auf eigene Kosten zu verschaffen und von der Beklagten die Erstattung der hierfür aufgewandten Kosten zu verlangen.
b) Die erektile Dysfunktion, an welcher der Kläger leidet, ist eine Krankheit iS des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 27 Abs 1 Satz 1, § 28 Abs 1 Satz 1 SGB V), die behandlungsbedürftig sowie behandlungsfähig ist und gemäß § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3 SGB V einen Anspruch des Versicherten auf Krankenbehandlung ua mittels Verordnung geeigneter und wirtschaftlicher Arznei- oder Hilfsmittel begründet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist unter Krankheit ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, der ärztlicher Behandlung bedarf oder – zugleich oder ausschließlich – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (vgl BSGE 85, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 38; BSGE 72, 96, 98 = SozR 3-2200 § 182 Nr 14 S 64 jeweils mwN). Diese Voraussetzungen liegen bei einer erektilen Dysfunktion jedenfalls dann vor, wenn sie nicht als altersbedingte und erst recht nicht als alterstypische Minderung der Physis anzusehen ist (BSG, Urteil vom 30. September 1999 – B 8 KN 9/98 KR R, BSGE 85, 36, 38 f = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 38 f zur Behandlung mittels Schwellkörper-Autoinjektions-Therapie ≪SKAT≫ bei arterieller Durchblutungsstörung der Penisschwellkörper; im Ergebnis ebenso: BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 2003 – 2 C 26/02, BVerwGE 119, 168 ff = Buchholz 237.8 § 90 RhPLBG Nr 1 zum Beihilferecht der Beamten; OLG München, NJW 2000, 3432 zur privaten Krankenversicherung für eine Diabetes-Folgeerkrankung).
c) Die Krankheit “erektile Dysfunktion” des Klägers war vorliegend auch behandlungsbedürftig und behandlungsfähig. Zwar konnte durch die Arzneimitteltherapie mittels Viagra® die Ursache seiner erektilen Dysfunktion, nämlich die Multiple Sklerose, nicht beseitigt werden. Indessen war es möglich, die erektile Dysfunktion zumindest zeitweise zu beheben und das beim Kläger bestehende Funktionsdefizit vorübergehend zu beseitigen, dh die Krankheit iS von § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V zu “lindern”. Viagra® war vorliegend sowohl abstrakt, dh nach dem genehmigten Anwendungsgebiet, als auch nach den bindenden Feststellungen des LSG im konkreten Fall medizinisch indiziert und ein zur Behandlung der erektilen Dysfunktion des Klägers geeignetes (Arznei-)Mittel. Dieses enthält den Wirkstoff Sildenafil. Es wurde am 14. September 1998 auf Grund der VO (EWG) Nr 2309/93 (ABl L 214/1 vom 24. August 1993) EG-weit als verschreibungspflichtiges, oral einzunehmendes Arzneimittel zugelassen (vgl Auszug aus Entscheidungen der Gemeinschaft über die Zulassung von Arzneimitteln vom 15. August bis 15. September 1998, ABl EG C 297/2 vom 25. September 1998). Sein genehmigtes Anwendungsgebiet ist die Behandlung der erektilen Dysfunktion (vgl The European Agency for the Evaluation of Medicinal Products, Ausschuss für Arzneispezialitäten ≪CPMP≫, Europäischer Öffentlicher Beurteilungsbericht ≪EPAR≫ Nr 1136/98; http://www.emea.eu.int/humandocs/Humans/EPAR/Viagra/Viagra.htm).
d) Eine gesonderte Empfehlung der Pharmakotherapie mit dem zulassungspflichtigen Fertigarzneimittel Viagra® in den Richtlinien des Bundesausschusses über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs 1 SGB V neben der genannten Arzneimittelzulassung schied aus, weil sich die wesentlichen Voraussetzungen für die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht insoweit bereits aus dem Arzneimittelrecht ergeben (vgl BSGE 89, 184, 185 f = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 29 f – Sandoglobulin®; zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 27/02 R: Visudyne® – zur Veröffentlichung vorgesehen).
