Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 21.05.1987) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Mai 1987 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger eine Verletztenrente wegen Quarzstaublungenerkrankung zusteht.
Der Kläger, der bis 1966 insgesamt etwa 8 Jahre lang im Steinkohlenbergbau tätig gewesen war, wiederholte am 9. August 1985 einen bereits im Februar 1980 gestellten Antrag auf Gewährung einer Verletztenrente wegen Quarzstaublungenerkrankung. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 14. Oktober 1985 ab.
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat aufgrund der vorliegenden medizinischen Befunde angenommen, die beim Kläger bestehenden beginnenden bis allenfalls leichtgradigen silikotischen Lungenveränderungen ohne cardio-pulmonale Funktionsstörungen seien rechtlich nicht als Berufskrankheit nach Nr 4101 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) zu werten. Es gehöre zum Rechtsbegriff der Quarzstaublungenerkrankung, daß bereits Ausfallzeichen an Atmung oder Kreislauf als Silikosefolgen festzustellen sind. Mangels Vorliegens einer Berufskrankheit könne es unerörtert bleiben, ob ein Fernhalten von Arbeitsplätzen mit Quarzstaubbelastung aus Gründen der medizinischen Vorbeugung oder Vorsorge zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 10 vH führe.
Mit seiner Revision macht der Kläger im wesentlichen geltend, die Beklagte sei durch ihren Geschäftsführer nicht richtig vertreten, denn nach § 35 Abs 1 Satz 1 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB 4) sei der Vorstand zur gesetzlichen Vertretung der Beklagten berufen. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht das Vorliegen einer Berufskrankheit verneint, denn bereits silikotische Lungenveränderungen ohne nachweisbare Funktionsausfälle begründeten den Tatbestand einer Quarzstaublungenerkrankung. Diese Berufskrankheit führe auch zu einer MdE, denn der Kläger sei wegen des Silikosebefundes von vornherein für weitere inhalativ belastete Arbeitsplätze ausgeschlossen. Einem entsprechenden Beweisantrag habe das Berufungsgericht zu Unrecht nicht entsprochen. Im übrigen habe sich das Berufungsgericht bei seinen Tatsachenfeststellungen ausschließlich auf „Parteigutachter” gestützt, die in der Regel im Auftrag der Beklagten tätig würden.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 1985 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger aus Anlaß von dessen Quarzstaublungenerkrankung Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 30 vH zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg, denn das LSG hat mit Recht die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) zurückgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Verletztenrente.
Soweit er geltend macht, die Beklagte sei im Verfahren durch den Geschäftsführer nicht richtig gesetzlich vertreten, kann das die Revision nicht begründen. Nach § 36a SGB 4 iVm § 1569a Abs 1 Nr 1 der RVO und § 39 der Satzung der Beklagten obliegt es zwar nicht dem Geschäftsführer, sondern dem Rentenausschuß, eine förmliche Feststellung zu treffen, wenn es sich um die Gewährung von Renten handelt, die nicht nur für die Vergangenheit gewährt werden. Der angefochtene Bescheid ist dementsprechend vom Rentenausschuß und damit von dem zuständigen Gremium beschlossen worden. Selbst wenn man daraus herleiten wollte, daß deshalb nicht der Geschäftsführer nach § 36 SGB 4, sondern der Vorstand nach § 35 SGB 4 berufen wäre, die Beklagte gerichtlich zu vertreten, könnte das nicht zur Begründetheit der Revision führen. In diesem Falle wäre nur das Rubrum des angefochtenen Urteils insoweit unrichtig, als es den Geschäftsführer als gesetzlichen Vertreter der Beklagten bezeichnet, ohne daß das Ergebnis und der Inhalt der Entscheidung darauf beruhten. Das Berufungsurteil könnte insoweit allenfalls dann auf einer Gesetzesverletzung beruhen, wenn die in diesem Rechtstreit von den Bediensteten der Beklagten vorgenommenen Prozeßhandlungen unwirksam wären. Das wäre aber nur dann anzunehmen, wenn diese nicht berechtigt gewesen wären, für die Beklagte und deren gesetzlichen Vertreter im Prozeß zu handeln. Dafür ist aber weder etwas vorgetragen noch sonst erkennbar. Auch der Vorstand eines Versicherungsträgers bedient sich – ebenso wie der Geschäftsführer – zur Erfüllung seiner Aufgaben sowohl im Verwaltungs- als auch im Gerichtsverfahren der Bediensteten des Versicherungsträgers, die als „besonders Beauftragte” iS des § 71 Abs 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) allein aufgrund innerdienstlicher Regelung des Versicherungsträgers im Prozeß handlungsberechtigt sind (vgl hierzu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl Band I/2 S 234 k; May, Die Sozialversicherung 1956, 221 ff). Der Senat hat keine Bedenken, von einer entsprechenden innerdienstlichen Regelung auszugehen, wie sie ausdrücklich oder stillschweigend bei den Versicherungsträgern üblich ist, so daß die von den Bediensteten der Beklagten vorgenommenen Prozeßhandlungen auch dann wirksam wären, wenn – wie der Kläger meint – der Vorstand gesetzlicher Vertreter der Beklagten wäre.