3. Das Arzneimittel Viagra® war bis Ende 2003 entgegen der Ansicht der Revision auch nicht kraft besonderer Regelung von der Leistungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm § 31 Abs 1, § 34 Abs 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V zur Gewährleistung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) ausgeschlossen sind. Vorliegend ergibt sich ein Ausschlussgrund weder aus § 34 SGB V noch aus Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V.
a) Das Arzneimittel Viagra® gehörte bis Ende 2003 nicht zu den in § 34 Abs 1 SGB V genannten Bagatellarzneimitteln, für die die Versorgung gemäß § 31 SGB V bereits von Gesetzes wegen ausgeschlossen ist. Ein entsprechender Ausschluss erfolgte erst durch Art 1 Nr 22 des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) vom 14. November 2003 (BGBl I 2190), indem der Vorschrift des § 34 Abs 1 SGB V mit Wirkung ab 1. Januar 2004 (vgl Art 37 Abs 1 GMG) die Sätze 7 bis 9 angefügt und ua die Verordnung von Arzneimitteln ausgeschlossen wurde, die überwiegend der Behandlung der erektilen Dysfunktion dienen (zur Vereinbarkeit dieses Ausschlusses mit dem Grundgesetz vgl Urteil des erkennenden Senats vom 10. Mai 2005 – B 1 KR 25/03 R, zur Veröffentlichung vorgesehen).
b) Die auf Grund von § 34 Abs 3 SGB V erlassene Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung über unwirtschaftliche Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 21. Februar 1990 (BGBl I 301, abgedruckt bei Engelmann/Aichberger, Gesetzliche Krankenversicherung – Soziale Pflegeversicherung, Ergänzungsband, Nr 335) führt den im Arzneimittel Viagra® enthaltenen Wirkstoff Sildenafil nicht auf. Viagra® war somit vor dem 1. Januar 2004 auch nicht nach § 34 Abs 3 SGB V von der Leistungspflicht der Krankenkassen ausgeschlossen.
c) Dem Anspruch auf Gewährung von Viagra® als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung stand entgegen der Meinung der Revision auch die Regelung der Nr 17.1 Buchst f der auf Grund des § 92 Abs 1 Nr 6 SGB V beschlossenen AMRL nicht entgegen. Diese Richtlinien-Regelung war bis 31. Dezember 2003 unwirksam, soweit sie den Anspruch des Versicherten auf Verordnung eines entsprechenden Arzneimittels pauschal ausschloss.
Nach den Richtlinien in ihrer bis zum 29. September 1998 geltenden Fassung vom 31. August 1993 (BAnz Nr 246 vom 31. Dezember 1993 S 11155 f), geändert am 23. Februar 1996 (BAnz S 4802), durften “Mittel, die ausschließlich der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz dienen sollen”, nicht verordnet werden. Durch Beschluss des Bundesausschusses vom 3. August 1998 (BAnz Nr 182 vom 29. September 1998, S 14491) wurde Nr 17.1 Buchst f der AMRL geändert und nunmehr angeordnet, dass nicht verordnet werden dürfen: “Mittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion und Mittel, die der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz dienen”. Durch diese Neufassung sollte unterschiedslos jegliche Behandlung einer erektilen Dysfunktion mit Arzneimitteln und vor allem die Verordnungsfähigkeit des damals kurz vor der Zulassung stehenden Arzneimittels Viagra® ausgeschlossen werden, weil die erektile Dysfunktion als solche nicht grundsätzlich bereits als Krankheit iS des Leistungsrechts des SGB V anzusehen sei. Sie trete bei ca 10 % der männlichen Bevölkerung auf und habe ihre Ursachen nur teilweise in einer anderen Krankheit, deren Behandlung Gegenstand der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung sein könne. Bei Beurteilung der erektilen Dysfunktion träten Zweifel auf, in welchen Fällen es sich um einen regelwidrigen Körperzustand und damit um eine Krankheit mit der daraus resultierenden Behandlungsbedürftigkeit handele. Es sei nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, solche Arzneimittel, welche erst durch eine Entscheidung im privaten Bereich der Sexualität ihre gegebene Anwendungsmöglichkeit erführen, als Sachleistung zur Verfügung zu stellen (Erläuterungen zur Beschlussvorlage des Arbeitsausschusses “Arzneimittel” – Nr 17.1 f, vgl BSGE 85, 36, 46 f = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 46 f). In der Literatur war zudem befürchtet worden, dass mit dem vor der Zulassung stehenden Arzneimittel Viagra® eine “Lifestyledroge”, die das Leben lediglich angenehmer mache, jedoch keine Heilung bewirke, die gesetzliche Krankenversicherung “ausbluten” könne (Krimmel, DÄBl 1998, A-1512), und sich insbesondere ein Schwarzmarkt an von den Versicherten nicht persönlich gebrauchten Tabletten entwickeln werde (vgl Der Kassenarzt Heft 36/1998, S 22).
Wie der 8. Senat des BSG für die Behandlung der erektilen Dysfunktion mittels SKAT bereits entschieden hat, überschritt der Bundesausschuss mit der Regelung in Nr 17.1 Buchst f AMRL seinen ihm im Bereich des Wirtschaftlichkeitsgebotes zustehenden Beurteilungsspielraum (vgl BSGE 85, 36, 43 f = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 43 f). Der erkennende Senat teilt diese Ansicht und schließt sich ihr für das streitige Arzneimittel Viagra® an, für das insoweit nichts anderes gelten kann (ebenso: Schneider-Danwitz/Glaeske, MedR 1999, 164, 165; Zuck, NZS 1999, 167, 169; Werner/Wiesing, Gesundheitswesen 2002, 398; befürwortend auch: Siekmann, Der Arzt und sein Recht 2002, 178, 179; noch ausdrücklich offen lassend BSGE 85, 36, 48 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 48). Der bloße Umstand, dass bei der Behandlung nach der SKAT-Methode der Wirkstoff Postavasin injiziert werden muss, während im Falle des Klägers der Wirkstoff Sildenafil (oral) zur Anwendung gelangt, rechtfertigt angesichts ähnlicher Wirkprinzipien und desselben Therapieziels keine abweichende Behandlung.
§ 92 Abs 1 Satz 2 SGB V in seiner hier bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung ermächtigte den Bundesausschuss “die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten” zu erlassen. Nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V erlässt er hierzu Richtlinien über die “Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung, häuslicher Krankenpflege und Soziotherapie”. Die Vorschrift ermächtigt zum Erlass von Vorschriften zur Sicherung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung. Sie gibt ihm aber nicht die Befugnis, selbst Inhalt und Grenzen des Arzneimittelbegriffs festzulegen, den Begriff “Krankheit” in § 27 Abs 1 SGB V hinsichtlich seines Inhalts und seiner Grenzen selbst zu bestimmen und im Rahmen der AMRL die Behandlung bestimmter Krankheiten oder Krankheitssymptome zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung gänzlich auszuschließen. Dies war bezüglich der erektilen Dysfunktion indessen die (Rechts-)Folge der Nr 17.1 Buchst f AMRL. Eine derartige Leistungseinschränkung lässt sich dem bis 31. Dezember 2003 geltenden Krankenversicherungsrecht des SGB V nicht entnehmen.