Auszugehen ist von den Tatsachenfeststellungen des LSG, wonach beim Kläger beginnende bis allenfalls leichtgradige silikotische Lungenveränderungen ohne cardio-pulmonale Funktionsstörungen bestehen. An diese Tatsachenfeststellungen ist der erkennende Senat nach § 163 SGG gebunden, weil der Kläger sie nicht mit begründeten Verfahrensrügen iS des § 164 Abs 2 Satz 2 SGG angegriffen hat. Der Kläger hat zwar geltend gemacht, es seien lediglich „Parteigutachter” gehört worden, die in der Regel im Auftrag der Beklagten tätig würden. Dabei verkennt er, daß nicht einmal die von der Beklagten eingeholten Gutachten sogenannte Parteigutachten sind, jedenfalls aber bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden können (vgl BSG SozR Nr 66 zu § 128 SGG). Im übrigen hat das LSG seine Beweiswürdigung auch im wesentlichen auf das im Gerichtsverfahren eingeholte Gutachten gestützt.
Das LSG ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zutreffend davon ausgegangen, daß der Tatbestand einer Quarzstaublungenerkrankung bei beginnenden bis leichtgradigen silikotischen Lungenveränderungen ohne cardio-pulmonale Funktionsstörungen noch nicht erfüllt ist, sondern erst dann, wenn die Quarzstaubeinlagerungen in der Lunge zu leistungsmindernder Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf geführt haben (vgl BSG SozR Nr 17 zu § 45 Reichsknappschaftsgesetz -RKG-; BSG Urteil vom 10. Mai 1968 – 5 RKnU 13/67 –, Breithaupt 1968, 824; BSG Urteile vom 25. Februar 1971 – 7/2 RU 168/66 – und vom 2. November 1988 – 8/5a RKnU 3/87 –; ebenso Heußner, Kompaß 1971, 63; Brackmann aaO Band II Seite 491q 1, 491r). Der vorliegende Tatbestand gibt keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob das Vorhandensein silikotischer Lungenveränderungen im medizinischen oder sonstigen Sinne schon deshalb als Krankheit zu werten ist, weil es sich um einen von der Norm abweichenden Körperzustand handelt. Nicht jede berufsbedingte Krankheit ist auch eine Berufskrankheit, die nach § 551 Abs 1 Satz 1 der RVO dem Arbeitsunfall gleichgestellt ist. Die Gleichstellung setzt vielmehr voraus, daß die Krankheit in einer Rechtsverordnung als Berufskrankheit bezeichnet ist. Die in § 551 Abs 1 RVO enthaltene Ermächtigung, eine berufsbedingte Erkrankung durch Aufnahme in das Verzeichnis einem Arbeitsunfall gleichzustellen, enthält nicht die Verpflichtung des Verordnungsgebers, jeden von der Norm abweichenden Körperzustand unter den Voraussetzungen des § 551 Abs 1 Satz 2 RVO als Berufskrankheit zu bezeichnen. Der Gesetzgeber hat nicht geregelt, was unter einer Krankheit iS des § 551 RVO zu verstehen ist. Dem Verordnungsgeber ist es daher nicht verwehrt, solche von der Norm abweichenden Körperzustände unberücksichtigt zu lassen, die wegen ihrer Unerheblichkeit für den Unfallversicherungsschutz nicht als Krankheit im Rechtssinne anzusehen sind. „Dem Verordnungsgeber ist es im Rahmen der Ermächtigung unbenommen, für den Versicherungsfall der Berufskrankheit ein Krankheitsbild durch weitere Voraussetzungen zu ergänzen, wenn er durch diese die Berufskrankheiten von nicht dem Schutz der Unfallversicherung zu unterstellenden Allgemein-Erkrankungen abgrenzt” (BSG SozR 2200 § 551 Nr 10 Bl 18). Wenn ein von der Norm abweichender Körperzustand weder der medizinischen Behandlung zugänglich ist noch die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, handelt es sich um ein Erscheinungsbild, das für die Unfallversicherung irrelevant ist. Davon geht auch § 551 Abs 3 Satz 2 RVO aus, der den Beginn des Arbeitsunfalls und daher auch den Beginn der Berufskrankheit nicht allein vom Vorhandensein eines regelwidrigen Körperzustandes, sondern von weiteren Voraussetzungen abhängig macht, die hier nicht vorliegen.