Im Ergebnis nichts anderes gilt, wenn man darauf abstellt, dass der Bundesausschuss nicht die Kompetenz besaß, in den AMRL einen verbindlichen Ausschluss bestimmter Gruppen von Arzneimitteln aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zu regeln, dieses vielmehr dem Gesetz- oder Verordnungsgeber vorbehalten war (vgl BSGE 85, 36, 45 f = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 S 45 f). Eine Befugnis zum Ausschluss unwirtschaftlicher Arzneimittel war in der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vorgesehen. Zwar sollte nach den Entwürfen zum Gesundheits-Reformgesetz (GRG) der Bundesausschuss beauftragt werden, in Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln zu bestimmen, welche Arzneimittel von der Versorgung ausgeschlossen sind, weil sie dem Wirtschaftlichkeitsgebot nicht entsprechen (vgl § 34 Abs 4 des Entwurfs, BT-Drucks 11/2237, S 19 und 175). Auf Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wurde dann allerdings im weiteren Gesetzgebungsverfahren darauf verzichtet, dem Bundesausschuss diese Rechtsetzungsbefugnis zu verleihen, vielmehr wurde diese dem Gesetz- und Verordnungsgeber vorbehalten (vgl Beschluss, BT-Drucks 11/3320, S 23; Bericht, BT-Drucks 11/3480, S 53 f zu Abs 2a und Abs 4). Ein Ende 1999 vom Bundesausschuss an das Bundesministerium für Gesundheit herangetragener Vorschlag für einen neuen § 91a SGB V, der den Bundesausschuss ausdrücklich ermächtigen sollte, die Verordnung, Gewährung und Erbringung von einzelnen Leistungen oder Maßnahmen zu Lasten der Krankenkassen einzuschränken oder auszuschließen (vgl dazu Jung, KrV 2000, 52, 57 f) wurde vom Gesetzgeber trotz der Urteile des BSG vom 30. September 1999 (BSGE 85, 36 ff = SozR 3-2500 § 27 Nr 11 – SKAT) und vom 16. November 1999 (BSGE 85, 132 ff = SozR 3-2500 § 27 Nr 12: Unzulässigkeit des Ausschlusses medizinischer Fußpflege durch Richtlinien des Bundesausschusses) ebenfalls nicht aufgegriffen. Erst mit dem GMG vom 14. November 2003 (BGBl I 2190) hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1. Januar 2004 in § 34 Abs 3 und 4 SGB V – ausdrücklich als Reaktion auf die vorbezeichnete Rechtsprechung des 1. und 8. Senats des BSG – klargestellt, dass subsidiär zur Befugnis des Verordnungsgebers, Leistungen von der Verordnungsfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung auszuschließen, auch der Richtliniengeber nach § 92 SGB V Leistungsausschlüsse auf Grund seiner Befugnis zur Regelung der wirtschaftlichen Verordnungsweise der Arzneimittel- sowie Heil- und Hilfsmittelversorgung treffen kann (vgl Gesetzesbegründung in: BT-Drucks 15/1525, S 87 zu Nr 22 Buchst b und c). Vorwirkungen kann diese Regelung nicht entfalten.
Der Gesichtspunkt, dass der Bundesausschuss bei der Neufassung von Nr 17.1 Buchst f AMRL einen Missbrauch bestimmter Arzneimittel zB durch unbefugte Weitergabe an Dritte befürchtete, rechtfertigte ebenfalls keinen – gleichsam ”übergesetzlichen” – Ausschluss dieser Arzneimittel. In solchen Fällen ist es vielmehr Sache des Bundesausschusses, weniger belastende Maßnahmen zu ergreifen und einen denkbaren Missbrauch zu verhindern, zumal der abstrakten Missbrauchsgefahr kein wesentlich größeres Gewicht zukommt als dem Interesse Kranker an einer wirksamen Behandlung auch mittels “missbrauchsanfälliger” Arzneimittel (zu Maßnahmen gegen die missbräuchliche Weitergabe eines Arzneimittels vgl BSGE 76, 194, 202 = SozR 3-2500 § 27 Nr 5 S 15 – Remedacen® und BSG SozR 3-5550 § 17 Nr 2 S 8 zur Wirtschaftlichkeit bei der Verordnung eines codeinhaltigen Präparats zur Heroin- und Alkoholsubstitution). Im Übrigen stellt die Verschreibungspflicht für Arzneimittel, die wie Viagra® den Wirkstoff Sildenafil oder seine Salze enthalten (vgl § 49 AMG iVm der Verordnung über die automatische Verschreibungspflicht vom 26. Juni 1978, BGBl I 917, idF der 52. ÄnderungsVO vom 26. November 1998, BGBl I 3429) sicher, dass Viagra® nur nach ärztlicher Verordnung und damit auch nur im genehmigten Anwendungsgebiet, dh nur bei einer krankheitswertigen erektilen Dysfunktion an Versicherte abgegeben werden konnte, nicht jedoch bereits auf Grund des Wunsches von Versicherten, ihre altersentsprechende und altersübliche Physis zu steigern. Insoweit wäre an einen strengen Katalog von Indikationen zu denken gewesen, bei deren Vorliegen eine Verordnung von Viagra® in Betracht kommt.
4. Die Verordnung des Arzneimittels Viagra® entsprach bis Ende 2003 auch im Übrigen den Erfordernissen des Wirtschaftlichkeitsgebots.
Nach § 12 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB V müssen die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Darüber hinausgehende Leistungen dürfen weder beansprucht noch erbracht werden. Auf der Grundlage der von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG lassen sich hieraus jedoch keine Bedenken gegen die Entscheidung des LSG ableiten.
Anhaltspunkte dafür, dass die Multiple Sklerose, auf der die erektile Dysfunktion des Klägers beruht, entweder selbst vorrangig behandelbar wäre oder wiederum auf eine vorrangig behandelbare Grundkrankheit zurückzuführen sei (vgl hierzu BSGE 76, 194, 201 = SozR 3-2500 § 27 Nr 5 S 14), liegen nicht vor. Auch lässt das angefochtene Urteil des LSG insoweit keine Rechtsfehler erkennen, als es den Kläger nicht auf vermeintliche Behandlungsalternativen zu dem Arzneimittel Viagra® “verweist” (zB Beckenbodengymnastik, Erektionsringe, Vakuum-Pumpensystem als Hilfsmittel, SKAT, operative Vorgehensweisen wie zB durch eine Penisprothese). Zwar haben Versicherte keinen gesetzlichen Anspruch auf die aus ihrer Sicht “optimale” Versorgung (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 26 S 153 – Lese-Sprechgerät mit Braillezeile; BSGE 92, 164, 167 = SozR 4-2500 § 18 Nr 2 RdNr 13 – Nierentransplantation). Indessen müssen Qualität und Wirksamkeit der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnis entsprechen, sondern auch den medizinischen Fortschritt berücksichtigen (vgl § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V). Darüber hinaus haben Krankenkassen und Leistungserbringer durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken (§ 70 Abs 2 SGB V). Das Arzneimittel Viagra® stellt im Vergleich zu älteren Möglichkeiten zur Behandlung der erektilen Dysfunktion einen wesentlichen medizinischen Fortschrift in diesem Sinne dar (vgl BSG, Urteil vom 16. September 2004 – B 3 KR 20/04 R: C-Leg als “fortschrittlicheres Hilfsmittel”, zur Veröffentlichung vorgesehen). Es bedarf insoweit weder eines operativen Eingriffs und eines die Lebenssituation Betroffener nachhaltig und dauerhaft verändernden Penisprothesenimplantats, noch muss der Versicherte den Umgang mit mechanisch wirkenden Vakuumsystemen oder speziellen Injektionsgerätschaften erlernen. Vor allem aber entfallen bei Einsatz von Viagra® für die Beteiligten das Behandlungsziel störende psychisch belastende Vorbereitungshandlungen (zu den Behandlungsalternativen sehr pointiert: Schneider-Danwitz/Glaeske, MedR 1999, 164, 165 “Foltertherapien”). Fehlte es an wirksamen Richtlinien zur Gewährleistung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung, kann die Verordnung des Arzneimittels Viagra® in Fällen wie dem vorliegenden jedenfalls bei einer Gesamtbetrachtung der Umstände nicht pauschal als unwirtschaftlich charakterisiert werden.
Bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit ist schließlich die Argumentation der Revision unerheblich, dass es sich bei der erektilen Dysfunktion um ein subjektiv höchst unterschiedlich erlebtes Symptom handele, bei dem “der private Lebensbereich prägend in den Vordergrund” trete (vgl dazu bereits BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 2003 – 2 C 26/02, BVerwGE 119, 168, 171 = Buchholz 237.8 § 90 RhPLBG Nr 1: “Jede Krankheit greift zwangsläufig – und sogar in erster Linie – in den privaten Lebensbereich” ein). Zwar ist ua aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot abzuleiten, dass es nur Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist, dem Versicherten das “Notwendige” zu verschaffen, nicht jedoch eine maximale Bedürfnisbefriedigung zu ermöglichen. Hierauf kommt es jedoch im vorliegenden Rechtsstreit nicht an. Weder im geltend gemachten Rahmen der Erstattungsforderung noch für die begehrte Entscheidung wird in revisionsrechtlich beachtlicher Weise darüber gestritten, mit welcher Häufigkeit der Kläger die Verordnung von Viagra® beanspruchen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1392553 |
SGb 2005, 399 |