Zwar verlangt der Wortlaut der Berufskrankheitenverordnung für die Quarzstaublungenerkrankung nicht ausdrücklich das Vorhandensein silikosebedingter Insuffizienzerscheinungen. Er steht aber auch nicht der Annahme entgegen, daß solche Insuffizienzerscheinungen erforderlich sind. Bis zum Inkrafttreten der 5. BKVO war lediglich die „schwere Staublungenerkrankung (Silikose)” in den Katalog der Berufskrankheiten aufgenommen worden. Wenn die 5. BKVO das Tatbestandsmerkmal „schwer” fallen ließ, so sollte damit noch nicht das bloße Vorhandensein von silikotischen Einlagerungen in den Lungen zur Berufskrankheit erhoben werden. „Der Versicherungsfall ist nunmehr eindeutig durch das Merkmal einer funktionellen Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf bedingt”, obwohl der Verordnungsgeber auf eine begriffliche Einschränkung „mit leistungsmindernder Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf” verzichtet hat (Begründung zur 5. BKVO, Bundesarbeitsblatt 1952, 409, 411). Insoweit haben die späteren BKVOen keine Änderungen gebracht. Wenn in den Wortlaut der VO das Erfordernis silikotisch bedingter Insuffizienzerscheinungen nicht aufgenommen worden ist, so zwingt weder das noch § 2 Abs 2 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuchs zu einer dem erkennbaren Willen des Verordnungsgebers entgegenstehenden Auslegung.
Zwar kann das bloße Vorhandensein beginnender bis leichter silikotischer Lungenveränderungen – insbesondere bei der sogenannten Frühsilikose – dazu führen, daß der Versicherte die quarzstaubgefährdenden Arbeiten nicht mehr verrichten darf. Das bedeutet aber nicht, daß seine körperlichen oder geistigen Kräfte durch die silikotischen Lungenveränderungen eingeschränkt sind. Das Verbot zur Verrichtung quarzstaubgefährdender Arbeiten dient in solchen Fällen lediglich zur Vorbeugung gegen eine drohende, also noch nicht bestehende Berufskrankheit. In der gesetzlichen Krankenversicherung wird allerdings Arbeitsunfähigkeit auch dann angenommen, wenn die Verrichtung einer Tätigkeit nur unter der Gefahr der alsbaldigen Verschlimmerung des Gesundheitszustandes möglich ist. Das muß selbstverständlich auch für die Arbeitsunfähigkeit iS des § 560 RVO gelten. Bei dem vorbeugenden Verbot von quarzstaubgefährdenden Tätigkeiten handelt es sich jedoch nicht um eine Gefahr der alsbaldigen Verschlimmerung des Gesundheitszustandes (vgl hierzu BSG SozR Nr 2 zu § 560 RVO). Dieses Verbot kann zwar in der knappschaftlichen Rentenversicherung und für das Übergangsgeld in der Unfallversicherung von Bedeutung sein, das aber auch schon zu gewähren ist, wenn eine noch nicht vorhandene Berufskrankheit droht.
Es kann daher dahingestellt bleiben, ob eine Leistungsminderung vorhanden ist, wenn – ohne Einschränkung der körperlichen oder geistigen Kräfte – dem Versicherten wegen eines beruflich bedingten, von der Norm abweichenden Körperzustandes verschiedene Erwerbsmöglichkeiten verschlossen sind. Eine solche Einschränkung wäre rechtlich unbeachtlich, wenn sie weder auf einem Arbeitsunfall noch auf einer bereits bestehenden Berufskrankheit, sondern allenfalls auf einer drohenden Berufskrankheit beruht.
Auch § 551 Abs 2 RVO kann das Begehren des Klägers nicht rechtfertigen, denn es liegen keine neuen Erkenntnisse vor, die bei der BKVO unberücksichtigt geblieben wären. Die Begründung zur 5. BKVO zeigt deutlich, daß der Verordnungsgeber die Anerkennung der bloßen Quarzstaubeinlagerungen in den Lungen ohne cardio-pulmonale Funktionsstörungen bewußt nicht in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen hat. An den dafür maßgebenden Gründen hat sich seitdem nichts geändert.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision des Klägers mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückgewiesen.
Fundstellen